Alban Nikolai Herbst: "Die Orgelpfeifen von Flandern"
Novelle
"Das
Gedächtnis ist der Diener unserer Interessen." (Thornton Wilder)
Ein Mann aus Deutschland, geplagt
von Schuldgefühlen, irrt durch eine Stadt. Sein Name ist Ansgar, die Stadt ist
das Herbstliche Paris, wohin er nach langem Abstandhalten zurückgekehrt ist, sich
den Dämonen der Vergangenheit zu stellen.
Das tragische
Ereignis, der Selbstmord seiner jüdischen Exfreundin Jézabel, verfolgt ihn hartnäckig
in Traumbildern und Fantasien, auch vermeint er in zufälligen Frauenbekanntschaften
bisweilen die verstorbene Geliebte wiederzuerkennen. Er war eines Morgens klammheimlich
fluchtartig abgereist, weil er gefürchtet hatte, an Jézabels fordernder Nähe und
seiner eigenen Schwäche zu scheitern. Als damals, ein Jahr später, Jézabel an
jenem 9. April aus einem Fenster des zwölften Stockwerks sprang und er sich -
(wohl kaum zufällig) - inmitten der versammelten Menge der Schaulustigen vor ihrem
Wohnhaus befand, lachte er befreit, während sie ihm einen letzten bedeutungsvollen
Blick zuwarf. Diese seine Reaktion veranlasste seinen Freund Paul, ihm kurz darauf
einen Zeitungsausschnitt mit der Sensationsmeldung des Selbstmords, versehen mit
der Notiz "Du bist ein Schwein", zu schicken. Ebendieses Stück Papier trägt Ansgar
immer bei sich.
Die
ausweglose Endlosschleife von Schuld und Buße beginnt sich bereits kurz nach seiner
Ankunft bedrohlich zuzuziehen: Ihm begegnet eine jüdische Familie, bei deren Anblick
ihn seine nicht eingestandene Schuld quält, er bezieht Quartier im Hotel "Terminus"
- (was sogar Ansgar selbst für ein Zeichen hält) -, ein Bettler ruft ihm - einem
Fluch gleich - "Stürze!" hinterher, mehrmalige Aufeinandertreffen mit einer unheimlichen
Prostituierten, die nach Laub duftet, verunsichern Ansgar. In einem Taumel aus
Erinnerungen, Wünschen und Sehnsüchten durchstreift er die Gassen, wandert auf
dem regengrauen Friedhof umher, gelangt auf seltsame Weise in den Besitz einer
roten Damenstiefelette, und abermals ist die Rue de Flandre Schauplatz außergewöhnlicher
Ereignisse, während Ansgar zunehmend die Chronologie abhanden kommt. Jézabel erscheint,
aus keineswegs "heiterem" Himmel, auch sie nach Laub duftend, für eine allerletzte
(?) Nacht voll wildem Verlangen und fordert: "Du musst mich ins Leben lieben,
Abèl. Du musst mich nachher lieben wie niemals zuvor". Wie in einem Märchen schüttelt
sie als Antwort auf Ansgars Fragen nur bekümmert den Kopf, als könnten lediglich
Taten den Bann brechen ...
Alban
Nikolai Herbst fängt die geheimnistrunkene Atmosphäre in organisch-bildhaften Formulierungen
ein; Natur, Menschen und Bauwerke bilden die Kulissen für Begegnungen der anderen
Art. Jézabel, von Ansgar 'Advise' genannt, tritt als ruheloses Wesen das keinen
Frieden finden kann in Erscheinung. Ansgar, von Jézabel 'Abèl' gerufen, bleibt
der schwache Getriebene, der sein Heil in der Flucht sucht, jedoch nicht findet
und so innerhalb der selbstgeschaffenen Verdammnis leiden muss.
Noch
einige Worte zum Titel selbst:
Einerseits ist der Mittelpunkt der Ereignisse die Rue de Flandre.
Andererseits ist Flandern ein Landstrich, der sich, zwischen Maas und Nordseeküste
gelegen, über etwas mehr als 13.000 Quadratkilometer erstreckt. Flämische Städte
sind nicht nur
geschichtsträchtige Orte
der Kultur (Jan van Eyck, Peter Paul Rubens,...), sondern gleichfalls Orte der
Kämpfe um die politische und religiöse Freiheit der Bürger und auch insofern
ist die Erwähnung von Flandern im Buchtitel sinnstiftend gewählt.
Die Häuser
werden als "Orgelpfeifen" bezeichnet, weil ihre Umrisse diesen Eindruck hervorrufen,
und - wie üblich bei Alban Nikolai Herbst - werden charakteristische Eigenheiten
unterschiedlichster Landschaften, Städte und Menschen zu einem neuartigen Gesamtkontext
verdichtet.
(kre; 12/2001)
Alban Nikolai Herbst: "Die Orgelpfeifen von
Flandern"
dtv, 2001. 70 Seiten.
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Weitere Buchtipps:
Elfi H. M. Gilissen: "Flämisch - Wort für Wort"
Was spricht man denn in Belgien - Belgisch? Das gibt’s natürlich nicht. In
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unterhalten, so wie Schweizer, Österreicher und Deutsche es können, aber sie
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gar peinlich. Dieser "Kauderwelsch-Band" entführt den Leser ins schöne
Flandern, in dem es neben der mittelalterlichen Architektur und der für ihre
Delikatessen berühmten regionalen Küche vieles zu entdecken gibt. (Reise
Know-How Verlag Rump)
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Rita Henss: "Pralinen,
Bier und Alte Meister. Spitzen aus Flandern"
Fahrten durch die malerische Region zwischen der Nordsee und den Ardennen.
Mode-Mekka und Comic-Paradies, die Wiege
weltberühmter Maler, Heimat
Hunderter unterschiedlicher Biere und einer breiten Palette anderer
kulinarischer Köstlichkeiten - Flandern ist ein ganz besonderes Stückchen
Belgien. Seine Geschichte ist ebenso facettenreich wie der Charakter seiner Städte:
das traditionsreiche Seebad Oostende; der internationale Hafen Antwerpen; Brügge
mit seinem unversehrten historischen Kern; Gent, die vieltürmige,
festivalfreudige Konkurrentin, in deren Kathedrale Jan Van Eyck seinen
Meister-Altar schuf; Leuven, renommiert für seine Universität.
Vom feinen Sandstrand der Küste bis zu den Höhen der flämischen Ardennen
reist Rita Henss durch "ihr" Flandernland. Sie verschafft dem Leser
ein Rendezvous mit dem Chansonnier Jacques Brel, nimmt ihn mit zu Chocolatiers,
die auch den Königshof beliefern, und entführt ihn als Kontrastprogramm zu den
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Borrelmanneke-Brunnen im Herbst der Genever fließt. (Picus Verlag)
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