Joyce Carol Oates: "Ausgesetzt"

Eine intime Chronik


Anellia, so wird die Ich-Erzählerin dieses Romans die meiste Zeit über genannt, wenngleich sie nach eigenen Angaben nicht so heißt, ist das jüngste Kind ihrer Eltern und das Mädchen, das ihre Mutter sich immer gewünscht hat. Da die Mutter aber kurz nach Anellias Geburt starb, gaben ihr ihre Verwandten immer das Gefühl, am Tod der Mutter schuld zu sein. Eine Atmosphäre, die einen durchaus verstören kann, besonders, wenn der eigene Vater ständig aushäusig ist und man nur mit den Großeltern und den älteren Brüdern auf einem Landgut aufwächst.

Dieser misslichen Lage entkommt Anellia schließlich mithilfe eines Stipendiums und besucht ein College, wo sie sich sehr schnell den jungen Damen einer Studentinnenverbindung anschließt, die einen ziemlich zweifelhaften - aber zweifellos verdienten - Ruf genießt, wo sie als IQ-Infusion begeistert aufgenommen wird, auch wenn sie zunächst positivere Motive vermutet hatte. So bemüht sie sich, durch Nebentätigkeiten ihren Mitgliedsbeitrag aufzubringen, die Hausaufgaben ihrer Mitschülerinnen zu erledigen und gleichzeitig auch noch ein wenig an deren gesellschaftlichem Leben teilzunehmen - was schließlich alles in allem ziemlich in die Binsen geht.

Kurz danach verliebt sich Anellia in einen etwas älteren schwarzen Philosophiestudenten, was in den USA der 1960er Jahre durchaus ein Problem darstellt. Zusätzlich kompliziert wird es noch dadurch, dass der junge Mann eigentlich nur eingeschränkt Interesse an ihr zeigt. Doch im Rahmen ihres eigenen Philosophiestudiums nimmt sie dies sehr philosophisch und versucht, ihm durch Nichtauffallen zu gefallen.

Später muss sie sich auch noch mit ihrem im Sterben liegenden Vater und dessen besitzergreifender Freundin auseinandersetzen, wobei ihr mehr und mehr der Sinn zum Philosophieren abhanden kommt.

Den größten Teil des Romans befindet sich die Ich-Erzählerin auf einer Straße der Selbstverleugnung, um anderen Menschen zu gefallen, und sie nimmt ihre eigene Intelligenz sowie die philosophischen Schriften, die sie bearbeitet, um diese Selbstkasteiung als ein höheres Gut vor sich selbst zu rechtfertigen, was an einigen Stellen während der Lektüre sehr schmerzhaft ist; böse Zerrungen der "Logiksehnen" bleiben da nicht aus. Aber so sind verliebte Spätpubertierende - oder auch andere Pubertierende - einfach oft. Und wenn sie intelligent sind, ist es meist noch schlimmer.

Ein Verdienst dieses Buches ist es sicherlich, diese Aspekte sowie die Entwicklung aus der - hormonell verschuldeten - Unmündigkeit sehr glaubwürdig darzustellen, und zwar sowohl innerhalb der einzelnen Krisen, als auch im abschließenden Erwachsenwerden der Hauptfigur. Aber im Grunde genommen ist all das nicht sonderlich spannend oder unterhaltsam, sondern eben nur gut und glaubwürdig gemacht.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 09/2007)


Joyce Carol Oates: "Ausgesetzt"
(Originaltitel "I'll Take You There")
Übersetzt von Silvia Morawetz.
Gebundene Ausgabe:
S. Fischer, 2005. 334 Seiten.
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Taschenbuch:
Fischer, 2007. 333 Seiten.
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Joyce Carol Oates wurde am 16. Juni 1938 in Lockport geboren.

Ein weiteres Buch der Autorin:

"Niagara"

Das Leben ist ein Verhängnis. Noch in der Hochzeitsnacht wird Ariah zur Witwe. Spurlos verschwindet ihr Mann in den Tiefen der Niagarafälle. Aber für Ariah fließt der Lebensstrom weiter, sie verliebt sich und gründet eine Familie - und dann schlägt das Schicksal noch einmal zu. Auch ihr zweiter Mann kommt auf mysteriöse Weise um. Jahrzehnte später decken die Kinder das Drama der Eltern auf: dunkle Geheimnisse, Betrügereien und verletzte Gefühle. (S. Fischer)
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