Stefan Schreiber: "Begleiter durch das Neue Testament"
Gleich
als eine Art Vorwort macht der Autor den Leser mit seiner Lesebrille
bekannt. Darunter ist kein Hilfsmittel zur Entzifferung der biblischen
Schriften zu verstehen, sondern die individuelle Lesart des - in diesem
Fall - Neuen Testaments. Der von Stefan Schreiber konzipierte Begleiter
kann und soll dem Leser insbesondere durch wertvolle historische
Informationen ein tieferes Verständnis der biblischen Texte
ermöglichen. Es herrscht also die Überzeugung vor,
historisches Hintergrundwissen vermag die Lesart eines interessierten
Bibellesers zu erweitern, ja in völlig neue Gefilde des
Glaubensverständnisses führen. Der Rezensent
schließt eine derartige Chance für den einen oder
anderen Leser, in gewisser Weise "Neuland" zu betreten, nicht unbedingt
aus, glaubt aber viel eher, dass dieser Begleiter bei jenen vielleicht
schwer zu deutenden Bibelstellen von Nutzen ist, welche dem Leser
bislang nur in Ansätzen verständlich waren. Es
hängt also am Ende, und hier mag sich der Kreis in diesem
Zusammenhang schließen, von der Lesebrille des
Bibelinteressierten ab, was und in welcher Qualität er die
begleitende Unterstützung beim Lesen des Neuen Testaments
für sich als Erweiterung seines Verständnishorizontes
dieser erstaunlichen Schriften in Anspruch nehmen mag.
Die logische Beschränkung dieses Begleiters auf die
historisch-kritische Methodik, eine Annäherung an das Neue
Testament zu wagen, impliziert in sich freilich das
vollständige Fehlen einer tiefenpsychologischen Dynamik, wie
sie etwa Eugen Drewermann bevorzugt. Im Mittelpunkt der historischen
Analyse stehen also sämtliche Schriften des Neuen Testaments.
Es wäre Unsinn, wenn der Rezensent den Versuch unternehmen
wollte, dieses Buch zusammenzufassen, um damit irgendwie ein "Bild" des
Beschriebenen zu vermitteln. Jeder Leser für sich wird jene
Themen finden, die ihn besonders interessieren, und auf deren
tiefgründigere Analysen er Wert legen möchte. Somit
ist es Sache des Rezensenten, auf die ungewöhnlichen
Komponente dieses Begleiters vorab aufmerksam zu machen.
Der Fokus ist auf die vier Evangelien, die Apostelgeschichte, die
Offenbarung des Johannes sowie die Auseinandersetzung mit Jesus und
Paulus gesetzt. Hierbei fällt auf, dass die Evangelien sehr
objektiv in ihrer Historizität beschrieben werden, und somit
einige Feinheiten, man könnte auch sagen "Stellungnahmen",
ausbleiben. Die für die katholische Kirche eklatante Bedeutung
des Johannesevangeliums lässt sich aus dem
Beschriebenen
überhaupt nicht ablesen. Hingegen wird dieses Evangelium
vorrangig vom Standpunkt der Gemeinde der damaligen Zeit dargestellt,
wodurch die "Eigenheiten" in anderem Licht erscheinen mögen.
Auf der anderen Seite wird Paulus als jener Vermittler des Glaubens ins
Licht gesetzt, der genau jene Akzente setzte (also etwa die
Gleichsetzung Jesu mit Gott, die
Auferstehung,
die Tilgung der
Sünden der Menschheit durch die Kreuzigung Jesu u.a.), welche
auf das Johannes-Evangelium zurückzuführen sind.
Auf die apokryphen
Schriften wird ansatzweise eingegangen. Hierbei ist
etwa vom sogenannten Diatessaron des Tatian, einer sogenannten
"Evangelienharmonie" die Rede. In der zweiten Hälfte des 2.
Jahrhunderts mag diese ungewöhnliche Zusammenstellung der vier
Evangelien zu einer fortlaufenden Geschichte Jesu entstanden sein. In
ihrer historischen Bedeutung setzt sich der Autor ausführlich
mit den Zusammenhängen zwischen den vier Evangelien
auseinander. Es bleibt, und dies ist Herrn Schreiber hoch anzurechnen,
dem Leser überlassen, mit welchem der Evangelien er sich
hernach vielleicht intensiver auseinander setzen will.
Dieser "Begleiter durch das neue Testament" kann sehr viel Wissen in
historischer Hinsicht das neue Testament betreffend vermitteln. Jedoch
musste ich - und hier schalte ich mich notwendigerweise als
bibelinteressierter Leser ein - bei der Lektüre des Buches
feststellen, dass die Beschränkung auf historische Komponente
insbesondere bei der Darstellung von Jesu selbst einen
merkwürdigen Beigeschmack bekommt. Die Hauptfigur des
christlichen Glaubens wird in allen möglichen
Zusammenhängen beleuchtet, dies allerdings auf sehr trockene
Art und Weise. Zwar weist der Autor auf die Besonderheiten der
historischen Auseinandersetzung hin; das jedoch nur hie und da eine
gewisse Präferenz (also sozusagen "Lesebrille") hervorsticht,
nicht aber eine Beschreibung Jesu in historischer Gleichzeitigkeit, an
der jeder Leser teilhaben kann, ist
bedauerlicherweise ein Schwachpunkt des Buches. In diesem Zusammenhang
kann selbstverständlich argumentiert werden, dass es sich ja
um einen "Begleiter durch das Neue Testament" handelt, und nicht um
eine lebendige Darstellung der historischen (und tiefmenschlichen)
Besonderheiten, welche damals gerade in Bezug auf Jesu und seine
Jünger gegeben war. Vielleicht wird also schlicht und einfach
davon ausgegangen, dass die "Figur" Jesu ohnehin schon bekannt ist, und
nun einige für den Leser mehr oder weniger neue historisch
relevante Aspekte in die Betrachtung einbezogen werden.
Für Menschen, die das Neue Testament in seiner historischen
Tragweite voll und ganz nachvollziehen wollen, ist das zu besprechende
Buch zweifellos empfehlenswert. Es steht andererseits fest, dass
Menschen, welche mit den Schriften tief und lebendig vertraut sind, den
"Begleiter" nur bedingt annehmen werden können. Das
vollständige Fehlen von tiefenpsychologischen Nuancen
insbesondere in Bezug auf Jesu und die einzelnen Evangelien
ermöglicht es dem Rezensenten jedoch, auf die Bücher
von Eugen Drewermann
hinzuweisen, die in diesem Bezug
Pflichtlektüre sein sollten.
(Jürgen Heimlich; 10/2006)
Stefan
Schreiber: "Begleiter durch das Neue Testament"
Patmos, 2006. 235 Seiten.
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Stefan Schreiber, Dr. theol., ist Professor für Zeit- und Religionsgeschichte des Neuen Testaments in Münster.