Amélie Nothomb: "Reality-Show"
"Zum
ersten Mal schockiert sie", beginnt
Frédéric
Beigbeder, Paris, seine Kritik zu Amélie Nothombs Buch. 170 Taschenbuchseiten, im Deutschen bei Diogenes
veröffentlicht, füllt die Autorin mit einem
satirischen Blick auf Medien und ein voyeuristisches Publikum.
"Öde Containergeschichten sind out", heißt es da.
Für die neueste TV-Sensation werden Menschen wahllos auf der
Straße inhaftiert und zahlreichen Tests unterworfen. Nur die
markantesten Gesichter kommen in die Sendung "Konzentration". Hier gibt es
die Kapos, die Wärter, vor allem aber die Häftlinge,
die einen sinnlosen Tunnel vor der Kulisse eines Konzentrationslagers
bauen müssen. Die Bedingungen sind grausam, und wer morgens
ausgemustert wird - zunächst durch die Kapos, später
via Teletext vom Publikum -, der muss sterben, wird hingerichtet.
In dieser Umgebung treffen Zdena auf Seiten der Kapos und Pannonica,
nun CKZ 114, aufeinander, und sie beide haben es mit völlig
unterschiedlichen Mitteln in der Hand, diese Sendung zu stoppen.
Amélie Nothomb zeigt sich mitnichten erstmals schockierend,
wie der französische Kritiker meinte. Ihre Bücher
weisen immer einen Blick hinter das Alltägliche und einen
Blick in menschliche Beweg- und Abgründe auf, selbst die stark
autobiografisch gefärbten. Eben das ist es, was sie
meisterlich beherrscht, was Amélie Nothomb so unheimlich
lesenswert macht.
Mit "Reality-Show" wagt sie sich zweifellos an ein Tabuthema, doch wie
tabu ist es wirklich? Was sie auf "Konzentration"
überträgt, ist exakt das, was man alltäglich
bei Castingshows, bei Containershows wie "Big Brother" oder
ähnlich exhibitionistischen Shows wie "Hüllenlos"
sehen kann. Die Quoten sind enorm, doch fragt man, sieht sich "so
etwas" angeblich niemand an. Wird die Stimmung aggressiver,
verzweifelter oder intimer, steigen die Quoten noch einmal an. Die
Medien sind voll von Berichten solcher Shows, und flaut das Interesse
daran ab, sorgt ein Pseudoskandal für ein erneutes Aufflammen.
Die Politik hält sich klugerweise heraus, denn
offensichtlich haben die Leute ja nichts gegen die Aufnahmen,
offensichtlich schauen viele Leute gern hin, offensichtlich muss man
offen bleiben für neue Formate und darf die Medien nicht stark
einschränken, nicht wahr?
Die Autorin hält all diesen realen Gegebenheiten den Spiegel
vor, indem sie das ganze Spektakel auf die Spitze treibt. Nicht
völlig neu, denn mit ähnlichem Konzept gab es 1987
schon den Film "Running Man", in dem Arnold Schwarzenegger wegen einer
TV-Show um sein Leben laufen muss, dennoch setzt gerade die Wahl eines
Konzentrationslagers, wie Nothomb sie vorgenommen hat, dem Ganzen die
Krone auf.
Nothomb bleibt bei all dem natürlich nicht nur bei simplen
Beschreibungen, sondern versucht sich an Charakterisierungen, sucht
aber - und das ist das Beeindruckendste an diesem Roman - auch nach den
Hauptschuldigen und findet sie, für sich eindeutig, im
Publikum, in all denen, die solch eine Sendung nie anschauen würden, aber doch heimlich zusehen und abstimmen. Man stimmt
ja nur ab, wer raus soll, wer nicht telegen ist, nicht wahr? Sterben
... ja, ja ...
Schade ist, dass Amélie Nothomb sich auf 170 Seiten
beschränkt. So sind die Schilderungen zwar gelungen und tappen
nicht in die hier angeprangerte Falle des Dar- und Ausstellens, die
Charakterisierungen hätten jedoch noch tiefer ausfallen
können, und das Ende der Geschichte ist ein wenig knapp
geraten. Der Einblick in das Danach der Show birgt wenig, und gerade
dort hätte man noch einiges ergänzen können.
So liest sich das Buch nach den ersten hundert Seiten ein wenig
gehetzt, und die Spitzfindigkeiten, die man von Nothomb kennt,
lässt "Reality-Show" leider zu großen Teilen
vermissen. Möglicherweise wird hierdurch eine
größere Leserschaft angesprochen, die Aussagen des
Romans bleiben jedoch erstaunlich blass.
Insgesamt jedoch trotz der sich steigernden Knappheit ein
empfehlenswertes Buch der Autorin, dem es vielleicht gelingt, den Leser
zu einem Nachdenken anzuregen, dem Taten folgen.
(Tanja Elskamp)
Amélie Nothomb: "Reality-Show"
(Originaltitel "Acide sulfurique")
Aus dem Französischen von Brigitte Große.
Gebundene Ausgabe:
Diogenes, 2007. 170 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Diogenes, 2009. 176 Seiten.
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Ein weiteres Buch der Autorin:
"Eine heitere Wehmut"
Amélie Nothomb wagt die Reise nach Japan, ins Land ihrer Kindheit, und
vergleicht ihr Paradies von damals mit der Wirklichkeit von heute. Sie begreift:
Alles, was wir lieben, wird zur Legende. Ein intimer Reisebericht zum Ursprung
aller Geschichten: zu Erinnerung und Fantasie.
Von einem Kamerateam begleitet, besucht Amélie Nothomb das Land ihrer Kindheit.
Seit der desaströsen Arbeitserfahrung bei Yumimoto (beschrieben in "Mit Staunen
und Zittern") und dem Ende ihrer ersten Liebe ("Der japanische Verlobte") hat
sie keinen Fuß mehr nach Japan gesetzt. Der Autorin ist bewusst, dass sie ihre
Erinnerungen längst zu einem Mythos verklärt hat und dass sie riskiert, etwas zu
zerstören. Bei ihren hochemotionalen Begegnungen in Kobe, Fukushima und Tokio
stellt sie sich dem kühlen Auge der Kamera. Und was als nostalgische Spurensuche
begonnen hat, wird immer mehr zu einer verrückten Tour durch
das Japan von
heute. (Diogenes)
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