Heinz Schlaffer: "Das entfesselte Wort"
Nietzsches Stil und seine Folgen
Wer sich mit Friedrich
Nietzsche auseinandersetzt, dem geht es um seine Philosophie - sich an
Thesen reiben, das gedankliche Grundgerüst verstehen. Dies ist der
Nietzsche, wie man ihm heute als Schwergewicht der philosophischen
Disziplin in den Fakultäten begegnet. Für die meisten
mindestens ebenso, wenn nicht noch faszinierender, ist das Leben
Nietzsches, seine Beziehungen zu Richard Wagner und Lou Salomé, sein psychotischer
(Größen-)Wahnsinn.
Warum Nietzsche aber nicht nur als Philosoph und Mensch, sondern auch
in seiner Eigenschaft als Schriftsteller fasziniert, wird selten einer
gründlicheren Untersuchung unterzogen. Seine Werke werden als
Vehikel für seine Theorien gelesen, aber wie sie diese
Übermittlungsfunktion ausfüllen und der Text selbst
funktioniert, bleibt bei der Auseinandersetzung mit Nietzsche
regelmäßig außen vor.
Heinz Schlaffer macht sich mit seinem Buch "Das entfesselte Wort -
Nietzsches Stil und seine Folgen" daran, diese Lücke zu füllen. Mit großer Freude analysiert er, wie Nietzsche
Sprache einsetzt und einen Text formt.
Wortwahl, Zeichensetzung, Satzbau, sogar die Aufmachung wird in die
Forschungsarbeit einbezogen.
Schnell wird deutlich, dass man Nietzsche Unrecht tut, wenn man diese
Seite seines Werks vernachlässigt. Nietzsche selbst war sich der
Gewaltigkeit seiner Sprache und des Stils außerordentlich
bewusst. Zweifel an der Qualität hatte er nicht gerade, wie er in
einem seiner letzten, bereits von Dämmerung umflorten Werke "Ecce
homo" im Kapitel "Warum ich so gute Bücher schreibe",
unmissverständlich deutlich macht. Nach der Lektüre von
Schlaffers Buch muss man Nietzsche zugestehen, dass er nicht so ganz
falsch lag. Schlaffer gelingt es, die Funktionsweise der Sprache
Nietzsches offenzulegen, und selbst wenn man Nietzsches Werke bereits
häufiger zur Hand genommen hatte, so erstaunt die Erkenntnis,
wie viel Sorgfalt Nietzsche tatsächlich auf die Wirkung seiner
Schriften verwendet haben musste. An dieser Stelle sei der
Befürchtung entgegengetreten, es könne sich um eine
Textanalyse wie zu Schulzeiten handeln - Schlaffer zeigt, wie man
ansprechend einen Text seziert, ohne zu langweilen.
Die Textanalyse ist für Schlaffer aber nur das Fundament für
den zweiten Schritt, der den größten Teil des Buches
ausmacht, nämlich die Darstellung des Kontexts des Stils von
Nietzsche und die Rezeption im Verlauf der Geschichte bis heute. Steht
am Anfang die Erläuterung, welch radikale Progressivität
Nietzsches Schriften im Vergleich zu dem Geschmack seiner Zeitgenossen
aufwiesen, untersucht Schlaffer danach, wie Nietzsches Werk unter dem
Nationalsozialismus vereinnahmt wurde. Die Rezeption im Dritten Reich
nicht nur von Nietzsches Thesen, sondern auch des Stils ist für
Schlaffer Dreh- und Angelpunkt seiner gesamten Untersuchung. Leider
finden die Nachwirkungen des Stils Nietzsches in der Gegenwart nur
wenig Beachtung; hier wäre mehr möglich gewesen.
Dem Autor ist ein recht kurzweiliges Buch gelungen. Hat man den
Parforce-Ritt des ersten Kapitels überstanden, (bei dem man den
Eindruck gewinnt, als ob der Autor möglichst viele seiner Ideen
und Assoziationen unterbringen wollte), kann man sich auf ein
kenntnisreiches und viele Entdeckungen versprechendes Buch freuen. Die
Lust, sich danach (wieder) mit Nietzsches Werken im Original zu
beschäftigen, ist garantiert!
(Daniel Stengel; 10/2007)
Heinz Schlaffer: "Das entfesselte Wort.
Nietzsches Stil und seine Folgen"
Hanser, 2007. 224 Seiten.
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Leseprobe aus
dem Kapitel "Wort und Zahl":
(...) Alle Menschen können sprechen, doch wenige nur sind der Sprache in solchem Grade mächtig, daß sie
allein dadurch Macht auf andere ausüben. Redner und Schriftsteller
nutzen diese ungleichmäßige Verteilung des Sprachvermögens. Den
einen, der spricht oder schreibt, hören oder lesen viele in
stummer Bewunderung; die Leser fühlen sich ihrerseits über die
Masse erhoben, der sogar der Sinn für das Zuhören und Lesen abgeht - "hole sie der Teufel und die
Statistik!", fluchte Nietzsche. Mit
Nietzsches Begriff des "Willens" schmähte
Hitler die demokratische
Arithmetik: "Nicht die Zahl gibt den Ausschlag, sondern der Wille."
Kaum eine Staatsform war den Regenten des Worts in Deutschland
fremder als die Demokratie, in der Abstimmungen, also Zahlen,
entscheiden, ohne die Stimmberechtigten nach ihrem
geistigen Rang zu bewerten. Der Eine, die Wenigen, die Vielen, die "Vielzuvielen"
(wie Nietzsche sie nennt), deren "Zahl" bereits "Frevel" ist (wie
Stefan George hinzufügt)
- der abgestufte
Zugang zur Wortwelt sollte eine Art zweiter Aristokratie begründen. Die
Demokratie gibt das Wort frei und mindert gerade dadurch seine
Bedeutung. Kapitalistische Ökonomie und bürgerliche
Demokratie, die beide sich auf Recht und Gerechtigkeit der Zahl berufen,
beenden das Zeitalter des Worts.
Wann hatte es begonnen?
"Im Anfang war das Wort": Das Alte Testament erzählt, Gott habe die
Welt erschaffen, indem er "sprach", und den Umgang der Menschen
untereinander geregelt, indem er Gebote aufschrieb, die später sein
Sohn durch Sprüche modifizierte. Der Gott der Bibel ist
Schriftsteller und Redner, der Gott der neuzeitlichen Naturwissenschaft
hingegen Mathematiker. Die christliche Religion besteht in
Sprachhandlungen: in der Verkündigung von Dogmen, in der
Erteilung der Sakramente durch feste Sprachformeln, in Segen,
Predigt, Gebet und Beichte, in erbaulicher Lektüre. Seit der
frühen Neuzeit jedoch arbeiteten Physiker daran, die Gesetze des
Kosmos in Zahlenverhältnissen festzulegen - zunächst im
Verborgenen, um den Einspruch und Richtspruch der Kirche zu umgehen.
Erst im Verein mit den Erfolgen der Technik und der Geldwirtschaft
brachte die Zahlenwelt der
Naturwissenschaften seit dem 18.
Jahrhundert die Wortwelt in Bedrängnis. Die Apologeten des
Worts suchten sich durch einen Kompromiß zu retten: In den
Sphären der Mechanik und des Kommerzes mochten Zahlen gelten, in
den "höheren" Angelegenheiten des Glaubens, der
Philosophie und der Poesie aber galten weiterhin die Worte.
Gerade die Bedrohung der Wortmacht
rief seit dem späten 18. Jahrhundert bei den Bedrohten eine
früher unbekannte Emphase hervor. Ihre knappste Formel hat die
verzweifelte Verteidigung des magischen Vermögens, das einst dem
Wort innewohnte, in einem Gedicht des Novalis gefunden: "Wenn
nicht mehr Zahlen und Figuren / Sind Schlüssel aller
Kreaturen / Wenn die so singen, oder küssen, / Mehr als die
Tiefgelehrten wissen / [...] Und man in Mährchen und Gedichten / Erkennt
die wahren Weltgeschichten, / Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
/ Das ganze verkehrte Wesen fort." Weder Novalis’ "geheimes Wort" noch
Eichendorffs "Zauberwort",
weder die
literarische Romantik noch der philosophische Idealismus (wie die
Geistesgeschichte diese anspruchsvollen Oppositionen gegen
die meßbare, entzauberte Welt nennt) vermochten die "Zahlen und
Figuren" zu vertreiben; vielmehr erweiterten sie im 19. Jahrhundert
ihr Territorium. Industrialisierung, Kommerzialisierung, der
Fortschritt der
Naturwissenschaften, Formalisierung und Mathematisierung in einigen
Geisteswissenschaften (in der Logik,
Linguistik, Soziologie) sorgten dafür, daß die Macht der
Zahlen
wuchs, in der Wirklichkeit wie im Bewußtsein von ihr.
Mit Stolz registrierte die
bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, daß sich
alles
vermehrte: die Bevölkerung, die Reichweite der Kanonen, die
Warenproduktion, die Geldmenge, die Masse der Informationen und der
Grad
der Informiertheit. Konservative Aristokraten und
kulturkritische Intellektuelle wandten sich von diesem populären
Glück
der wachsenden Zahl verächtlich ab. Nietzsche ging einen Schritt
weiter, indem er dem Prozeß der Vermehrung den Vorzug einer
Verminderung entgegenhielt. Er plädierte dafür, die
Bildungsansprüche der Gymnasien und Universitäten zu
erhöhen und
dadurch die Zahl der Schüler und Studenten zu verringern. Die
sorgfältige Lektüre klassischer Texte erspare den Wust der
Zeitungsnachrichten und der Modeliteratur; die Züchtung einer
verbesserten Rasse
erlaube es, einen Großteil der entarteten Massen zu vernichten.
Je
spürbarer der Erfolg der Zahlen war, desto überschwenglicher
pries
die Gegenpartei den Vorzug des Worts. Die Qualität des
"großen Stils", wie ihn Nietzsche forderte und in seinen
Schriften
demonstrierte, sollte die Expansion stilloser Quantitäten bannen.