Frank Lisson: "Friedrich Nietzsche"
Ein Leben zwischen Genie und Wahnsinn
Mehr
als bei jedem anderen Philosophen erschließt sich bei Nietzsche der Zugang zu
seiner Philosophie über die genaue Kenntnis seiner Lebensumstände. Kaum ein
anderer Philosoph der Moderne schrieb bekenntnishafter als jener Pastorensohn,
welcher 1844 in Röcken bei Leipzig das Licht der Welt erblickte, nach einer
frömmelnden Erziehung als streitbarer Antichrist ein wirkmächtiges Werk schuf,
1889 schwer erkrankt dem Wahnsinn verfiel und nach Jahren des Dahindämmerns am
25. August 1900 infolge einer Lungenentzündung in Weimar aus dem Leben
schied.
Nietzsches Philosophie ist weitaus mehr als bloßes akademisches
Räsonieren, es geht ihr nicht vorwiegend um die Kritik oder auch Richtigstellung
von Denkweisen, ihr Grundcharakter ist vielmehr messianisch, sie tritt mit einem
fast schon maßlos zu benennenden Veränderungsanspruch in die Welt, der in der
Person ihres Schöpfers fokussiert, welcher sich über die fiktive Handlungsfigur
des Zarathustra selbst zum quasi prophetischen Begründer einer neuen vornehmeren
und vor allem mehr authentischen Menschenart stilisiert. Es geht letztlich um
die Zucht von Übermenschen. Der Philosoph tritt somit als Evangelist auf, als
Bote eines neuen Glaubens, nicht zufällig in Gestalt des persischen
Religionsstifters Zarathustra (zw. 628 bis 551 v. Chr.), griech. Zoroastres,
welcher in der Legende auch als Philosoph, Mathematiker, Astrologe und Magier
verehrt wurde. Nietzsches Heilslehre inszeniert sich im liturgischen Tonfall
einer Predigt, in dem Moment, wenn er mit elitärem Verkünderpathos seinen Hymnus
auf den Übermenschen singt, dessen Kreator er zu sein wünscht und welcher - so
charakterisiert Frank Lisson Nietzsches Kunstfigur - der Mensch ist, der sich
selbst erschafft, der niemanden nachahmt, keiner Mode folgt und keiner Moral. Er
ist das souveräne Individuum, das nur seiner eigenen Natur folgt und dabei die
"ewige Wiederkehr" aller Dinge akzeptiert, in uneingeschränkter Liebe zum
Schicksal (amor fati). In letzter
Konsequenz gilt dem Übermenschen das delphische Postulat: "Werde, der du
bist."
Friedrich Nietzsche ist, wenn auch vielleicht weltweit nicht der meistgelesene
(dies wird wohl immer noch
Karl Marx sein) so doch mit ziemlicher Gewissheit
der am öftesten zitierte Philosoph dieser Erde. Seine griffigen und in der Aussage
zugespitzten Aphorismen bieten sich dazu wie kein anderes Schrifttum an. Mehr
Dichter denn Denker, war er der abgehobenen Gemeinschaft würdiger Kathederphilosophen
von Anfang an verdächtig, hingegen er unter Laien schon bald nach seinem Ableben
einen zuweilen exzessiven Kultstatus errang. Nietzsche traf um die Wende zum
20. Jahrhundert den Nerv der Zeit und wurde - so gibt Lisson angesichts einer
anhaltenden Nietzscheeuphorie zu bedenken - weitgehend unkritisch zum Vordenker
einer aristokratisch-romantischen Idealisierung des alten Europas stilisiert,
welches es galt, verkörpert durch Deutschland, in heroischem Kampfe gegen die
demokratische Idee des Westens zu verteidigen. Nietzsches Denken, so Lisson,
wurde zur vorherrschenden ideologischen Orientierung in einem Krieg der Kulturen,
der letztlich
zum Ersten
Weltkrieg eskalierte. In diesem Zusammenhang verdeutlicht Lisson die besondere
Brisanz von Nietzsches Kulturphilosophie: "Für viele gebildete Deutsche, die
Nietzsche lasen, war der Erste Weltkrieg auch ein Kulturkrieg. Ein Krieg der
Werte, den sie gegen die moderne, materialistische, auf Handel und Konsum ausgerichtete
neue Welt der westlichen Zivilisation führten. Die Furcht, es werde in Europa
ein vollkommen seelenloser Amerikanismus zur Herrschaft gelangen, wie
Oswald
Spengler bereits 1914 prophezeite, war unter Intellektuellen und Bildungsbürgern
weit verbreitet. Ein deutscher Sieg sollte diesen Prozess wenigstens verzögern."
Der Erste Weltkrieg war dann auch ein so verstandener Kampf von "Helden gegen
Händler", und Nietzsches "Zarathustra" sollte in diesen Tagen millionenfachen
Sterbens zur Motivationsliteratur unzähliger deutscher Frontsoldaten werden,
welche diesen als die Kampfmoral stählende Kriegslektüre im Feldgepäck mit sich
führten. Man kann nicht sagen, sie hätten Nietzsche falsch verstanden - der
(obgleich Nietzsche als Wegbereiter der Moderne gilt) akzentuiert antimodernistische
Grundzug, ein ständig beschworener Heroismus und Kult um die Lust am gefährlichen
Leben, die Rückwärtsgewandtheit und der Hang zum irrational Dunklen in seiner
Philosophie gibt ihnen vielmehr Recht. Und es war nicht zuletzt dieser ausgerechnet
lebensreformistische Aspekt in Nietzsches Denken, welcher die Philosophie des
erklärten Antinationalisten und Hassers deutscher Lebensart dem späteren europäischen
Faschismus geistig verwandt und deswegen verfügbar machen sollte.
Wie schon angedeutet: Nietzsches Philosophie ist von nicht geringer Brisanz.
Ihre Radikalität bezieht sie aus den Lebensumständen eines vereinsamten und
über lange Jahre von unaufhörlichen Schmerzen gemarterten Mannes, den die philosophische
Literaturkritik zu Zeiten seines Schaffens zumeist nicht einmal ignorierte,
bestenfalls bei sich bietender Gelegenheit seine Schriften vernichtend und bis
zur tiefsten Herabwürdigung des Autors rezensierte, der wiederum - kaum weniger
unduldsam als seine Kritiker - neben sich auch kaum eine andere Person als kongenial
akzeptierte, was einer Hinterfragung seiner Thesen natürlich allemal wenig bekömmlich
war. Als der dänische Schriftsteller und Kritiker Georg Brandes im Frühjahr
1888 damit begonnen hatte, an der Universität in Kopenhagen Vorlesungen "om
den tyske filosof Friedrich Nietzsche" zu halten, damit großen Anklang bei der
Studentenschaft findend, war es für Nietzsche im Grunde genommen bereits zu
spät. "Genie und Irrsinn" hatten in der Person des deutschen Philosophen in
diesem Augenblick bereits zueinander gefunden.
Biografien zu Nietzsche lesen sich nun oft als tendenzielle Apologetik, eine
Tradition, der Frank Lisson mit seiner eher kritischen, in ihrem Bemühen um
Lebenswahrheit Respekt gebietenden Würdigung einen relativ schroffen Abbruch
tut. Nietzsche ist
große Literatur und, so viel ist gewiss, sein Werk verdient
Weltruhm, doch ist es deswegen noch lange nicht angebracht, den deutschen Künstlerphilosophen,
als Menschen, der dahinter steht, mitsamt seiner Herrenmenschenvision zu vergöttern.
Letzteres - die Selbstvergötterung - hat Nietzsche im Wahn selbst zelebriert,
demnach jede Anbetungslust am Beispiel der Ikone selbst, ob der Lächerlichkeit
solchen Gehabens, verwarnt sein sollte.
Ähnlich wie viele Nietzsche-Biografen vor ihm, orientiert sich Frank Lisson
dem natürlichen Lauf aller Daseinsverhaftung folgend - streng chronologisch
verfahrend - an den großen Lebensthemen und Lebensstationen des deutschen Philosophen.
Solcherart veranschaulicht der Biograf dem Leser Nietzsches begeisterte Lektüre
von Schopenhauers "Welt als Wille und Vorstellung", wodurch die philosophische
Weltanschauung des Studenten Nietzsche einen bleibenden Schliff erhält. Dies
tat sich 1865. Später, im Jahre 1874, sollte die Beschäftigung mit dem verfemten
Individualanarchisten Max Stirner, dem Autor von "Der Einzige und sein Eigentum",
der sagt: "Ich allein bin leibhaftig", Nietzsches Denken noch massiver als dermaleinst
Schopenhauer prägen: Nietzsches Idealtypus des Übermenschen verkörpert einen
heroisch-anarchischen Individualismus, der in seinen exklusiven Wesensmerkmalen
frappant Max Stirners "Einzigem" gleicht. 1869 erhält Nietzsche eine außerordentliche
Professur für Klassische Philologie an der Universität Basel. Was angesichts
des jugendlichen Alters Nietzsches eine Sensation war. Dieser, so berichtet
Lisson, wäre allerdings lieber Professor für Philosophie geworden, doch scheiterten
diesbezügliche Avancen nicht zuletzt an seiner höchst unvollständigen philosophischen
Bildung, die über eine tiefere Kenntnis von Schopenhauer und
Immanuel Kant kaum
hinausreichte.
Von überragender Bedeutung sind natürlich auch in Frank Lissons Nietzsche-Biografie
die leidenschaftliche Freundschaft (und in weiterer Folge unversöhnliche Feindschaft)
des Philosophen mit dem Komponisten
Richard Wagner
(1869 bis 1878), sowie seine schmerzliche Schwärmerei für
Lou
von Salomé (1882), die vermutlich zwei seiner Heiratsanträge zurückweist
und ihm zuletzt nur noch eine zornige Erinnerung wert ist. An dieser Stelle
knüpft Lisson mit Erwägungen zu Nietzsches unausgelebter Sexualität an, die
er als ursächlich für eine enorme geistige Spannung erachtet, ohne die Nietzsches
Werk kaum zu denken sei. Ein "gesunder", "glücklicher" Nietzsche hätte nicht
ein Werk geschaffen, so, wie er es hinterlassen hat, weil es ihm an Veranlassung,
an Notwendigkeit gefehlt hätte. Und Lisson führt diesen Gedanken der Sublimation
von Sexualität auf kulturhistorischer Ebene fort, wenn er darauf spekuliert,
dass Leid durch Verzicht Kreativität gebiert, wodurch sich vielleicht dafür
eine Erklärung gibt, warum gerade im "leibfeindlichen" 19. Jahrhundert mehr
große Dichtung, Musik und Philosophie hervorgebracht worden ist als jemals zuvor
und danach. Und nicht selten entstammten die Künstler und Denker einem zur Prüderie
neigenden protestantischen Milieu. Wie eben Nietzsche auch, der sich selbst
zuweilen danach sehnte, ein wenig mehr barbarisch zu sein und, so Lisson, sich
mit philosophischer Wut gegen die würgende Moral der "Verächter des Leibes"
ergrimmt.
Nietzsches Philosophie ist in einigen
ihrer Momente selbst für das 19. Jahrhundert als nicht nur unzeitgemäß, sondern,
wegen ihrer unhistorischen Orientierung an der griechischen Antike, überdies als
keineswegs unproblematisch zu erachten. Immer wieder formuliert er angeblich
"neue" und "explosive" Thesen, die in Wahrheit, nach Meinung Lissons, des
Öfteren einfach nur recht antiquiert und gestrig sind. Das Unzeitgemäße in
Nietzsches Schreibart umschreibt wiederholt lediglich Vorzeitiges. Keineswegs
sollte des Philosophen Werk deswegen, wie leider so oft der Fall, in
unkritischer und gar verehrender Lesart aufgenommen werden. Lisson verweist auf
den Umstand, dass Nietzsche ganz bestimmt und Zeit seines Lebens
leidenschaftlicher Antidemokrat war, über seine Philosophie eine Aristokratie
(des Geistes) zu legitimieren trachtete, der Demokratie selbst unaufhörlich in
den Schriftzeilen frevelte und - wie um der Ansammlung von Ungeheuerlichkeiten
auch noch die Krone aufsetzen zu wollen - die Sklavenhaltergesellschaft der
griechischen Antike als "tiefsinnige Nothwendigkeit" deutete, welche keineswegs
geschichtlich überholt sei. Ein Hauptgrund für den Verfall moderner Kulturen
bestünde nämlich darin, dass sie den offenen Sklavenstand abgeschafft haben:
"Demgemäß müssen wir uns dazu verstehen, als grausam klingende Wahrheit
hinzustellen, dass zum Wesen einer Kultur das Sklaventhum gehöre." Es müsse
"blinde Maulwürfe der Cultur" geben, welche die anfallenden Arbeiten verrichten,
damit die Anderen, die Freien, Gelegenheit bekämen, sich ungestört den
kulturschöpferischen Aufgaben zu widmen, die da wären: Musik treiben und
Politik, Kriege führen, Dichtung, Philosophie.
Betont reaktionär und überdies destruktiv, weil ohne jede Idee eines alternativen
Zukunftskonzepts, fällt nach Meinung von Lisson ferner Nietzsches aggressive
Kritik am Bildungssystem seiner Zeit aus, über welche er die "Demokratisierung"
der Bildung als "Vorstadium des Kommunismus" denunziert, als eine letztlich
verächtliche Nivellierung deutschen Geistes, welche einzig der Rekrutierung
von Massenheeren an funktionsfähigen Wirtschafts- und Staatsknechten diene.
Um die Kultur von Philisterei und Gleichmacherei zu kurieren fordert Nietzsche
ein Bekenntnis zum Bildungsidealismus im Sinne Humboldts,
dem stets ein Ideal klassischer Bildung leuchtete, das, so Lisson, nach Nietzsches
Interpretation "Leben im Sinne großer Geister mit dem Zwecke großer
Ziele" bedeutet.
Was nun Nietzsches Wahnsinn betrifft, erlegt sich der Biograf keinerlei Zurückhaltung
auf und spekuliert über eine frühzeitigere Datierung geistiger Wirrnis, frühzeitiger
als üblich, die demnach, bei Deutung von Nietzsches - bekanntlich besonders
brillantem -
Spätwerk, nicht außer Acht gelassen werden dürfe, diesem solcherart einen
Hauch Irrsinns einatmet. Immerhin äußert sich
Cosima Wagner schon 1878 über
eine geistige Erkrankung Nietzsches - also Jahre vor der Niederschrift des "Zarathustra"
und der "Geburt des Übermenschen" (1883 bis 1885).
Nietzsches
Denken, seine Kulturkritik und scharfzüngigen Polemiken sind teils bedenklich.
Untadelig hingegen mutet sich Nietzsches Verhältnis mit den Juden an, zu welchen
er persönliche Freundschaften unterhält und die er als gesellschaftliche Gruppe
hoch schätzt. Eine Neigung, die ihm seitens der verhassten Antisemiten zum
Vorwurf gemacht wird. So empört sich Cosima Wagner (die Frau Richard Wagners)
über Nietzsches enge Freundschaft mit dem jüdischen Intellektuellen und
zeitweiligen philosophischen Weggefährten Paul Rée in ihrem Kommentar zu
Nietzsches Buch "Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister"
mit den kaum zu ihrer höheren Ehre gereichenden Worten: "Vieles hat mitgewirkt
zu dem traurigen Buche! Schließlich kam noch Israel hinzu in Gestalt eines Dr.
Rée, sehr glatt, sehr kühl, gleichsam durchaus eingenommen und unterjocht durch
Nietzsche, in Wahrheit aber ihn überlistend, im Kleinen das Verhältnis von Judäa
und Germania (...) ich habe für jeden Satz, den ich gelesen, einen Kommentar,
und ich weiß, dass hier das Böse gesiegt hat." (Cosima Wagner an Marie von
Schleinitz, 9. Mai 1879)
Resümierend lässt sich nun sagen, dass Lisson
durch seine erfrischend respektlose und doch nicht ehrrührige Annäherung an die
Ikone Nietzsche überzeugt. Immerhin ist Nietzsche auch in unseren Tagen, allein
schon ob der Sprengkraft seines unkonventionellen "nomadischen Denkens" nach wie
vor von überragender Bedeutung, und so stellten Jürg Altwegg und Aurel Schmidt
in ihrem 1987 veröffentlichten Porträt der französischen Nachkriegsphilosophie
"Französische Denker der Gegenwart" in diesem Sinne unumwunden fest, dass deren
Entwicklung im Wesentlichen mit einer Absetzung
Hegels und einer Inthronisierung
Nietzsches einhergegangen sei und ohne Nietzsche eigentlich kaum etwas davon
verständlich werde. Für Foucault hat Nietzsche eine andere Art zu philosophieren
- zu "diagnostizieren" - eingeleitet und Deleuze stellte Nietzsche entgegen die
imperialen Bürokratien von Marx und
Freud, stilisierte solcherart den Deutschen
zum Begründer einer zukunftsweisenden Gegenphilosophie, über welche das "Recht
auf Sinnwidrigkeit" zum Zuge kommt, und die ein Denken freigibt, das in Relation
zu einem Außen steht, "Denken in frischer Luft", woraus sich dann auch "Momente
dionysischen Lachens" ergeben. Nietzsche wird solcherart über die Auslegung
seines Werkes durch die französische Nachkriegsphilosophie zu einem Ahnherr der
Postmoderne - die Franzosen feiern ihn, die Deutschen verbleiben ihm gegenüber
jedoch reserviert.
Lisson nun betont in seiner Biografie kritische Aspekte, und zwar in einer gar
nicht so üblichen Intensität. Und geht damit ein Risiko ein, denn möglicherweise
wird so mancher Leser das Buch im Zorn voreilig weglegen, noch bevor er es zu
Ende gelesen hat. Als Argument könnte der zornige Lektüreabbrecher dann geltend
machen, dass zwar der eine oder andere Kritikpunkt aufgeworfen werde, der um
Gerechtigkeit bemühte Versuch einer Apologetik jedoch zugleich ausbleibe. Dass
dieser Versuch einer Verteidigung von Nietzsches Position ausbleibt, liegt wohl
primär an der Platzknappheit und ist zudem auch nicht Gegenstand einer Biografie,
der es um die vielfältigen Facetten eines trotzigen Philosophenlebens, nicht
jedoch um die letztgültige Gerechtigkeit für sein Denken geht. Trotzdem wäre
es reizvoll gewesen, Nietzsches Kulturkritik, so zum Beispiel sein aufreizendes
und bis dato noch selten so direkt angesprochenes Plädoyer für die Sklavenhaltergesellschaft
oder seine - nicht einmal aus den Zeitumständen verständliche - Polemik gegen
die Demokratisierung der Bildungseinrichtungen, einmal nicht nur im Lichte einer
kleinlichen Auffassung politischer Korrektheit zu sehen, sondern in wirklich
kritischer Manier als Denkmöglichkeit auszudeuten, die zwar politisch unmöglich
ist, jedoch den Blick auf Fehlentwicklungen schärfen hilft. Der Gedanke einer
Entrechtung von Menschenmassen zum Vorteile einer sich anmaßend philosophisch
wähnenden Aristokratie, welche ihr despotisches Anspruchsdenken als naturrechtliches
Privileg des Stärkeren legitimiert, muss aus jeder Gegenwartsperspektive zwar
als ungehörig erscheinen, doch darf die Frage gestellt sein, wie viele aus dieser
entrechteten - weil ohne Unterlass sich selbst entrechtenden - Masse denn nun
wirklich nach höherem Geistesadel streben oder sich nicht vielmehr in ihrer
ebenso bequemen wie behäbigen Niedrigkeit wohlig eingenistet haben und dann
auch noch stolz auf ihr Unvermögen sind? Ist der geistige Sklavenstand nicht
also schon viel eher Realität denn eine ungeheure Forderung, beruht ergo Versklavung
dann nicht auch auf einer Selbstbestimmung zur Unfreiheit - auf einer Art freiwilligem
Bekenntnis zum Sklavenstand? Und das trotz jeder löblichen Sozialpolitik, die
sich seit Jahrzehnten vergeblich um Erhöhung des Menschen abmüht. Dies als Diskussionsweise
zu erkennen und in heroischer Redlichkeit öffentlich auszusprechen, dann auch
noch daraus auf eine (den scheinbaren Fortschritt) negierende Konsequenz zu
schließen, das war allerdings schon zu Nietzsches Zeit wahrlich unzeitgemäß
und erforderte Mut zur intellektuellen Prügelei.
Dieser Mut machte sich freilich belohnt. Mit seiner Kritik am Bildungssystem
erntete Nietzsche bei seinen Vorträgen beim Publikum erstaunlich viel Zuspruch,
wohl weil er mit seiner Kulturkritik an ein Unbehagen rührte, von dem Andere
lieber die Finger ließen. Lisson berichtet davon. Der Leser von heute sollte
sich nun überlegen, inwiefern Nietzsche mit seiner vordergründig reaktionären
Kritik nicht richtig liegt und solcherart eine eigentlich zutiefst humanistische
Position bezieht. Indem er nämlich den überwiegenden Nutzengedanken an der vorherrschenden
Bildungspolitik in Verruf bringt und stattdessen eine Bildung einfordert, die
den Menschen nicht zur beruflichen Zweckmäßigkeit formt, sondern auf eine Ausbildung
seiner Möglichkeiten abzielt, ihn sozusagen der Vision einer höherwertigen Idee
von Menschheit nahe setzt, ihn in Hinblick auf eine Potenzialität zur Entfaltung
bringt, die weit über dem liegt, was im Alltag als gewöhnliche Wirklichkeit
des Menschen erscheint. Das in seiner schöpferischen Kraft souveräne Individuum
als Ziel von Bildung und Kultur, diese Idee kann nicht inhuman sein, obgleich
ihre Absolutsetzung bei Nietzsche dem Gleichheitsgedanken zuwider läuft. Doch
sollte umgekehrt die Nivellierung potenziell hochbegabten Lebens fürwahr der
Endzweck allen menschlichen Strebens sein?
Lisson führt diese Gedanken nicht aus, denn er verfasste eine Biografie und
formulierte hiezu kritische Punkte, die einer Ergänzung bedürfen, welche zu
leisten er dem Leser überlässt. Lesen heißt mitdenken und nachdenken. Gegenständliches
Buch gibt somit also nicht nur einen hinreichend detaillierten Blick auf Nietzsches
Leben, sondern leitet insbesondere auch zum Weiterdenken an. Und dieses ganz
im Sinne des deutschen Dichterphilosophen, denn Nietzsche bedeutet gleichsam
Provokation und Irritation, keineswegs jedoch Gewissheit und selbstgenügsames
Wissen. Sein Denken ist, wie auch sein räumlich-zeitlicher Lebensvollzug, im
besten Sinne nomadisch geartet. Unentwegt wechselte er seinen Wohnsitz, mied
dabei das ungeliebte Deutschland, tendierte zum lichtdurchfluteten Italien,
liebte den kleinen Ort Sils-Maria in der Schweiz, in gebirgiger Höhe, der seiner
angegriffenen Gesundheit seit 1881 eine wiederkehrende Labsal ist. Ruhelos und
widerwillig, da aus (innerer) Notwendigkeit zu immer neuen Anstrengungen getrieben,
flieht er aber selbst das Paradies auf Erden, als welches ihm Sils-Maria zuerst
erscheint. Die nomadische Figur des Wanderers war dann auch sein eigentliches
Wappensymbol - seine Philosophie eine
Philosophie
des Wanderers. Nietzsche hasste es, ob der damit verbundenen Beschwerlichkeiten,
zu reisen, weiß Frank Lisson zu berichten. Das Wandern war ihm zwar lieb, jedoch
eben beschwerlich, insoweit es sich um eine körperliche und nicht bloß geistige
Wanderschaft handelte. Geistig und örtlich unbehaust zu sein, stattdessen die
Welt und Welten zu durchwandern, war Nietzsche keine eigentliche Tugend, sondern
das Gebot seines Naturells, welches ihm als despotischer Trieb innerlich war.
Er wanderte und wandelte durch Räume und Zeiten, so und so. Das vorliegende
Porträt Nietzsches wird diesem Bildnis eines verzweifelt nach Welt (gar nicht
so nach Wahrheit) Suchenden gerecht. Und bei aller Klarheit über die bloße Vita
des Philosophen, so verbleiben dem Leser dann doch noch ein Kompendium an Unstimmigkeiten
und Fragwürdigkeiten, mit welchen er sich abzukämpfen hat. Aus Nietzsche erwächst
eben Ruhelosigkeit und nicht apollinische Ordnung, sondern schöpferisches Chaos,
das zum Aufbruch ins Ungewisse aufrührt:
Wahrlich so und nicht anders war Nietzsches Leben. Dionysisch berauscht, im
Wahnsinn eine letzte Vernunft erahnend.
(Harald Schulz; 12/2004)
Frank Lisson: "Friedrich
Nietzsche"
dtv, 2004. 192 Seiten; mit farbigen Abbildungen.
ISBN
3-423-31077-4.
ca. EUR 10,30.
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Frank Lisson, geboren 1970 in
Norddeutschland, studierte Germanistik, Geschichte und
Philosophie in
Würzburg und München. Er ist Publizist und freier Mitarbeiter verschiedener
Rundfunkanstalten und lebt in Würzburg. Veröffentlichungen zu historischen und
politischen Themen.
Ein weiterer Buchtipp:
Wiebrecht Ries:
"Nietzsche zur Einführung"
Nachdem lange Zeit Misserständnisse und allzu
selektiver Gebrauch die Philosophie Nietzsches in Misskredit gebracht hatten,
scheint seine Rehabilitierung durchgesetzt. Eine neue Generation von Lesern
entdeckte Nietzsche als geistigen Vater des Sinnlosigkeitsverdachts gegenüber
allen endgültigen Konstruktionen von Geschichte, Moral und Wahrheit
wieder.
Wiebrecht Ries bietet einen Leitfaden durch Nietzsches Werk, das
vielen Interessierten oft verwirrend und unüberschaubar erscheint. Um zu einem
sachlich angemessenen Verständnis des umstrittenen Philosophen zu verhelfen,
entfaltet Ries Nietzsches Leitmotive erst, nachdem er einen Überblick über die
Schaffensphasen des Gesamtwerks gegeben hat. (Junius)
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