Peter Longerich: "Davon haben wir nichts gewusst!"
Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945
Nicht
wissen können wollen
Ein äußerst heikles Kapitel deutscher Geschichte
wird hier angepackt: 'Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945'
(Untertitel) - mit der Behauptung des Historikers Longerich, dass die
deutsche Öffentlichkeit damals keineswegs unwissend gewesen
sein kann! Er hat neue, bisher nicht ausgewertete Quellen zu Rate
gezogen und weist nach, dass die NS-Propaganda ab 1941 sogar gezielte
Hinweise auf die Judenvernichtung gab. Longerichs Grundthese ist, dass
das NS-Regime die Bevölkerung bewusst zu Mitwissern und
Komplizen machen wollte, um ihr Schicksal mit der Existenz des 3.
Reichs zu verbinden. In diesem Zusammenhang hat Longerich die
antisemitische Propaganda analysiert, ebenso Rundfunkprogramme und
Flugblätter der Alliierten, sowie Informationen aus
Tagebüchern, Gerichtsakten und Aufzeichnungen
ausländischer Besucher herangezogen. Im übrigen gab
es bereits 1998 von Longerich das Buch 'Politik der Vernichtung - Eine
Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung'.
Wir Deutschen plagen uns mit zwei Fragen herum: 1) Wer hat wieviel
gewusst im 3 Reich? 2) Was hätte man gegen das Regime
unternehmen können? Angst und Ohnmacht lähmen
Zivilcourage und Erinnerung. Wenn jetzt ein deutscher Historiker
nachweist, dass die Judenverfolgung "vor aller Augen" stattfand (vgl.
Klappentext), dann ist dies eine ungeheuerliche Angelegenheit,
eigentlich ein Skandalon, ein Tabubruch! Geht es dabei doch um nichts
Geringeres als die Frage nach Schuld und Verantwortlichkeit der
NS-Verbrechen! Diese Frage bedeutet auch, ob die Judenvernichtung
womöglich stillschweigende Zustimmung in der
Bevölkerung hatte?! Longerich meint, dass das Regime die
"Endlösung der Judenfrage" sogar als Propagandawaffe
einsetzte, um die deutsche Bevölkerung auf das NS-System
einzuschwören.
Es gab damals so etwas wie eine durch die Nationalsozialisten
manipulativ hergestellte Öffentlichkeit mit totaler Kontrolle
der Massenmedien. Reichspressechef Otto Dietrich
äußerte in einer Rede auf dem Reichsparteitag 1933:
"Die öffentliche Meinung des deutschen Volkes ist der
Nationalsozialismus. Ihr Anwalt aber ist die nationalsozialistische
Parteipresse." Die Stimmung in der Bevölkerung wurde gesteuert
durch Propaganda, Kontrolle des Alltagslebens und repressive
Maßnahmen. Dazu erklärt Longerich: "Die nachhaltigen
Anstrengungen des Regimes, die 'Öffentlichkeit' im Hinblick
auf seine 'Judenpolitik' immer wieder neu auszurichten, sind das Thema
dieses Buches."
Nach Longerichs Eindruck wurde der Antisemitismus "je nach Zeitpunkt in
höchst unterschiedlichem Umfang in der nationalsozialistisch
dirigierten Öffentlichkeit thematisiert." Die Parteipresse
führte in den Jahren 1933, 1935 und 1938
großangelegte antisemitische Kampagnen durch. Aus
Presseberichten des Jahres 1935 geht hervor, dass der
Großteil der Bevölkerung keineswegs judenfeindlich
eingestellt war. Entsprechend wurden die sogenannten
'Nürnberger Gesetze' überwiegend
zurückhaltend aufgenommen; große Teile der
Bevölkerung kauften z.B. weiterhin bei Juden ein. Im Jahr 1938
erließ die NS-Regierung weitere antisemitische
Ausnahmegesetze. Die Bevölkerung billigte zum großen
Teil die Judenverfolgung nicht, aber unterschwellig wuchs durch die
ständige Propaganda ein dumpfer Antisemitismus. Das
Novemberpogrom sollte propagandamäßig als Ausbruch
des Volkszorns interpretiert werden - wobei der Bevölkerung
mehr die Rolle des Zuschauers beim offenen Terror der SA und SS zukam.
Longerich konstatiert "Zurückhaltung weiter
Bevölkerungskreise in öffentlichen
Äußerungen" - wohl aber Kritik an der
Zerstörung von Sachwerten. Aus Berichten der Exil-SPD wird die
Ablehnung des Pogroms durch die Bevölkerung deutlich.
Mit Kriegsbeginn 1939 verschärfte sich einerseits die
Verfolgung der Juden in Deutschland und Polen, andererseits - so
heißt bei Longerich - "fand diese weitere Radikalisierung der
Verfolgung jedoch nur sehr begrenzten Widerhall ... in der Propaganda."
Ab Herbst 1939 wurden "antijüdische Maßnahmen" aber
im Verborgenen vollzogen. Die Deportationen von Juden wurden teilweise
in der Bevölkerung diskutiert. Ab Spätsommer 1941 mit
dem Beginn des Angriffs auf die Sowjetunion verstärkte sich
wieder die antijüdische Propaganda mit dem fundamentalen
Slogan "Die Juden sind schuld". Jetzt mussten die Juden auch den Gelben
Stern zu sofortigen Identifizierung tragen - worauf die deutsche
Bevölkerung "überwiegend negativ" reagierte. Im
Oktober 1941 begannen die Deportationen nach dem Osten, welche "in der
deutschen Bevölkerung weithin bekannt und offenbar
unpopulär" waren. Als allerdings ein verschärftes
Kontaktverbot mit Juden erlassen wurde, änderte die
Bevölkerungsmehrheit ihr Verhalten. Es existieren Berichte,
nach denen "in der Bevölkerung detaillierte Informationen
über die Deportationen kursierten." Es gibt
Augenzeugenberichte und sogar Fotos vom Abtransport von Juden am
helllichten Tag. Auch durch die Auktionen, auf denen der Besitz der
Deportierten versteigert wurde, war bekannt, was den Juden angetan
wurde.
Ab 1942 spricht Hitler unverhohlen von der "Ausrottung" der Juden -
allerdings wird über konkrete Vorgehensweisen offiziell
geschwiegen. Durch zurückkehrende Frontsoldaten erfuhr man von
den Exekutionen an Juden in den besetzten sowjetischen und polnischen
Gebieten. Einzelne Leute hatten Kenntnis von den Gasmorden in den
Konzentrationslagern - Longerich muss diesbezüglich allerdings
einräumen: "Wie verbreitet solche Informationen in der
Bevölkerung tatsächlich waren, lässt sich
nicht einmal annähernd bestimmen." Auch bestand die
Möglichkeit, dass die Leute dies als feindliche
Kriegspropaganda verstanden hätten. Führende
Vertreter der Amtskirchen verfügten offensichtlich
über relevante Informationen - und: "Relativ weit verbreitet
waren Gerüchte über die Ermordung von Juden mithilfe
von Gas."
Victor Klemperer war relativ gut über die Massenmorde an Juden
informiert; Thomas Mann sprach in seinen an deutsche Hörer
gerichteten Sendungen schon 1942 die Gasmorde an; auch die BBC brachte
mehrfach Berichte; ebenso enthielten Flugblätter, welche die
Alliierten über Deutschland abwarfen, deutliche Hinweise zur
Judenvernichtung. Seit
Ende 1942 gab es Veröffentlichungen in
der Weltpresse darüber. In seinem 'Fazit' bemerkt Longerich,
dass die Maßnahmen gegen die Juden von der
Bevölkerung registriert werden mussten. Freilich konnte in
diesem Zwangssystem keine kritische Gegenöffentlichkeit
entstehen. Skepsis und Verständnislosigkeit
äußerten sich so auf recht disparate Art und Weise.
Longerich stellt insgesamt einen Trend fest: "Der Unwille der
Bevölkerung, ihr Verhalten zur 'Judenfrage' entsprechend den
vom Regime verordneten Normenausrichtungen, wuchs, je radikaler die
Verfolgung wurde."
Die "Judenfrage" war laut Longerich zu einem "öffentlichen
Geheimnis" geworden, "worüber man besser nicht sprach, das im
allgemeinen Bewusstsein jedoch deutlich präsent war." Ab 1943
hatte sich das NS-Regime ohnehin offensiv zum
"Rassenkrieg" bekannt.
Letztendlich gelangt Longerich nach zahlreichen Versuchen, Fakten aus
diversen Quellen zu entnehmen, zu einer psychologischen
Erklärung: nämlich dass die Deutschen nicht wissen
können wollen aus Angst vor Schuldzuweisungen nach dem
Untergang des 3. Reichs. Es war also der Versuch, "sich jeder
Verantwortung für das Geschehen durch ostentative
Ahnungslosigkeit zu entziehen." Heutzutage scheint es fast an
Unverschämtheit zu grenzen, den Zeitzeugen und
Überlebenden von damals (die übrigens rapide
wegsterben) mit Vorwürfen zu begegnen - denn im Grunde waren
sie alle in Lebensgefahr! Das vorliegende Buch hilft jedenfalls, die
damaligen Konstellationen besser zu verstehen - Longerich geht mit
aller gebotenen Sensibilität aber auch wissenschaftlichen
Dringlichkeit an dieses doppelt heikle Thema heran. Man macht sich
links und rechts Feinde - aber dieses Risiko ist der Autor offensiv
eingegangen - und so kann dieses Buch sowohl zur Aufklärung
als auch zur Beruhigung manch aufgeregter Diskussion beitragen.
(KS; 09/2006)
Peter
Longerich: "Davon haben wir nichts gewusst!"
Siedler Verlag, 2006. 448 Seiten.
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Peter
Longerich, geboren 1955 in Krefeld, ist Professor für Moderne
Deutsche Geschichte und Direktor des Research Centre for the Holocaust
and Twentieth-Century History am Royal Holloway College der
Universität London. Von 1983 bis 1989 war er am Institut
für Zeitgeschichte in München tätig. Er
veröffentlichte u. a. eine Geschichte der SA ("Die braunen
Bataillone", 1989), zahlreiche Dokumentationen, ein großes
Handbuch zur Weimarer Republik, "Politik der Vernichtung - Eine
Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung" (1998)
und "Hitler und der Weg zur 'Endlösung'" (2001):
"Geschichte der SA"
Peter Longerichs Geschichte der SA (zuerst 1989 erschienen unter dem
Titel "Die braunen Bataillone") ist das Standardwerk über die
- neben der Partei und der SS - mächtigste Organisation der
NS-Bewegung. Es zeichnet sachkundig und quellennah den Weg von Hitlers
"Sturmabteilung" nach, die zunächst als Ordnungstruppe
gegründet wurde und sich schon bald zu einer
gefürchteten Schlägerabteilung und zum bewaffneten
Wehrverband entwickelte, bis sie im Zuge der Mordaktion vom 30. Juni
1934 entmachtet wurde, der auch ihr langjähriger
Führer Ernst Röhm zum Opfer fiel. Peter Longerich hat
sein Werk für diese Neuausgabe durchgesehen und auf den
neuesten Stand der Forschung gebracht. (C.H. Beck)
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"Der ungeschriebene Befehl. Hitler und der Weg zur
'Endlösung'"
Es habe keinen schriftlichen Befehl Hitlers - wie etwa im Fall der
Euthanasie - zur Ermordung der Juden gegeben: Mit dieser Argumentation
wird immer wieder versucht, den "Führer" reinzuwaschen und
auch den Holocaust insgesamt zu verharmlosen: Als wissenschaftlicher
Gutachter im Londoner Irving-Prozess hatte Peter Longerich den Nachweis
zu führen, dass der millionenfache Mord direkt auf Hitler
zurückzuführen ist. Zu einem Buch umgearbeitet liegt
dieses Gutachten nun der Öffentlichkeit vor, in dem die
einzigartige Rolle Hitlers bei diesem Menschheitsverbrechen
herausgearbeitet wird. Er hat den Holocaust autorisiert und ihn
gesteuert. Mit wissenschaftlichen Quellen wird es damit unternommen,
aus den Dokumenten heraus die Befehlskette nachzuweisen, die von Hitler
nach Auschwitz führte. (Piper)
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