Hektor Haarkötter: "Nicht-Endende Enden"
Dimensionen eines literarischen Phänomens
Profunde
Studie zu einem scheinbaren Paradoxon
Aller Anfang ist schwer, schwierig würde man wohl besser
sagen, auch und speziell, was den Anfang literarischer Texte betrifft.
Aber das Enden? Nichts leichter als das, sollte man meinen. Das
tragische Ende wird determiniert durch den Tod des Protagonisten
beziehungsweise durch ein kollektives, apokalyptisches Massensterben,
das glückliche Ende in der Regel durch eine Hochzeit. Nein, so
einfach ist es nicht, wie Hektor Haarkötter in seiner Studie
über das Enden literarischer Texte überzeugend
darlegt. Denn im Grunde bleibt das Ende, selbst wenn es sich um ein
ganz explizit formuliertes Ende handelt, immer offen. Eine jede
Geschichte ist demnach also eine unendliche Geschichte. Offen
für Fortspinnungen aller Art, die in die unterschiedlichsten
Richtungen laufen können.
Um nun eines voraus zu schicken: der in der literaturwissenschaftlichen
Terminologie nicht so bewanderte Leser wird vermutlich einige
Mühe haben, dem Argumentationsgang des Autors zu folgen, er
wird vielleicht sogar versucht sein, das Buch entnervt beiseite zu
legen, nachdem er beispielsweise zwischen Begriffen wie Hypertexten,
Hypotexten, Paratexten, Metatexten, Architexten, Pseudotexten,
Nicht-Texten, Textoiden, Mimotexten, Pseudohypotexten sowie anderen
Textformen differenzieren soll oder mit Sätzen konfrontiert
wird wie: "Nicht nur die transtextuellen Referenzen haben
Einfluss auf die Verstehensbedingungen des narrativen Diskurses,
sondern umgekehrt strahlen die Ambiguitäten und Polysemien der
Diegese des Romans aus auf die heterodiegetischen, und
konsequenterweise ebenso auf die transtextuellen, Elemente des Romans."
Spätestens aber nach dem dritten oder vierten Kapitel sollte
es auch für den Nicht-Literaturwissenschaftler
verständlicher werden, so erging es jedenfalls mir, vielleicht
lag es aber zum Teil auch daran, dass ich mich bis dahin in die
wissenschaftliche Argumentationsweise des Autors "eingelesen" hatte.
Ich möchte dem am Thema interessierten Laien auch vorschlagen,
das Schlusskapitel als erstes zu lesen, den Gaul, der uns zum Verstehen
führen soll, also von hinten aufzuzäumen, denn im
Schlusskapitel gibt Haarkötter noch einmal einen
allgemeinverständlichen Überblick über den
Stoff, der in den vorangegangenen Kapiteln behandelt wurde. Man
könnte den Schluss also quasi auch als
Einführungstext lesen, der Einstieg in das Thema wird so in
jedem Fall erleichtert.
Die Texte, die Haarkötter exemplarisch für seine
voluminöse Studie herangezogen hat, sind Kleists "Michael
Kohlhaas", Jean Pauls "Siebenkäs",
Kafkas "Proceß", ein paar ausgewählte Heftromane aus
der "Jerry Cotton"-Reihe sowie zum Schluss noch einige moderne
Computer-Texte, digitale Literatur also, die dann die Fragestellung
nach dem Ende der Literatur an sich aufwerfen.
Anhand des "Michael
Kohlhaas" von Heinrich von Kleist wird zunächst das
peripetetische Ende in der Literatur beleuchtet. (Peripetie bezeichnet
einen Wendepunkt, eine Art Weichenstellung, die die Handlung in eine
neue Richtung lenkt. Und so gesehen stellt jede Peripetie im Text auch
ein mögliches Ende dar. "Das tatsächliche
Ende der Erzählung", schreibt Haarkötter, "könnte
als eine weitere, aber besonders ausgezeichnete Peripetie angesehen
werden: es ist die letzte, nach der nichts mehr folgen sollte."
Der Autor schreibt "sollte", weil er den Begriff der Notwendigkeit
dabei in Frage stellen möchte.
Als ein elliptisches Ende (Ellipse = Aussparung, Mangel, Satztorso,
unvollständige Aussage etc.) definiert Haarkötter den
Schluss des "Siebenkäs"-Romans von Jean Paul. "Von
dem Roman Siebenkäs lässt sich durchaus sagen, dass
er kein Ende hat." Die Digressionen im "Siebenkäs",
die für Jean Pauls Werke so typisch sind, erschweren dazu noch
eine hermeneutische Herangehensweise an den Text und sein nicht
endendes Ende. Haarkötter verweist in dem Zusammenhang auch
auf den Gesamtbau des Jean Paulschen Werkes, dass nämlich der
"Siebenkäs" sowohl mit den vorangegangenen Werken als auch mit
den nachfolgenden in mehr oder weniger enger Beziehung steht. Er
bezeichnet diesen Gesamtbau als Jean Pauls Biblioversum.
"Fragmentarisches Ende: Kafkas 'Proceß' als
Nichtverstehens-Prozess" lautet die Überschrift des
vierten Kapitels. In diesem Werk
Franz
Kafkas begegnet einem die Metaphorik des Nicht-Endens auf
Schritt und Tritt, so Haarkötter. Und 'Nicht
schließen können' wird zum Wesensmerkmal moderner
Kunst überhaupt, schreibt er, indem er seine Betrachtungen
über den Tellerrand der Literatur hinaus auch in andere
Bereiche ausdehnt. Abschließend stellt er dann die Frage,
welche Strategien des Endens für Werke fragmentarischen
Charakters bezeichnend sind und wie sich das alles auf den
Verstehensprozess seitens des Rezipienten auswirkt. Gegen Ende des
Kapitels liefert uns der Autor noch eine exakte Definition des
fragmentarischen Endes: "Der Terminus soll zum Ausdruck
bringen, dass der Text, wofern er ein Fragment ist, als Torso zu
betrachten wäre, sofern er aber als Totalität
betrachtet wird, eine Ruine bleibt."
Entweder Torso oder Ruine, eine Option, die laut Haarkötter
für jeden literarischen Text gilt, weil es eben kein
verlässliches Kriterium dafür gibt, wann ein Text als
fertig bezeichnet werden kann.
Auch in der Lösung des Kriminalfalles sieht Hektor
Haarkötter eine Dimension des nicht endenden Endes, vor allem
dann, wenn es sich um einen Serienkrimi handelt, wie beispielsweise bei
dem unverwüstlichen, ewig jungen Jerry Cotton, dessen
Abenteuer Haarkötter hier zum Gegenstand seiner Untersuchung
macht. Er gelangt dabei zu dem Schluss, dass die Folgen der Serie
Fortschreibungen sind, aber beileibe keine Fortsetzungen, dass es keine
Entwicklungen gibt, dass dieselbe Geschichte im Grunde immer wieder neu
erzählt wird. Und auch dieses serielle Ende in den Heftromanen
ist für ihn letzten Endes ein elliptisches.
Im sechsten Kapitel geht es um die Veränderungen in unserer
Medienlandschaft und deren mögliche Auswirkungen auf die
Literatur. "Maschinelles Ende: Digitales Schreiben und das
Ende der Literatur." Dadaismus und Surrealismus hatten schon
einiges von dem vorweggenommen, was heutzutage unter Begriffen wie
'Automatisches Schreiben' und ähnlichem verstanden wird. Heute
werden sogar Texte (zumeist Lyrik), aber auch sogenannte
postmodernistische Essays aus vorgegebenen Wortlisten generiert und
dieser "höhere Blödsinn", wie
Haarkötter es nennt, wird von vorsätzlich hinters
Licht geführten Redakteuren und Verlagslektoren
tatsächlich zur Veröffentlichung angenommen und
gedruckt im Glauben, ein Autor wäre Urheber dieser Texte
gewesen. Sogar Literaturpreise sind damit schon eingeheimst worden!
Haarkötter kommt zum abschließenden Fazit, dass es
kaum wahrscheinlich ist, dass intelligente Maschinen dem Menschen in
absehbarer Zeit seine Kreativität streitig machen
können und dass von daher auch noch kein Ende der Literatur in
Sicht ist.
Wie bereits erwähnt, gibt das Schlusskapitel noch einmal eine
geraffte Darstellung dessen, was Hektor Haarkötter zu dem
vielschichtigen Phänomen nicht endender Enden, zu
Erzähltheorie, Hermeneutik und Medientheorie zu sagen hat,
einer Vielschichtigkeit, die der Autor mit großer Finesse und
Liebe zum Detail vor seinen Lesern aufgefächert hat. Und er
unternimmt auch hin und wieder Abstecher zu verwandten Themen, die am
Rande liegen, buchstäblich verstanden sogar bei der
Marginalisierung von Texten. Sehr interessant sind seine
Ausführungen über die Hermeneutik oder auch
über die Editionspraxis, über Eschatologie,
Apokalypse und vieles mehr. Ziemlich ausführlich abgehandelt
wird der Gebrauch und die Funktion der Fußnote.
Haarkötter selbst hat auch sein eigenes Werk
gründlich mit Fußnoten versehen, was
natürlich als Indiz für die akribische Arbeit gelten
kann, die er sich auferlegt hat. Darauf weist auch das mit 37 Seiten
sehr umfangreiche Literaturverzeichnis am Ende des Bandes hin.
Für den interessierten Laien wäre ein Glossar, das
die wichtigsten und am häufigsten benutzten Fachbegriffe
erklärt, sicher wünschenswert gewesen, aber
Zielgruppe des Buches sind wohl ausschließlich Germanisten
und Literaturwissenschaftler. Ich empfand die Lektüre als sehr
anregend und interessant, auch wenn es nicht immer ganz leicht war, dem
Argumentationsgang des Autors in allen Einzelheiten zu folgen.
(Werner Fletcher; 02/2007)
Hektor
Haarkötter: "Nicht-Endende Enden. Dimensionen eines
literarischen Phänomens"
Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe
Literaturwissenschaft
Königshausen & Neumann, 2007. 388 Seiten.
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Micha Hektor Haarkötter hat in Rom, Düsseldorf und Göttingen Deutsche Philologie, Philosophie, Geschichte, Soziologie und Theologie studiert. Er lebt als Fernsehjournalist und Freier Autor in Köln, ist Lehrbeauftragter an der Bergischen Universität Wuppertal und hat als Musiker den Kölner "Immigrantenstadl" gegründet.