William Nicholson: "Die Gesellschaft der Anderen"
Um sich dem Druck und den Erwartungen seiner Familie und dem wachsenden Unverständnis über seine mangelnden Ambitionen zu entziehen, lässt ein namenloser junger Mann über Nacht sein bisheriges Leben hinter sich.
Die
Lethargie
Den Namen des Erzählers erfahren wir nicht in William
Nicholsons Roman "Die Gesellschaft der Anderen" denn "Wenn ihr einen
Namen wollt, nehmt euren eigenen." Und auch, wie alt er ist, kann nur
geschätzt werden, denn als einzigen Anhaltspunkt erfahren wir,
dass er gerade das College abgeschlossen hat.
Der Erzähler gehört nicht gerade zu den Menschen, die
man als Quelle ständiger Freude bezeichnen würde.
Sein Lebensmotto lautet: "Das Leben ist hart. Dann stirbt man." Damit
es für ihn nicht allzu hart wird, sieht sein Lebensplan
folgendermaßen aus: "Ich bin dabei, mich um keine Jobs zu
bewerben ..."
Sein Tagesablauf besteht darin, sich in seinem Zimmer
einzuschließen und nichts zu tun außer gelegentlich
seine Grundbedürfnisse nach Essen, Schlaf etc. zu befriedigen.
Menschen, die ein gesellschaftskonformes Leben führen, sind
für ihn wie Fische: "Fische schwimmen den ganzen Tag herum und
suchen Futter, das ihnen die nötige Energie gibt, den ganzen
Tag herum zu schwimmen. Wie blöd kann man werden?"
Wer sich so äußert, kann nur ein großer
Zyniker, Nihilist und Misanthrop - oder mitten in der Pubertät
sein. Doch mitnichten! Denn versteckt zwischen weiteren Plagiaten und
abgeklärt-vernichtenden Aussagen findet sich die wahre
Begründung für die selbst gewählte
Einsiedelei: " Die große, weite Welt ist ... unnahbar,
unvorhersehbar, desinteressiert, gefährlich und ungerecht."
Keine Einsiedelei, sondern ein vor den Gefahren der Welt
schützender Kokon ist sein Zimmer. Hier drohen ihm keine
Gefahren, hier ist alles vorhersehbar, hier steht er als schwarzes
Schaf der Familie im Mittelpunkt des Haushaltes, und hier ist er
ungerecht zur Welt - und nicht die Welt zu ihm.
Der Aufbruch
Seine geschiedenen Eltern haben häufigen und herzlichen
Kontakt, und auch die neue, viel jüngere Frau des Vaters hat
wohlwollende Aufnahme in den Kreis der Familie gefunden.
Anlässlich der Geburt seines Stiefbruders erfolgt einer dieser
Besuche, und auch der Erzähler will das Kind "im
völlig neutralen Geiste des Mit-dem-Strom-Schwimmens"
begrüßen. Doch es trifft ihn wie ein Schock, als die
"dunklen, weit offenen Augen" voller Hass zu ihm hinaufstarren. Tief im
Inneren spürt er, dass er nun einen Konkurrenten hat, gegen
den er nicht gewinnen kann - das Neugeborene.
Wieder in seinem Zimmer, beobachtet er, wie er von einer Taube
beobachtet wird, die plötzlich losfliegt, mit voller Wucht
gegen die Fensterscheibe seines Zimmers prallt und wie tot liegen
bleibt. Erschreckt öffnet er das Fenster, nimmt die Taube in
die Hand. Doch wie durch ein Wunder regt sie sich, sprengt kraftvoll
seine Hand, steigt in den Himmel und verschwindet in der Ferne.
Das Zusammenwirken beider Ereignisse löst im Erzähler
eine Initialzündung aus; er beschließt, noch am
nächsten Morgen aufzubrechen; als Tramper mit leichtem
Gepäck will er in das Gefährt des Erstbesten
einsteigen, der hält - egal wo dieser hinfährt. Das
Schicksal soll entscheiden.
Mein Vater wäre stolz auf mich
Ab hier wird aus dem Zerrbild eines englischen Jugendlichen ein
Abenteuer-, Polit-, Kriminal- und Entwicklungsroman. Seine Reise
führt ihn in eine osteuropäische Dystropie
(wechselseitige negative Beeinflussung von Krankheiten), und schnell
vergeht ihm jedweder Zynismus; selbst das Leben als Fisch erscheint ihm
nun äußerst erstrebenswert. Sein
Jakobsweg kann
dabei nicht von ihm beeinflusst werden. Immer wenn er glaubt, alles im
Griff zu haben, muss er feststellen, dass ein Anderer die
Fäden gezogen hat, an denen er wie eine Marionette
hängt. Doch innerhalb dieser Grenzen sind seiner Entwicklung
keine Grenzen gesetzt. Er lernt sie schätzen, "Die
Gesellschaft der Anderen"; ihre Uneigennützigkeit und
Hilfsbereitschaft selbst unter widrigsten Umständen; ihre
Freude an Kleinigkeiten und ihre Liebe zu Religion sowie englischer
Lyrik. Er beginnt sein bisheriges Leben in Frage zu stellen und kommt
somit zu den großen Fragen des Lebens wie beispielsweise:
"Gibt es einen Gott" oder "Was ist der Sinn des Lebens".
Natürlich werden diese im Roman nicht beantwortet, sondern nur
von unterschiedlichen Warten aus beleuchtet. Dass die ernsten Themen
nicht überhand nehmen, ist natürlich auch das
Verdienst William Nicholsons, der auch als erfolgreicher Drehbuchautor
tätig ist und u. a. das Drehbuch zu "Gladiator"
schrieb. Er weiß ganz genau, wie lange er den Spannungsbogen
ziehen kann, um den Leser bei der Stange zu halten. Punktgenau
unterbricht er mit gelungenen Pointen atemberaubende Szenen, nur um
nach der kurzen Unterbrechung mit weiteren, atemberaubenden Szenen
fortzufahren. Und hier kommen wir zum einzigen Kritikpunkt, den der
Roman aufzuweisen hat: Stellenweise wirken die Szenen wie für
ein Drehbuch geschrieben. Dies stört weniger den
Handlungsverlauf, noch beeinträchtigt es die
glaubwürdige Weiterentwicklung des Protagonisten, als dass es
gelegentlich etwas aufgesetzt wirkt. Doch wenn es zu einer Verfilmung
käme, kann man nur hoffen, dass Robert Rodriguez auf dem Regiestuhl Platz nimmt.
(Wolfgang Haan; 08/2006)
William
Nicholson: "Die Gesellschaft der Anderen"
(Originaltitel "The Society of Others")
Deutsch von Bernhard Robben.
Eichborn, 2006.
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William Nicholson, 1948 in England geboren und streng katholisch erzogen, hat zahlreiche Drehbücher geschrieben und Regie geführt. Außerdem hat er Dokumentarfilme gedreht. "Die Gesellschaft der Anderen" ist sein erster Roman.