Eshkol Nevo: "Vier Häuser und eine Sehnsucht"
Dieses
Romandebüt von Eshkol Nevo, einem 1971 in Jerusalem geborenen
Israeli, hat nicht ohne Grund nach seinem Erscheinen in Israel bei der
Kritik und bei einer großen Leserschar erhebliches Aufsehen
erregt. Es erzählt die Geschichte und den Alltag einiger
Menschen, und es gelingt ihm, mit diesen wenigen, sicher nicht
repräsentativen Figuren, ein Gesellschaftsbild en miniature zu
malen; ein Bild einer zerrissenen Gesellschaft, die um ihr
Überleben kämpft, die sich andauernd mit schweren,
traumatischen und sich der Gegenwart permanent in den Weg stellenden
Vergangenheiten konfrontiert sieht, und die dennoch von einer Sehnsucht
durchzogen ist, welche die Menschen am Leben hält und sie die
Hoffnung nicht verlieren lässt.
Eshkol Nevo platziert die Geschichte um den für die
israelische Gesellschaft traumatischen Attentatstod von Premierminister
Rabin am 5. November 1995. Mit diesem Mann und mit seiner Politik
verbanden sich für
Juden und Palästinenser
Hoffnungen, die nach seinem Tod jäh zerstoben scheinen.
Der Ort, wo Nevos Figuren leben, heißt Castel und ist ein
Vorort von Jerusalem. Da ist das eine Haus, ein Haus mit Geschichte,
wie wir später sehen werden; es wird bewohnt auf der einen
Seite von Mosche und Sima, und auf der anderen Seite von dem
Studentenpaar Noa und Amir. Beide Wohnungen sind akustisch miteinander
verbunden, was manches Mal zu delikaten Situationen führt und
die beiden Paare am Leben des jeweils anderen notgedrungen teilhaben
lässt. Denn in einer Wand, welche die beiden Wohnungen
voneinander trennt, ist ein kleines Loch, damit man von beiden Seiten
an den wichtigen Hebel für das warme Wasser herankommt.
Über Mosche und Sima wohnen deren Eltern, aus Kurdistan
stammende Juden, die ihrer ehemaligen Heimat und den dortigen Sprach-
und Lebensgewohnheiten noch sehr verbunden sind.
Nevo beschreibt auf faszinierende und sehr einfühlsame Weise
die Beziehungen dieser Paare: ihre innerpartnerschaftlichen Probleme
und ihre unterschiedlichen Begegnungen miteinander. Sima und Noa
freunden sich an und erzählen sich viel voneinander. Dabei
erfährt der Leser, dass Mosche, dessen Bruder, ein orthodoxer
Rabbiner, auch gelegentlich auftaucht, zu Simas Leidwesen immer frommer
wird und die gemeinsame Tochter unbedingt in einen orthodoxen
Kindergarten bringen will. War Noas und Amirs Beziehung zu Beginn noch
geprägt von heftiger Leidenschaft, erlebt vor allem Noa das
erste Zusammenleben mit einem Mann als beengend und will ausbrechen.
Im Haus gegenüber wohnt eine Familie, deren Sohn Gidi
im
Libanon gefallen ist, und in der sich alles um dieses furchtbare
Unglück dreht. Gidis kleiner Bruder Jotam freundet sich mit
Amir an, der für den Jungen richtig väterliche
Gefühle entwickelt.
Und da ist noch Ssadeq, ein älterer Palästinenser,
der auf einer Baustelle im Viertel arbeitet und einen
Schlüssel zu Mosches und Simas Haus besitzt. Denn vor 1948
gehörte es seiner Familie, und er muss für seine alte
Mutter unbedingt etwas aus dem Haus holen ...
Nevo schildert all diese Figuren, die abwechselnd in der Ich-Form
sprechen, mit einer Sprache von eigentümlicher
Schönheit, geprägt von großem Respekt vor
seinen Figuren sowie ihren jeweiligen Leiden und Sehnsüchten.
Eine Erzählerstimme, die er im Rhythmus fünfhebiger
Trochäen sprechen lässt, führt uns durch
wesentliche Teile dieses sehr empfehlenswerten Buchs. Diese von Anne
Birkenhauer genial ins Deutsche übertragenen Verse sind ein
wahrer Lesegenuss.
Und so lässt Nevo mit nur wenigen Stimmen ein Klangbild
entstehen, das uns ein jüdisch-palästinensisches
Universum zeigt, voller Leiden, Nöten, aber auch voller
Leidenschaft und Sehnsucht.
Mit diesem Buch hat sich eine neue Stimme aus Israel gemeldet, von der
man hoffentlich noch mehr hören wird.
(Winfried Stanzick; 02/2007)
Eshkol
Nevo: "Vier Häuser und eine Sehnsucht"
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer.
dtv premium, 2007. 436 Seiten.
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