Håkan Nesser: "Der Schatten und der Regen"
Frischer Wind in Kumla
Krimis leben oft von
ihren Heldenfiguren. Wer es geschafft hat, eine solche erfolgreich aufzubauen
und in den Köpfen und Herzen einer breiten Leserschaft zu etablieren, darf sich
glücklich schätzen.
Håkan
Nessers ebenso liebenswürdiger, wie zerrütteter Inspektor Van Veeteren war eine
solche Gestalt, die einen berühren und beschäftigen konnte: unstet, ungesund,
Unmengen Bier trinkend,
warmherzig und ungeschickt: jemand, den man ins Herz schließen, und auf
den man sich wochenlang freuen konnte. Ohne zu übertreiben, darf man ihm Kultstatus
zuschreiben.
Wer zudem weiß, dass der Autor für seine Kriminalromane mit eben diesem
Kommissar zahlreiche Preise entgegen nehmen durfte, und dass einige dieser Geschichten
erfolgreich verfilmt wurden, nimmt umso erstaunter zur Kenntnis, dass sich Nesser
vor einem Jahr von seinem Protagonisten getrennt und sich entschlossen hat,
mutig neue Wege zu beschreiten.
Mit "Der
Schatten und
der Regen", erschienen im August dieses Jahres im btb-Verlag, legt Håkan
Nesser nun ein erstes Zeugnis neuer Inspiration vor.
Rund um den Mord an einer jungen Frau baut er eine eindringliche Dorfgeschichte,
die wohl in den sechziger Jahren angesiedelt ist, die sich aber ebenso gut in
der Anonymität der heutigen Zeit, irgendwo in den Milieus der Außenseiter
und Unangepassten, abspielen könnte.
Nesser erzählt aus
verschiedenen Perspektiven: Im ersten Teil nähert er sich in der Person des
scheinbar unbeteiligten David der dunklen Vergangenheit an. Ganz behutsam nimmt
er den Leser mit in eine erschütternde Geschichte, die sich vor rund dreißig
Jahren im Dorf abgespielt hat, und in deren Mittelpunkt der hoch begabte und
stumme Waisenjunge Viktor steht. Viktor wurde des Mordes an seiner Freundin
verdächtigt, und ist seit jener Zeit verschollen. Plötzlich taucht der für tot
Gehaltene im Dorf auf, und die Menschen, die damals Zeugen erschütternder Ereignisse
waren, halten ihren Atem an.
An dieser Stelle ändert der Autor seine Perspektive, und die Geschichte beginnt
aus anderer Sicht nochmals von vorn. Was auf den ersten Blick überrascht, entwickelt
sich zum atemberaubenden Lesevergnügen. Die vor kurzem noch beschauliche Szene
wird zum Kriminalroman, die unerwarteten Entwicklungen faszinieren und nehmen
gefangen!
Nesser erzählt keine heiteren Geschichten, früher nicht, und auch jetzt nicht.
Im Gegenteil: Er akzentuiert die einsamen und tragischen Momente in den einzelnen
Biografien, er malt die Schwere und die Hoffnungslosigkeit noch detaillierter
aus, und in manchem Kapitel wird man förmlich in die Untiefen menschlicher Bedrängnis
mit hinein genommen. Bemerkenswert, wie der Autor dabei die Grenzen zwischen
Ironie und Zynismus sorgfältig auslotet, und wie viel glaubwürdige Sensibilität
er im Nachempfinden und Darstellen menschlicher Gefühle und Gedanken einbringt.
Damit hat sein Stil merklich an psychologischer Tiefe gewonnen, jegliche unangenehme
Oberflächlichkeit, wie man sie ab und an in einem seiner Bücher wahrzunehmen
glaubte, ist verschwunden.
In diesem Sinne dürfen wir befriedigt bilanzieren: Es bläst ein frischer Wind in Kumla, und er möge kräftig weiter wehen!
(André Kesper; 11/2005)
Håkan
Nesser: "Der
Schatten und der Regen"
(Originaltitel: "Skuggorna och regnet")
Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt,
btb, August 2005
gebunden, 380 Seiten, ISBN 3442751462
Buch bei amazon.de bestellen