Håkan Nesser: "Und Piccadilly Circus liegt nicht in Kumla"
Viel später beginnt Nessers Roman "Und
Piccadilly Circus liegt nicht in Kumla". Viel später blickt Mauritz zurück und
erzählt die Geschichte. Die Geschichte, die sich im Jahr 1967 ereignet hat. In
jenem heißen Sommer, der vor dem Februar lag, in dem die Kirche
abbrannte.
Im Sommer 1967 ist Mauritz 17 Jahre alt und besucht das
Gymnasium im nahegelegenen Hallsberg. Er träumt von der weiten Welt, die er
eines Tages kennen lernen will, von London oder zumindest Stockholm, aber vor
allem von einem, von Signhild. Signhild, auch 17 Jahre alt, wohnt im Haus
gegenüber.
An jenem eigentlich ereignislosen Tag im Vorsommer 1967 sieht
Mauritz Signhilds Mutter mit einem fremden Mann im Auto sitzen. Auch wenn er
sich darüber wundert, beschäftigt er sich nicht weiter damit. Seine Gedanken
drehen sich mehr (wenn auch nicht viel mehr) um das zu Ende gehende Schuljahr
und um den Sommerjob, den er zusammen mit seinem Freund Ellosson angenommen
hat.
In diesem Sommer soll allerdings viel mehr geschehen, und Mauritz
wird erwachsen werden. An einem heißen Sommertag, als Mauritz' Onkel gerade zu
Besuch ist, stürmt Signhild schreiend aus dem Nachbarhaus. Sie hat ihren Vater,
den Uhrmacher Kekkonen, tot in seinem Bett gefunden. Ein unbekannter Täter hat
ihn geköpft.
Da die polizeilichen Ermittlungen seiner Meinung nichts
bringen, beginnt Mauritz selbst zu ermitteln. Dass er sich dadurch eigentlich
nur Ärger einhandelt und der Polizei nicht wirklich hilft, stört ihn nicht. Denn
all seine Gedanken kreisen nur um Signhild, die nicht wirklich um ihren Vater
trauert, deren Mutter allerdings von einem anderen Mann ein Kind
erwartet.
Signhild wird mit der Situation nicht fertig. Sie kann es nicht
ertragen, dass über sie im ganzen Dorf getratscht wird, und der Psychologe, dem
sie sich anvertraut, kann ihr eigentlich auch nicht weiterhelfen. So kommt es,
dass sie sich in ihrer Verzweiflung immer mehr an Mauritz wendet und schließlich
sogar in das ehemalige Zimmer seiner Schwester einzieht.
Mauritz' Träume scheinen in Erfüllung zu gehen, als er mit Signhild unter einem
Dach lebt. Die beiden verlieben sich immer mehr ineinander und schlafen schließlich
zum ersten Mal miteinander. Doch Signhild kann mit der Situation nicht umgehen
und verschwindet eines Tages. Niemand scheint Mauritz sagen zu wollen, wohin,
und so scheint die Geschichte schließlich auch zu enden.
Signhilds Schwester
Maria wird geboren, Mauritz macht seine Matura, der Mörder von Signhilds Vater
wird nie gefasst.
Viel später unternimmt Mauritz wieder eine Reise nach
Kumla. Er wird mit den Erlebnissen seiner
Jugend konfrontiert und erfährt
schließlich doch noch, wer Signhilds Vater ermordet hat. Signhild wird er nie
wieder sehen.
Im ersten Moment mag es erscheinen, als sei Nessers "Und
Piccadilly Circus liegt nicht in Kumla" nicht viel mehr als die Geschichte einer
unglücklichen Jugendliebe. Beim Lesen erkennt man aber, dass hinter Nessers
neuem Roman viel mehr steckt.
Gekonnt und liebevoll-detailliert beschreibt
der Autor die einzelnen Charaktere und erlaubt dem Leser einen Blick in die
Seele eines sich zum Erwachsenen entwickelnden Jungen.
Mauritz ist ein
siebzehnjähriger Schüler, der an sehr kurzen epileptischen Anfällen leidet. Er
lebt mit seiner Mutter, die eine sehr eigentümliche Art zu sprechen hat, und
seinem Vater, einem Journalisten, in Kumla. Seine Schwester ist gerade dabei,
sich mit einem jungen Polizisten zu verloben, und so hofft Mauritz, dass er ihr
großes Zimmer mit Balkon "erben" wird. Seine Gedanken kreisen um Musik und um
Signhild, das Nachbarsmädchen, das er kennt seit sie beide 10 Jahre alt waren.
Der Mord bringt sein Leben weniger durcheinander als seine Angst, Signhild zu
verlieren und sein Bedürfnis, bei ihr zu sein.
Mauritz' eigene Ermittlungen
haben einzig und allein den Sinn, Signhild zu helfen und so ihre Zuneigung zu
gewinnen. Als er Signhild schließlich doch verliert, scheint seine Welt zusammen
zu brechen.
In "Und Piccadilly Circus liegt nicht in Kumla" beschreibt
Nesser das Leben zweier Familien, das durch einen unerklärlichen Mord komplett
verändert wird. Denn auch wenn eigentlich niemand Signhilds Vater mochte, so ist
doch jeder über die grausame Tat erschüttert.
Aber Nesser schildert auch eine
Zeit. Eine Zeit, in der sich vieles verändert hat. Nicht nur in dem kleinen Ort
Kumla, sondern überall auf der Welt. Eine Zeit, in der es noch unvorstellbar
war, dass eine verheiratete Frau ein Verhältnis mit einem anderen Mann hat. Eine
Tatsache, die schließlich mit der Grund für den Tod von Kalevi Oskari Kekkonen
war.
Der doch recht eigenwillige Titel "Und Piccadilly Circus liegt nicht in Kumla"
beschreibt die Situation, in der sich der Erzähler befindet ziemlich genau.
Mauritz träumt von der weiten Welt; vor allem
von London
und somit auch vom Piccadilly Circus. Aber trotz allem lebt er in Kumla, einem
kleinen verschlafenen Dorf, in dem man zwar von den Dingen hört, die sich in
der Welt tun, das aber trotz allem still zu stehen scheint, und in dem der Piccadilly
Circus ganz sicher nicht liegt.
Mir hat der neue Roman von Nesser gut
gefallen, wenngleich er auch nicht an "Kim Novak badete nie im See von
Genezareth" heranreicht. Trotz der grausamen Tat, die sich ereignet hat, und
trotz der großen Entwicklung, die Signhild und vor allem der Erzähler
durchlaufen, gelingt es Nesser diesmal leider nicht, eine durchgehende Spannung
aufzubauen. Dies liegt vielleicht auch daran, dass es relativ lange dauert, bis
wirklich etwas passiert und die Geschichte ins Rollen geraten
kann.
Überzeugend ist vor allem der Schluss, der sehr an jenen von "Kim
Novak badete nie im See von Genezareth" erinnert. Auch hier erfährt der Erzähler
sozusagen in letzter Sekunde, was sich vor Jahren wirklich ereignet hat und wer
der Täter war.
In Nessers Roman kommt es nicht sehr auf die Ergreifung
eines Täters an, sondern es geht viel mehr darum, Personen und ihre Situationen
kennen zu lernen und diese schließlich und endlich auch zu verstehen. Dass der
Täter nie für seine Taten im herkömmlichen Sinn bestraft werden wird ist
nebensächlich, denn eigentlich ist der Mord nur eine Nebensache, die die anderen
Ereignisse auslöst.
Trotz allem kann ich das Buch allen nur empfehlen.
Denn auch wenn es "Kim Novak badete nie im See von Genezareth" nicht toppen
kann, so ist es doch ein gelungenes Buch, das es sich zu lesen lohnt.
(Anna Mehlmann; 03/2004)
Håkan
Nesser: "Und Piccadilly Circus liegt nicht in Kumla"
(Originaltitel "Och Picadilly Circus ligger inte i Kumla")
Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt.
btb, 2004. 336 Seiten.
ISBN 3-442-75094-6.
ca. EUR 21,90.
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Ergänzender Buchtipp:
"Barins Dreieck"
In "Barins Dreieck" erzählt Nesser von drei Männern, die plötzlich und unerwartet
mit drei Morden konfrontiert werden: ein verwitweter Übersetzer, ein verunsicherter
Psychotherapeut und ein Lehrer kurz vor dem Nervenzusammenbruch. Was verbindet
die drei? Bilden sie sich die
Morde
etwa nur ein? "Barins Dreieck" ist ein Buch, das einem den Schauer über den
Rücken jagt. Ein ungewöhnlicher Kriminalroman, der Nervenkitzel und Spannung
bietet bis zum Schluss.
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