Jan Neruda: "Die Hunde von Konstantinopel"
Reisebilder
Prag
als Maß der Städte
Der tschechische Journalist und Schriftsteller Jan Neruda (1834-1891)
reiste von 1862 bis 1875 durch Europa und den
Nahen Osten und schrieb
Reisebilder über Paris, Triest, Neapel, München,
Berlin, Hamburg, Wien, Graz, Budapest, Bukarest, Athen, Konstantinopel,
Kairo, Jerusalem und Judäa und auch über die
westböhmischen Badeorte Teplitz, Karlsbad, Franzensbad und
Marienbad.
Seine impressionistischen Reisebilder leben von detaillierter Kenntnis
der besuchten Orte und ihrer Geschichte, besonders aber von der
einfühlsamen und doch präzisen Beobachtung der
Menschen. Dabei zeigt sich auch Nerudas Sprachentalent: der Mitarbeiter
von deutschsprachigen und tschechischen Zeitungen belauschte die
Menschen in den Straßen und auf Märkten und stellte
dabei vor rund 140 Jahren eine erstaunenswerte Sprachenvielfalt fest.
Als einer, der sich besonders der tschechischen Wiedergeburt und seinen
vaterländischen Lesern verpflichtet fühlt, berichtet
er aus jedem Ort auch über die Lage der Slawen, besonders der
Böhmen, und nimmt überall einen nationalen Standpunkt
ein, manchmal nicht ohne Selbstironie:
Ja, um es nicht zu vergessen, der Stephansturm ist vollendet. Es ist
ein imposanter, ein schöner Bau, eine herrliche Blüte
der Kunst. [...] Der Stephansturm ist das einzige, was ich als Tscheche
und Ausländer vom heutigen Wien gelten lassen würde -
doch ich zähle zur Opposition. (Seite 23)
So verwundert auch der stete Vergleich mit Prag nicht; das
Münchener Bier wird mit den geschmacklichen Erfahrungen aus
Prager Bierstuben gekostet, der Verlauf der Mur in Graz dem der
Moldau
gegenübergestellt und der Ölberg in Jerusalem gar mit
dem Prager Laurenziberg verglichen.
Mit seinem zweiten Augenmerk verpflichtet er sich der
männlichen Leserschaft. Unter den Menschen der besuchten
Städte fallen ihm insbesondere die Damen auf und unter diesen
vor allem die eleganten und die käuflichen. Beiden widmet er
interessierte und bildhafte Textpassagen, die manche journalistischen
Nachfolger Jan Nerudas heute wohl durch illustrative Fotos ersetzen
würden.
Diese Reiseberichte sind heute ein interessantes Zeugnis über
das Leben und die zeitgenössische Gesellschaft des
19.Jahrhunderts. Damals, als das Reisen als großes Privileg
galt und Zeitungen und Zeitschriften mit weit weniger Bildmaterial
auskommen mussten, stillte er als einer der populärsten
tschechischen Schriftsteller seiner Epoche bei seinen zahlreichen Leser
Neugier und Fernweh, beides mit Erfolg.
Schade ist nur die Inkonsequenz bei der Verwendung von Ortsnamen.
Vermutlich verwendete Neruda im Zweifelsfall slawische Varianten; wo
diese heute ungebräuchlich sind, hätte eine
Fußnote ausgereicht, um die Reisen auch auf heutigen
Landkarten nachvollziehen zu können. Nabrežina
und Opčina bei Triest sind heute eher als Aurisina und
Opicina bekannt; Koper liegt heute in Slowenien und wird vor allem mit
diesem slowenischen Namen genannt; im Buch finden sich auch das
kroatische Kopar und das italienische Capodistria, ohne dass deutlich
wird, dass es sich um dieselbe Stadt handelt. Noch komplizierter wird
es dann nur mit der Transkription der Namen
im heutigen Israel und
Palästina. Aber vielleicht gibt es bei einer Reise durch
Judäa wichtigeres als Ortsnamen:
Wir reiten stumm weiter, in der linken Hand die Zügel, die
rechte auf dem Revolver. Hier wird Christus angeblich einmal den
Antichrist besiegen, vorerst würden ein paar Patrouillen aber
nicht schaden.
"Ist es gefährlich?" fragen wir.
"Eher nicht, Sie müssen nur beisammen bleiben und, wenn sie
kommen, schießen, hier ist es noch gut wenn man
schießt, man kann sich noch erwehren, hinter Jerusalem
lässt man sich besser ausrauben." (Seite 142)
(Wolfgang Moser; 03/2007)
Jan
Neruda: "Die Hunde von Konstantinopel"
Übersetzung, Auswahl und Nachwort: Christa Rothmeier.
DVA "Die
Tschechische Bibliothek", 2007. 370 Seiten.
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Jan
Neruda wurde am 9. Juli 1834 in Prag geboren, wo er am 22. August 1891
starb.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Kleinseitner Geschichten - Eine Woche in einem stillen Hause"
Jan Nerudas erstmals im Jahr 1878 veröffentlichte
Jugenderinnerungen "Kleinseitner Geschichten" führen das
Lesepublikum zurück in die erste Hälfte des 19.
Jahrhunderts. Die Prager Kleinseite war damals ein verträumter
Stadtteil mit engen und krummen Gassen, ineinander verschachtelten
Adelspalästen, Kirchen und abends nur schwach von Laternen
erleuchteten Häusern.
In diesem, im Wesentlichen bis heute unveränderten, Milieu
begegnete Neruda jenen Originalen aus dem einfachen Volk, denen er
schließlich mit dem vorliegenden Werk ein unvergleichliches
literarisches Denkmal setzte. Darunter sind die um die Zukunft ihrer
Tochter besorgte Frau Lakmus, der alternde Junggeselle Doktor Loukot,
der hoffnungsvolle Dichter Bavor, die Fräulein Mathilde,
Clara, Marie u. v. a. (Vitalis-Verlag)
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