Ruth Omphalius: "Der Neandertaler"

Neues von einem entfernten Verwandten


"Was der Mensch sei, sagt ihm nur die Geschichte." (Wilhelm Dilthey)

In der Wissenschaftsreportage "Der Neandertaler" präsentiert Ruth Omphalius Ergebnisse aus zahlreichen interdisziplinären Forschungen über das Leben der Neandertaler. Das Bild des affenartigen Keulenschwingers muss revidiert werden zu Gunsten eines handwerklich geschickten und strategisch begabten Halbnomaden, dessen Alltagskultur der des Homo sapiens ebenbürtig gewesen sein dürfte. Warum die Neandertaler vor ca. 27000 Jahren von der Weltbühne verschwanden, ist auch heute noch Gegenstand zahlreicher Spekulationen. Ebenso gibt es unterschiedliche Hypothesen über die Stammesgeschichte der Hominiden. So bezeichnet die Autorin den Homo erectus als den letzten gemeinsamen Vorfahren des Neandertalers und des modernen Menschen. In dieser Rolle sieht der spanische Wissenschaftler Juan Luis Arsuaga den Homo antecessor. Für die Feinstruktur des Stammbaumes gibt es mehrere plausible Modelle, und auch auf viele Fragen zum Leben des Neandertalers kann die Wissenschaft heute noch keine abschließenden Antworten geben.

Im ersten Kapitel "Der Tote aus dem Kalk" schildert Ruth Omphalius die abenteuerliche Geschichte der Entdeckung und Erforschung von menschlichen Knochenfunden Mitte des 19. Jahrhunderts im Neandertal bei Düsseldorf. Das gefundene Skelett mit der charakteristischen Kopfform passte nicht in das Bild, das man sich im 19. Jahrhundert von der Entstehung des Menschen gemacht hatte. Es ist den Gelehrten Fuhlrott und Schaaffhausen zu verdanken, dass dieser wichtige Fund nicht in einer Museumsschublade verschwunden ist. Sie kamen in einer Zeit, in der Darwins Evolutionslehre noch unbekannt war, zum Ergebnis, dass es sich um eine urtümliche Form des Menschen handeln musste.

In den folgenden Kapiteln setzt sich die Autorin mit den klimatischen Verhältnissen und der Tierwelt während der Steinzeit auseinander und erläutert die Werkzeuge und das Jagdverhalten der Neandertaler. Es waren muskelbepackte abgehärtete Typen, die unter eiszeitlichen Verhältnissen überleben konnten und denen urzeitliche Medizin, Schamanenkulte und Bestattungsrituale nicht fremd waren. In dem Kapitel "Die Neandertalerin" wird die Hypothese gestützt, dass es bei den Neandertalern eine vom Geschlecht unabhängige Aufgabenverteilung gegeben haben könnte.

In neuerer Zeit versuchen Paläogenetiker an Hand der DNS der Relikte die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Vorläufern des modernen Menschen sowie deren Wanderungsbewegungen zu rekonstruieren. Für diesen Zweck wird eine genetische Bibliothek aufgebaut, die auch eine Antwort auf die Frage liefern könnte, ob der Neandertaler zu einer Wortsprache in der Lage war.

Das Buch ist in einer verständlichen Sprache geschrieben. Im Anhang sind Fachbegriffe erläutert, soweit sie im Text vorkommen. Der Mittelteil enthält auf zwölf Seiten Bilder aus der ZDF-Dokumentation "Der Neandertaler" sowie weitere Fotos und Grafiken. Es handelt sich um ein lesenswertes Buch, das auf unterhaltsame Weise die Lebensumstände einer untergegangenen menschlichen Spezies beleuchtet und damit zum Verständnis der Menschheitsgeschichte beiträgt.

Ruth Omphalius, geboren 1963, hat in Frankfurt Germanistik, Kunstgeschichte, Kunstpädagogik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften studiert. Seit 1997 arbeitet sie als Redakteurin für Wissenschaft und Kultur beim ZDF in Mainz und hat dabei eine Reihe von preisgekrönten Sendereihen, Filmen und Formaten entwickelt und produziert. Omphalius ist Autorin des erfolgreichen Buches "Der Planet des Lebens" (1997).

(Klemens Taplan; 07/2006)


Ruth Omphalius: "Der Neandertaler. Neues von einem entfernten Verwandten"
Rowohlt Reinbek, 2006. 272 Seiten.
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