Dirk Husemann: "Die Neandertaler"
Genies der Eiszeit
Hervorragend recherchiert,
spannend erzählt
Man kennt es aus dem täglichen Leben: Oft ist es die liebe Familie, die einem
am meisten zu schaffen macht. Der Neandertaler könnte diese Erfahrung bestätigen,
wurde er doch nach seiner Entdeckung weit über hundert Jahre lang von seinem
Vetter, dem Homo sapiens, diffamiert und diskriminiert. Erst in den letzten
Jahren konnte er sich dank der Bemühungen objektiver Forscher und besserer
Untersuchungsmethoden emanzipieren. Vom Neandertaler als rohem, plumpem, Keule
schwingendem affenartigem Monster ist wenig geblieben.
Dirk Husemann deckt in seinem Buch ein breites Themenspektrum ab. Der Bogen
spannt sich von der Entdeckung des namensgebenden Skeletts 1856
über
die Erkenntnisse Darwins bezüglich der Evolution zur Entstehung von Eiszeiten,
den Lebensbedingungen und Anpassungen der eiszeitlichen Lebewesen und natürlich
zum Leben der Neandertaler selbst: Wie sahen sie aus? Wie ernährten sie sich?
Hatten sie eine Kultur, und wie äußerte sich diese? Und warum verschwand der
Neandertaler vor rund 30.000 Jahren so plötzlich von der Bildfläche?
Der Autor berücksichtigt neueste Forschungsergebnisse und Forschungszweige wie
etwa die Paläogenetik. Zahlreiche Exkurse runden das von ihm gezeichnete Bild
der Lebenswelt des Neandertalers ab. So versäumt Husemann auch nicht, den Stammbaum
des Menschen von den ersten Anfängen an zu skizzieren. Überaus spannend liest
sich der selten erwähnte Streit zwischen den Entdeckern des Neandertalers, Fuhlrott
und Schaaffhausen, und dem berühmten Forscher Virchow, der die Anerkennung des
Neandertalers 40 Jahre lang verhinderte; mit Virchow prallte auch der modern
ausgerichtete Naturforscher Ernst Haeckel in der Evolutionsfrage zusammen. Husemann
erläutert überdies anschaulich, wie es zu den vielen Fehlurteilen über Intelligenz,
Anatomie und Kulturfähigkeit des Neandertalers kam. Es wären noch viele weitere
Höhepunkte zu nennen. Am Ende des Buchs hat der Leser einen umfassenden Eindruck
vom Neandertalerleben und weit darüber hinaus gewonnen.
Den Schluss bilden eine tabellarische Übersicht über die verschiedenen heute
bekannten Äste des menschlichen Stammbaumes sowie ein hervorragendes Register.
So weit, so gut. Neben dem vielen Licht gibt es auch etwas Schatten. Nicht nur
Naturwissenschaftler sind irritiert, wenn ein Durchmesser in Quadratmetern
angegeben wird (Seite 115) und bei der Erklärung des Begriffs "Halbwertszeit"
ein gründlicher Fehler unterläuft (Seite 210). Im Buch gibt es eine Reihe hochwertiger
farbiger Fotografien, aber keine schematische zeitliche Übersicht über die für
die Neandertaler-Ära und Altsteinzeit relevanten Eiszeiten, Werkzeugtraditionen
(z.B. Acheuléen) und
sonstigen kulturellen
Errungenschaften. So muss man immer
wieder blättern, um Fakten in den Zusammenhang einordnen zu können.
Der spannende Erzählstil einschließlich Humor und Wortwitz und die bereits gewürdigte
Fülle an interessanten neuen Erkenntnissen sowie die deutliche Kennzeichnung
von Spekulationen gegenüber belegbaren Fakten machen diese kleinen Mängel natürlich
mehr als wett: Insgesamt handelt es sich um ein wirklich gut gelungenes
Sachbuch.
(Regina Károlyi; 10/2005)
Dirk Husemann: "Die Neandertaler"
Campus, 2005. 263 Seiten.
ISBN 3-593-37642-3.
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Noch ein Buchtipp:
Martin Kuckenburg: "Der Neandertaler. Auf den Spuren des ersten Europäers"
Stand die Wiege der heutigen Menschheit in Afrika? War der Neandertaler ein
halbtierisches Wesen von nur schwachem Verstand? Wie sahen die frühesten
Religionen aus?
Für alle, die mehr über unsere biologischen und kulturellen Wurzeln wissen
wollen.
Der Archäologe und renommierte Wissenschaftsjournalist Martin Kuckenburg
zeichnet in seinem spannenden Überblick die bisherigen 150 Jahre
Neandertalerforschung nach. Zugleich bietet er eine unterhaltsam geschriebene
Darstellung ihrer teilweise bizarren Theorien: vom Streit um die
"Affenabstammung"
des Menschen im vorletzten Jahrhundert bis zur computergestützten
Archäologie
und DNS-Forschung unserer Tage. Er beschreibt die Sternstunden, aber auch die
Irrwege dieses eigenwilligen Wissenschaftszweiges, der bis heute die Gemüter
bewegt. (Klett-Cotta)
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