Jürgen Brater: "Wir sind alle Neandertaler"
Warum der Mensch nicht in die moderne Welt passt
Warum
wir Lagerfeuerromantik lieben und eine diffuse Angst vor Spinnen haben
Ungefähr zwei Millionen Jahre ist die Menschheit alt, von
denen sie zigtausende ohne signifikante äußerliche
Veränderungen verbracht hat. Wozu auch, das Modell "Homo
sapiens" hatte sich im Verlauf der Evolution vorzüglich
bewährt. Innerhalb der letzten zehntausend Jahre setzte jedoch
eine rasante technische Entwicklung ein, die uns weit von unseren
Primatenwurzeln fortführte. Die Evolution konnte damit nicht
Schritt halten, sodass wir uns, und hier wären wir bereits bei
der Prämisse des Buchs "Wir sind alle Neandertaler",
in einer von uns gestalteten Welt befinden, zu der wir gar nicht passen
- nicht passen können.
Jürgen Brater erzählt eine fiktive, an aktuellen
paläontologischen Erkenntnissen orientierte Geschichte aus dem
Alltag eines altsteinzeitlichen Jägers und seiner Sippe und
beschreibt im Anschluss an jede Episode, inwiefern darin enthaltene
Verhaltensweisen aus der Ur- und Frühzeit unserer Art heute
noch in uns fortwirken, und zwar entweder völlig sinnlos oder
gar destruktiv.
Zu den mittlerweile sinnentleerten Reflexen gehört
beispielsweise, dass uns bei Gefahr die Haare im wahrsten Sinne des
Wortes zu Berge stehen, obwohl wir damit mangels eines üppigen
Pelzes nun wirklich keinen Feind beeindrucken können, dass wir
in beängstigenden Situationen weiche Knie und kalte
Füße sowie Bauchweh bekommen, weil dies unseren
Vorfahren dazu verhalf, die Durchblutung auf den Bewegungsapparat zu
konzentrieren und somit besser flüchten oder angreifen zu
können, und dass sich viele von uns vor bestimmten
Krabbeltieren, aber auch vor grünlichem Schleim und
Ähnlichem ekeln - schier bis zum Erbrechen.
Unsere Körper sind bestens an die Anforderungen eines
Jäger- und Sammlerlebens angepasst, das sich durch
Nahrungsmangel auszeichnet: Daher gieren wir nach allem, was viele
Kalorien zu enthalten verspricht, und legen uns in - mittlerweile
dauerhaft gewordenen - Zeiten des Überflusses Fettdepots zu,
die in der heutigen Zeit unser Überleben keineswegs
fördern, sondern eher das Leben durch Wohlstandskrankheiten
abzukürzen drohen. Männer, die ehemaligen
Jäger und somit je nach Situation Dauerläufer und
Sprinter, setzen Fett am Bauch an, wo es sie am wenigsten beim Laufen
stört, Frauen
hingegen könnten in der Schwangerschaft zusätzliches
Bauchfett nicht gebrauchen; sie mussten beim Früchtesammeln
zudem nicht viel und schnell laufen wie die Männer, weshalb
ihre Pölsterchen vorzugsweise an Gesäß und
Oberschenkeln auftreten.
Aberglaube, bereitwilliger, häufig blinder Glaube an -
bisweilen völlig unbegründete - in den Massenmedien
verkündete, angeblich bevorstehende Katastrophen und unsere an
der früheren Clangröße von bis zu 150
Personen orientierte Einordnung in hierarchisch gegliederte Gruppen am
Arbeitsplatz: dies und vieles mehr gehört zu unserem
steinzeitlichen, zum Teil auch
wesentlich älteren Erbe. Warum
reden wir mit kleinen Kindern in der Babysprache? Wie funktioniert die
Partnerwahl? Wozu sind Statussymbole gut und der
rücksichtslose Fahrstil, den mancher in sonstiger Hinsicht
sympathische Zeitgenosse pflegt? Warum bedienen fast nur
Männer den Grill? Auch hierin werden wir von unserer alten
genetischen Ausstattung gesteuert. So erschrecken sich Kinder
instinktiv vor Raubtieren, laufen aber achtlos auf stark befahrene
Straßen und bohren mit Gabeln in Steckdosen herum.
Schutzinstinkte gegen solche Gefahren konnten sich
in unserem Erbgut
bislang nicht verankern.
Der Titel ist ein wenig irreführend, denn wir stammen nicht
von Neandertalern ab, und viele unserer Verhaltensweisen, auch der im
Buch interpretierten, haben wesentlich ältere Wurzeln und
verweisen auf unsere Vergangenheit in afrikanischen
Savannenlandschaften. Trotzdem stimmt die Prämisse
natürlich: In uns steckt viel von steinzeitlichen
Jägern (und Sammlern/Sammlerinnen) - das passt jedoch ganz und
gar nicht zum großstädtischen Lebensstil, weshalb
wir uns eigentlich, um einen Ausdruck aus dem
Tierschutz aufzugreifen,
eine nicht artgerechte Haltung vorwerfen müssen. Nicht umsonst
plagen uns entsprechende Krankheiten, wobei wir, was der Autor nicht
erwähnt, trotzdem wesentlich älter werden als unsere
eiszeitlichen und noch älteren Vorfahren. Der Autor
argumentiert sachlich und nachvollziehbar und orientiert sich auch an
ganz aktuellen Quellen.
Das Buch rüttelt auf und entlarvt manche Eigenart, die wir als
"kulturell bedingt" oder gar krankhaft abtun, wie zum Beispiel die
Hyperaktivität vor allem männlicher Kinder, als
genetischen Ballast aus einer uns mittlerweile sehr fremden Welt.
Nach der Lektüre beobachtet der Leser sich selbst und seine
Mitmenschen mit anderen Augen und wird manches weitere uralte
Erbstück an sich und ihnen bemerken. Wenn man um die Probleme
weiß, die sich für uns Primaten aus unserem
Lebensstil ergeben, mit dessen rasantem Voraneilen die biologische und
kulturelle Evolution nicht annähernd mithalten konnte, kann
man ein Stück weit entgegensteuern, zum Beispiel durch
"artgerechte" Sportarten und die Erkenntnis, dass
Männervereine und Clubs für die ehemalige
Jägergruppe ein Urbedürfnis sind.
Man lernt durch dieses Buch, sich und "die anderen" besser zu verstehen
und zu akzeptieren. Zu einer Abkehr von den Errungenschaften der
Technik möchte das Buch natürlich nicht auffordern,
aber es weist auf spannende und unterhaltsame Weise darauf hin, wie wir
uns in unserem gewohnten Umfeld unserer Natur stellen können.
(Regina Károlyi; 02/2007)
Jürgen
Brater: "Wir sind alle Neandertaler. Warum der Mensch nicht in die
moderne Welt passt"
Eichborn, 2007. 225 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen