Juan Luis Arsuaga: "Der Schmuck des Neandertalers.
Auf
der Suche nach den Ursprüngen des menschlichen Bewusstseins"
"Es geht um unseren Platz unter den übrigen Lebewesen, darum, weshalb wir so allein sind unter so vielen Wesen, wie es kommt, dass auf diesem Planeten keine andere Art existiert, mit der wir kommunizieren können, wo unsere nächsten Verwandten zu finden sind und was dazu führte, dass es sie alle nicht mehr gibt."
Wir alle sind Töchter und Söhne von Afrikanern
Wir alle sind Abkömmlinge afrikanischer Einwanderer, die - schätzungsweise höchstens 10.000 bis 15.000 Individuen an der Zahl - vor über 50.000 Jahren in Ostafrika zur Eroberung dieser Welt aufbrachen. Braunhäutige Einwanderer, die den nordisch bleichen Europäern ferner Tage ob ihrer überlegenen Intelligenz letztlich keine Überlebenschance ließen. Und diese unterlegenen Europäer jener fernen Tage - wir schreiben das Jungpleistozän (Pleistozän = Eiszeitalter) - waren die so bezeichneten Neandertaler (benannt nach einem Fundort im Neandertal bei Düsseldorf; BRD), die einzige Art Mensch, deren Wiege jemals in Europa gestanden ist.
Vom Afrikaner zum Weltbürger
Auf der Suche nach den Ursprüngen des menschlichen Bewusstseins führt Juan Luis Arsuaga den Leser zuerst in die Welt der Australopithecinen, die vor möglicherweise schon sechs Millionen Jahren als erste Hominiden - noch eher von affenartiger Natur - aus dem Dunkel der Vorzeiten heraustraten, sodann in die Welt des Beinahe-Menschen Homo habilis, dem Homo ergaster nachfolgte, der es aufgrund seiner Körpermerkmale als erster Hominide wirklich verdient, "Homo" genannt zu werden. Homo erectus war es schließlich, der sich von Afrika kommend des fernen Ostens bemächtigte. Menschliche Protagonisten besetzten schließlich die ganze Welt des Jungpaläolithikums. Und der Name der europäischen Figur in diesem Drama war der Mensch von Neandertal.
Ein eingeborener Europäer
Ein wahrlich ursprünglicher Europäer war der Neandertaler, perfekt angepasst an die widrigen Lebensverhältnisse der eiszeitlichen Epoche, von monströser Körperlichkeit, zwar nicht von hohem Wuchs, doch mit einem Skelett aus massivstem Gebein, Gelenke wie Kanonenkugeln, überzogen von einer prallen Muskulatur, wie man sie heute wohl nur noch bei Ausnahmeathleten bewundern kann. Ein markant animalischer Schädel mit kräftigen Stirnwülsten und schnauzenförmiger Mundpartie tat das Seine dazu, dass man diesem Wesen aus der Kaltzeit des Pleistozäns lange Zeit das Menschsein absprach, ihn einer jeden Menschenwürde abträglichen Primitivität verdächtigte, die ihn zwangsläufig zum Modernisierungsverlierer der "paläolithischen Revolution" stilisierte. Gewiss, der Neandertaler war in der Tat der Modernisierungsverlierer seiner Zeit, doch war er deswegen auch jener Primitive, dessen sich der moderne Mensch schämen müsste, wäre er mit ihm verwandt?
Intelligenz
versus Körperkraft
Juan Luis Arsuaga kämpft in seinem Buch gegen die
übelmeinenden Denunziationen des Neandertalers an, welche seit der Entdeckung
des europäischen Eiszeitmenschen unter gelehrten oder auch weniger gelehrten Zeitgenossen
gebräuchlich geworden sind. Keine Frage: Der vierschrötige Ureuropäer war an den
geänderten Umweltbedingungen, wie sie sich vor 30.000 Jahren neuerdings ergaben,
existenziell gescheitert. Und die Ursache dieser für ihn so tödlichen Veränderung
seines Lebensmilieus war allem Anscheins nach allein jener vergleichsweise zierliche
Zuwanderer aus Ostafrika gewesen, ein schlankwüchsiger Typus von Homo sapiens
mit hoher Stirn, ausgeprägtem Kinn und filigranen Gliedmaßen, der sich einer artikulierten
Sprache und fortgeschrittener Technologien bediente, die er schubweise (zu Instrumenten
tödlicher Präzision) weiterentwickelte.
Bei dem Zuwanderer handelte es
sich um den nach einem französischen Fundort so benannten Cro-Magnon-Menschen
(den Urahn des modernen Europäers), dessen Auftreten in Europa ein erstes größeres
Artensterben von Menschenhand bewirkte und der letztlich auch dem Neandertaler,
als unmittelbarem Konkurrenten um knappen Lebensraum und knappe Lebensressourcen,
den Garaus machte. Ob er in seinem troglodytischen Zeitgenossen, dem Neandertaler,
einen andersartigen Mitmenschen erblickte oder doch nur einen besonders lästigen
Schädling am gemeinsamen Ressourcenbestand, den es ehest möglich auszurotten galt,
ist äußerst fraglich. Konfliktlinien gab es wohl zur Genüge, allein schon weil
das Äußere des Ureuropäers - seine grobschlächtige Morphologie - uns modernen
Menschen ungefällig (wenn nicht gar Abscheu erregend) erscheint und darüber hinaus
mangels gemeinsamer Sprachsymbole eine unüberbrückbare kulturelle Kluft zwischen
den beiden konkurrierenden Menschentypen der Steinzeit bestand.
Ziemlich
wenig spricht für die vereinzelt noch verfochtene These eines Fortbestands des
Neandertalers durch Vermischung mit dem überlegenen Cro-Magnon, der sich zuweilen
an gebärfreudigen Neandertalermädchen vergriffen haben mag, doch sollte es tatsächlich
so sein - was unwahrscheinlich ist - wäre Juan Luis Arsuaga nicht darob betrübt,
auch Nachkomme des Neandertalers zu sein. Denn: "Neandertaler und moderne Menschen
sind zwei sich unterscheidende menschliche Modelle, die beide äußerst wirksame
Antworten der Evolution auf identische Herausforderungen des Lebens darstellen.
Beide Arten (sie und wir) erfuhren eine demographische Zunahme und eine geografische
Ausbreitung. Die Neandertaler verließen Europa, ihre ursprüngliche Heimat; auch
die modernen Menschen verließen Afrika, den Ort, an dem ihre Wiege stand. Es war
nur eine Frage der Zeit, wann sie aufeinander treffen würden." - Dieses Aufeinandertreffen
der Menschenarten endete für den Neandertaler mit seiner Ausrottung, konkurrierten
sie doch um dieselbe ökologische Nische, die nur einer Spezies Mensch ausreichend
Platz zum Überleben und Expandieren bot.
Der Neandertaler war noch ein
Kompromissmodell zwischen intelligenter Menschlichkeit und kraftstrotzender Bestialität
gewesen, ein urweltlicher Koloss, der zwar das Feuer beherrschte, aber ansonsten
ob seiner einfachen Lebensart und seiner prägnanten Körperlichkeit den "zivilisierten
Feingeist" moderner Menschlichkeit irritieren musste, welcher als so genannter
moderner Mensch biologisch betrachtet ein - letztlich bravourös gelungenes - Risikomodell
darstellte; ein Mängelwesen, was seine relativ schwächliche Statur betraf, jedoch,
so wie der Vogel auf das Fliegen, spezifisch auf Intelligenz spezialisiert, die
seine Schwächlichkeit kompensieren half. Mit dem modernen Menschen erlaubte sich
die Evolution in der Tat ein innovatives Wagnis (Umschichtung knapper Lebensenergie
von der Muskulatur zum Gehirn, das ein gefräßiges
Organ ist) und schuf solcherart den Erfolgstypus schlechthin, der ihr jüngst noch
das Zepter aus der Hand reißen sollte, indem er als Homo faber die Bahnen natürlicher
Weltgestaltung zunehmend nach seinem Gutdünken ordnet oder überhaupt Natur auslöscht,
wo sie seiner Interessensverwirklichung im Wege steht. Vielleicht könnte man gar
behaupten, das Holozän - die letzten 10.000 Jahre bzw. unser Zeitalter - markiere
das Ende natürlicher Evolution und stelle den Beginn menschlicher Evolution dar.
Die Nachkommen der europäischen Cromagnonen gebärden sich im Holozän als Götter
und haben auch die Macht dazu. Sie wähnen sich allmächtig und allwissend, doch
sind sie nicht allgütig. Ein Desaster, das vor 40.000 Jahren seinen Anfang nahm,
als in einem Jahrtausende langen steinzeitlichen Ringen die zivilisiertere Art
von Europäer über die bestialischere Art obsiegte.
Der moderne Mensch: Ein einzigartiges Kommunikationsgenie
In diesem Zusammenhang mag es makaber
klingen, wenn Arsuaga ausführt, dass es das außerordentlich soziale Wesen des
modernen Menschen ist, welches ihn zum Siegertypus der Evolution werden ließ.
Es ist dieses eigentümliche geistige Streben, alle Dinge dieser Welt - Wesentliches
wie Unwesentliches - mit menschlichen Symbolbegriffen zu benennen und alle (!),
selbst noch die fernsten und in Hinblick auf den unmittelbaren Lebensvollzug
unwesentlichsten Naturereignisse nach dieser Methode zu erfassen und - also
aus spezifisch menschlicher Perspektive - verstehen zu wollen, welches den neuzeitlichen
Menschen abgrenzend zu allen anderen Lebensformen dieser Erde charakterisiert.
Dieses anthropozentrische Wesensmerkmal, das alle Welt mittels Symbolisierung
zu vermenschlichen trachtet und in dem Bestreben, dies zu kommunizieren, solcherart
die menschliche Sprache entwickelt,
ermöglichte dem modernen Menschen letztlich den Aufstieg zum Weltbeherrscher.
Der Neandertaler war nicht unbedingt unintelligenter als sein jetztzeitmenschlicher
Konkurrent, doch war er eher den unmittelbar lebenswichtigen Dingen seiner materiellen
Alltagswelt als den Begriffen einer ihm ebenso nebulosen wie scheinbar zwecklosen
Überwelt
der Symbole zugetan. Diese Orientierung am stofflich Dinglichen mit Bedeutung
für den unmittelbaren Lebensvollzug war dann wohl auch sein Unglück, da er solcherart
keinen übergeordneten Weltbegriff zur Ausformung brachte, der sein kulturelles
Dasein auf eine höhere und somit konkurrenzfähigere Entwicklungsstufe hätte
hieven können. Er war und blieb ohne Weltanschauung mit weitem Horizont.
Der moderne Mensch lebte und lebt (im Computerzeitalter) immer mehr in einer
Welt von überindividuellen Symbolen, ja neigt schon beinahe dazu, sich in eine
fantastische Konstruktion aus gemeinsamen virtuellen Vorstellungen zu verflüchtigen.
Sein Bewusstsein, wie überhaupt seine ganze Ausdrucksweise, ist symbolisch geprägt,
was sich unter anderem auch in seiner Geschwätzigkeit äußert, der etwa als innere
Geschwätzigkeit, selbst noch im Falle größter sozialer Vereinzelung, kein Abbruch
widerfährt. Der Mensch kommuniziert gewissermaßen immerzu sein symbolisches
Vokabular, und fehlt ihm dazu ein Partner, so kommuniziert er mit sich selbst
oder mit einem fiktiven Partner, den er selbst erfindet oder nach welchem er
unbekümmert bei sich bietender Gelegenheit greift. Man denke nur einmal an die
diversen Chatforen des Internetzeitalters, wo so ziemlich wahllos jeder mit
jedem ins Plaudern gerät. (Hingegen kein Tier geschwätzig um der Geschwätzigkeit
wegen ist.
Der Hund
bringt seine ausdrucksstarke Körpersprache allein in der sozialen Situation
zur Geltung, ansonsten schweigt er in sich hinein. Ist niemand da, wird auch
nicht freundlich mit dem Schwanz gewedelt. Seine Sprache ist symptomatisch,
nicht symbolisch.) Jedenfalls ist es diese generelle Lust am Kommunizieren mittels
Symbolen, die den modernen Menschen seine Welt - und vor allem alle Welt - in
rasantem Tempo erschließen lässt und die sein Bewusstsein von Welt auf schöpferische
Weise formt. Denn der Mensch ist den Dingen nicht sklavisch verhaftet, wenn
er sie symbolisch verfremdet. Keineswegs ist seine Vorgehensweise hierbei sachlich
korrekt, doch gerade diese Willkür bei der Interpretation von Welt scheint die
Stärke des Neuzeitmenschen zu sein. Es mag zwar meistens sachlich unrichtig
sein, Naturereignisse mit menschlichen Charaktereigenschaften zu versehen (z.
B. "die fleißige Biene", "der böse Wolf", "die drohenden Gewitterwolken"), doch
handelt es sich dabei um eine letztlich sehr wirkungsvolle - wenn auch unwissenschaftliche
- Art des Naturbegreifens, die dem Tier fremd ist und auf die sich auch der
Neandertaler offenbar nicht oder erst viel zu spät eingelassen hat. Seine Schwäche
war es wohl, keinen ausgeprägten Sinn für
Mythologie
zu haben. Er war ganz und gar diesseitig veranlagt. Die unwirtlichen Lebensbedingungen
im vereisten Europa seiner Zeit erlaubten es ihm einfach nicht, nach den Sternen
zu blicken. Der Neandertaler war im Grunde nur eine muskelbepackte Kampfmaschine,
ein simples Gemüt, das sich als Bewohner gefrorener Böden fast ausschließlich
von Fleisch ernähren musste, wobei mehr auf brachiale Gewalt denn auf gerissene
Intelligenz gesetzt wurde. Denker und Schöngeist war er wohl kaum.
Der Schmuck des Neandertalers - so der Buchtitel - ist sodann als kulturelles
Artefakt wohl auch eher eine Ausnahme von der Regel denn die Regel selbst, also
vermutlich nicht mehr als der simple Versuch einer Nachahmung von Koketterie,
die der moderne Mensch schon so überzeugend vorführte. Schmuck diente nicht
nur der Eitelkeit, sondern bezeichnete auch den sozialen Status, symbolisierte
bewusste Individualität, die sich aus der Differenz zu anderen Individualitäten
verstand.
Man lernte eben noch rasch voneinander, bevor einer den anderen vom Antlitz
der steinzeitlichen Erde tilgte.
Zur Person des Buchautors
Juan Luis Arsuaga ist Professor der Abteilung für Paläontologie der Geologischen
Fakultät der Universidad Complutense in Madrid und Gastprofessor der anthropologischen
Abteilung der University College of London. Seit 1991 ist er Co-Direktor des
weltweit wichtigsten Ausgrabungsorts in der Sierra de Atapuerca. Er ist international
renommiert und Autor mehrerer Bücher über die Frühgeschichte, wobei ihn sein
Bemühen auszeichnet, wissenschaftliche Erkenntnisse unter das Volk zu bringen,
indem er sich einer allgemein verständlichen Schriftsprache bedient und gleichzeitig
unverständliches Fachlatein meidet. Es gibt zwar viele Bücher, die sich mit
dem Geist des Jetztmenschen (Homo sapiens sapiens) und des vorgeschichtlichen
Menschen beschäftigen, doch nur wenige davon sind für den Laien leserlich geschrieben.
Juan Luis Arsuaga hat sich dem schwierigen Problem der Übersetzung von Wissenschaftssprache
in Alltagssprache gestellt und dieses mit Bravour bewältigt. Das Ergebnis seiner
Anstrengung ist eine anregende populärwissenschaftliche Literatur, deren spanisches
Original "El collar del neandertal" schon in seiner spanischen Heimat für Furore
und für Umsatzspitzen im Buchhandel sorgte.
Wer also an den Ursprüngen menschlichen Bewusstseins interessiert ist und sich
darüber hinaus immer schon fragte, warum der Mensch als einzige Gattung Tier
so einsam in der Faunenwelt steht, wo doch einst in grauer Vorzeit nachweislich
mehr als eine Menschenart gleichzeitig diese Erde bevölkerte, der wird mit diesem
anregend geschriebenen Sachbuch von Juan Luis Arsuaga seine wahre Freude haben.
(Harald Schulz; 03/2003)
Juan Luis Arsuaga: "Der Schmuck des Neandertalers.
Auf
der Suche nach den Ursprüngen des menschlichen Bewusstseins"
Aus dem Spanischen
von Sabine Grimm.
Europa Verlag, 2003. 352 Seiten.
ISBN 3-203-75314-6.
ca. EUR 19,90.
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