V. S. Naipaul: "Indien"
Land des Aufruhrs
"Kulturelle
Erkundungen"
Der Literatur-Nobelpreisträger von 2001 hat Indien dreimal
bereist (1962, 1975, 1989) und dort seine eigene Identität
gefunden, obwohl man sagt, dass Indien selbst noch nicht zu sich
gefunden hat. Naipauls Vorfahren stammen aus Indien (die
Großeltern wanderten nach Trinidad aus) - und er
möchte hier das 'Land des Aufruhrs' (Untertitel) sich und uns
näherbringen. Der vorliegende Text - eine Art literarische
Reportage - erschien im englischen Original bereits 1990 und wurde nun
übersetzt von Ulrich Enderwitz. Leider verfälscht die
deutsche Version den englischen Titel 'A million mutinies now'
(dt. in etwa "Nunmehr millionenfacher Aufruhr") - man könnte
sich schon fragen, warum Buchtitel (Filmtitel übrigens auch)
meist mit eigenwilligen Nuancen übersetzt werden. Naipaul
sagt, er erfinde nichts, er finde seine Stoffe in der Realität
der Welt - er recherchiert penibel und fällt bisweilen harte
Urteile. Im übrigen verteidigt er auch vehement seine Mischung
aus Roman und Sachbuch. Nebenbei bemerkt wurde in Indien seinerzeit die
Nobelpreis-Verleihung als "einer der politisch inkorrektesten
Beschlüsse aller Nobelpreis-Komitees" bewertet.
Naipaul selbst nennt seine Unternehmungen "kulturelle Erkundungen"
(zit. nach einem Gespräch mit R.V. Bitter). Dabei ist er einer
der wenigen Autoren, welche die Entwicklung der (moslemischen) Staaten
Asiens kontinuierlich beobachten und die Verdrängung der
traditionellen Kulturen durch westlich orientierte Kultur und
Technologie dokumentieren. Dementsprechend formulierte die
Nobelpreis-Jury ihre Begründung, Naipaul erhalte die
Auszeichnung "für seine Werke, die hellhöriges
Erzählen und unbestechliches Beobachten vereinen und uns
zwingen, die Gegenwart verdrängter Geschichte zu sehen."
Naipaul stellt fest, dass es eine Zersplitterung Indiens gibt in
politische und soziale Gruppen, konkurrierende Religionen und Kasten
(ca. 82 Prozent Hindus, ca. 11 Prozent Moslems, ca. 2,5 Prozent
Christen, fast 2 Prozent Sikhs). Er sieht aber auch einen Fortschritt
darin, dass sich, "in dieser von Religion geplagten Gesellschaft"
dennoch Individualität und Demokratie herauszubilden beginnen.
Er reist durch Indien (entgegen dem Uhrzeigersinn, wie er betont,
obwohl dies nach religiöser Auffassung Unglück
bedeuten soll) und spricht mit vielen Leuten, man könnte auch
sagen, er interviewt sie. Das vorliegende Buch bietet nun eine Mischung
aus Beobachtungen, Dialogen, Analysen und Resümees. Dabei
erfährt Naipaul, dass sich die Inder "entfremdet"
fühlen im Zustand der Überbevölkerung (ca. 1
Milliarde Menschen!), wie im "Belagerungszustand". Man erklärt
ihm auch, dass sich die indische Gesellschaft "kriminalisiere", d.h.
dass politische Parteien und Geschäftsleute Gangster
engagierten, die ihre Angelegenheiten erledigten. Unter diesen gibt es
Männer, die morden, stehlen und erpressen - und andererseits
religiös sind und im Tempel Opfer darbringen. Das Kastenwesen
ist nach Naipauls Eindruck allmählich dabei sich
aufzulösen - mit Geld lassen sich mittlerweile auch im
traditionsverbundenen Indien Vergünstigungen erkaufen.
Während Naipaul im ersten Kapitel etliche Leute in
Bombay
interviewt, erfahren wir im zweiten Kapitel die "Eindrücke"
eines Privatsekretärs bei einem einflussßreichen
Politiker. In Kapitel 3 begibt sich Naipaul nach Goa - einerseits
registriert er dort noch die "indische Armut", andererseits war (im
Vergleich zu seinem Besuch 26 Jahre zuvor) die "agrarische Revolution
Wirklichkeit" geworden. Wer nach oben kommen möchte,
absolviert eine Ausbildung in englischer Sprache. Allmählich
löst man sich von traditionellen (auch rituellen)
Verhaltensvorschriften im religiösen und im
alltäglichen Bereich, wenngleich die oberste Kaste der
Brahmanen das gesellschaftliche Leben noch dominiert. Wer etwa eine
politische Karriere anstrebt, braucht die Unterstützung einer
einflussreichen Kaste.
Im vierten Kapitel gelangt Naipaul nach Madras, wo er eine
bundesstaatliche Wahl miterlebt. Überraschenderweise (oder
auch nicht?) gewinnt hier (im Süden) ein Politiker, der Gott
leugnet, das Kastenwesen verabscheut und demonstrativ Rindfleisch isst
(das Reinheitsgebot der Brahmanen fordert eigentlich vegetarische
Kost). Und er entwirft das Bild einer "dank wissenschaftlicher
Errungenschaften hell erstrahlenden Zukunft." In Kapitel 5
lässt sich Naipaul begeistert über die britische
Architektur in Kalkutta aus. Er trifft hier auf Geschäftsleute
mit westlichem Lebensstil, aber auch auf einen Kommunisten, der ihm die
Not in den Dörfern schildert. Eine andere Person engagiert
sich mit Freunden für die Sozialarbeit in Elendsvierteln.
Naipaul registriert die fortschreitende Verwahrlosung Kalkuttas und
erfährt, dass hier jeder "leidet". Liegt es daran, dass die
Stadt von Kommunisten regiert wird? Schließlich
führt uns der Autor im sechsten Kapitel nach Lucknow - hier
herrscht niedriges Bildungsniveau, die Leute pinkeln noch auf die
Straße. Liegt es daran, dass die Stadt muslimisch ist?
Kapitel 7 beschäftigt sich mit Frauenzeitschriften in Indien,
während uns Kapitel 8 nach Chandigarh in den hohen Norden
führt. Diese Stadt hinterlässt den Eindruck eines
Kunstprodukts mit größenwahnsinniger Architektur -
hier dominieren die Sikhs. Und dann verrät uns Naipaul noch,
dass ihm Indien nun im Vergleich zu 1962 wie ein anderes Land vorkomme:
"Das Indien, von dem ich träumte und das ich im Herzen trug,
war unwiederbringlich dahin."
Sieht man davon ab, dass es verfehlt ist, wenn der Verlag das Buch
einen "Roman" nennt, unternehmen wir hier eine Reise durch ein
Riesenland mit einem sehr subjektiven Reiseführer, der eine
Anzahl Leute aus dem Alltag berichten lässt und uns auf jeden
Fall authentische Einblicke gewährt. Schade nur, dass das
Original eben von 1990 ist und sich mittlerweile in Indien
ökonomisch und technologisch einiges getan hat, was hier noch
im Vorfeld teilweise wenigstens nur angedeutet werden konnte.
(KS; 11/2006)
V.
S. Naipaul: "Indien. Land des Aufruhrs"
(Originaltitel "India - A Million Mutinies Now")
Aus dem Englischen von Ulrich Enderwitz.
Claassen, 2006. 667 Seiten.
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Weitere Buchtipps:
Mircea Eliade: "Indiens mystische Erotik"
Für
den rumänischen Religionsphilosophen Mircea Eliade stellt die Entdeckung des
nichteuropäischen Menschen und seiner geistigen Welt das wichtigste Phänomen des
20. Jahrhunderts dar. Namentlich die wissenschaftliche Erforschung exotischer
(Natur-) Religionen, aber auch des Hinduismus und Buddhismus ermöglicht dem
Abendland eine geistige Horizonterweiterung ohnegleichen - und damit eine
beträchtliche Relativierung und dringend notwendige Korrektur der eigenen
eurozentristischen Denkweisen.
Besonderes Augenmerk verdienen Eliades Arbeiten zu den Weisheitslehren und
spirituellen Praktiken Indiens - zu
Hinduismus und Buddhismus sowie zu
Schamanismus,
Tantrismus und
Yoga: eine
Pionierleistung Eliades im interkulturellen und interreligiösen Dialog zwischen
West und Ost, die nicht nur von fächerübergreifender Gelehrsamkeit und
philologischer Akribie, sondern vor allem von der psychologischen Bereitschaft
und Gabe, sich in die Einstellungen anderer, fremder Menschen einzufühlen,
getragen wird.
Die Texte zu Indiens mystischer Erotik, die nun zum ersten Mal auf Deutsch
vorliegen, entstanden in den Jahren 1929 bis 1931 während Eliades Aufenthalt in
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Spiritualität, wobei die mystische Erotik Indiens im Mittelpunkt steht. Den
Schluss des Bandes bildet die intime Korrespondenz Eliades mit seiner Familie:
Briefe, die den Leser zum unmittelbaren Zeugen seiner wissenschaftlichen,
literarisch-künstlerischen, aber auch alltäglichen Aktivitäten werden lassen und
die aufgrund ihrer Authentizität Eliades spirituelles Tagebuch substanziell
ergänzen.
Mircea Eliade wurde 1907 in Bukarest geboren. Er studierte in den Jahren 1925
bis 1931 in Bukarest und
Kalkutta; es folgten ein längerer Aufenthalt im
Himalaya-Gebiet sowie ausgedehnte Asien-Reisen. Seit den 1950er-Jahren bis zum
seinem Tod 1986 war er Professor für
Religionswissenschaft in Chicago. (Insel Verlag)
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Katharina und Sudhir Kakar: "Die Inder. Porträt einer
Gesellschaft"
Indien gibt viele Rätsel auf. Als Reiseland erfreut es sich
wachsender Beliebtheit, die USA und Europa streiten sich um den
größeren Einfluss in einem Land, das schon jetzt
alle Wachstums- und Entwicklungsrekorde schlägt. Inder wie
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faszinieren auch heute. Gibt es eine gemeinsame indische
Identität, lässt sich eine "indische" Essenz finden,
die eine Milliarde Menschen teilen? Dieses Buch spürt sensibel
und kenntnisreich dieser Frage nach und entwirft ein eindrucksvolles
Porträt des modernen Indien.
Wer sind "die Inder"? Gibt es überhaupt so etwas wie eine
indische Identität? Tatsächlich berichten seit der
Antike viele Reisende von den Gemeinsamkeiten unter den indischen
Völkern. Die Hindu-Zivilisation hat Übereinstimmungen
hervorgebracht, die man als ein "Indisch-Sein", als eine indische
Identität bezeichnen kann, die sich klar akzentuiert
gegenüber "Europäern", "Chinesen" oder "Amerikanern".
Der Band bietet ein facettenreiches Porträt dieser indischen
Identität. Er entwirft ein Gesamtbild, das sich zusammensetzt
aus der besondern Form der indischen Familienbeziehungen, der
Institution der erweiterten Großfamilie; aus einer sozialen
Wahrnehmung, die zutiefst vom Kastenwesen beeinflusst ist; und aus
einer Vorstellung von Körper und Körperlichkeit, die
auf dem System des
Ayurveda
basiert sowie einer kulturellen und religiösen
Vorstellungswelt, die von Mythen und Legenden nur so wimmelt.
Dieses Buch, geschrieben von einem international angesehenen
Kulturwissenschaftler und Psychoanalytiker, der wie kaum ein Anderer
die indische und westliche Gesellschaft kennt, und einer
Religionswissenschaftlerin, die seit vielen Jahren in Indien lebt,
eröffnet neue Einsichten in eine Kultur, die sicher zu den
einflussreichsten in diesem Jahrhundert gehören wird. (C.H.
Beck)
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Hermann Kulke, Dietmar Rothermund: "Geschichte
Indiens"
Kaum ein Land blickt auf eine so lange Geschichte zurück wie
Indien, das bis heute durch seine Religiosität fasziniert. In
den letzten Jahren hat der indische Subkontinent aber auch durch eine
atemberaubende wirtschaftliche Dynamik das Interesse des Westens
geweckt. Diese umfassende und anschauliche Darstellung der Geschichte
Indiens bietet den Schlüssel zum Verständnis der
zweitgrößten Nation und der
größten Demokratie der Erde. Das erfolgreiche
Standardwerk wurde für diese Sonderausgabe
überarbeitet und aktualisiert. (C.H. Beck)
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Veena Kade-Luthra (Hrsg.): "Sehnsucht nach Indien.
Literarische Annäherungen von Goethe bis Günter Grass"
Texte von Goethe bis heute versammelt, die von der besonderen
Anziehungskraft Indiens auf Europa während der letzten zwei
Jahrhunderte erzählen. Sie zeigen, wie europäische
Wunschbilder einen Indienmythos erschufen und verwandelten, bis zu der
erwartungsvollen Annäherung an das Indien von heute. Mit
Texten unter anderem von:
Herder,
Goethe,
Novalis,
den Brüdern Schlegel,
Jean Paul,
Heinrich Heine,
Friedrich
Rückert, Schopenhauer,
Nietzsche,
Max Müller,
Hermann
Hesse, Stefan
Zweig bis hin zu
Martin Mosebach,
Ilja
Trojanow und
Peter
Sloterdijk. (C.H. Beck)
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