Péter Nádas: "Schöne Geschichte der Fotografie"
Eine postmoderne Spielerei
mit Lücken und
Tücken
Ein Buch, dessen Umschlag die Ablichtung einer
teilentblößten Dame mit einladend-auslandendem,
nacktem Hinterteil - neckisch ins Bild gerückt - ziert, kann so spröde
nicht sein - oder doch?
Was hat sich Péter Nádas, Jahrgang 1942, wohl dabei
gedacht? Im ersten Kapitel, "Zeitmaschine" betitelt, unternimmt ein
Hubschrauber, der offenbar jemanden sucht, einen Rundflug durch die
Gassen einer dämmernden Stadt und blickt ungeniert durch
Fensterscheiben, hinter denen sich der ganz normale Alltagswahnsinn in
Einzelbildaufnahmen abspielt, findet aber "keinen, den er meint".
Im letzten Kapitel "Fund", das mit dem
Satz "Finita la commedia" endet, wird ein Eisblock mit der
Leiche einer jungen Frau,
Kornélia, aus einem Gebirgssee gesägt und sodann
per Hubschrauber abtransportiert, wobei das Eis "unheil
verkündend" hinab tropft ...
Soweit
also die in naher Vergangenheit angesiedelte Rahmenhandlung.
Zwischen
diesen beiden Szenen wird die weit (?) zurückliegende, jedoch
keineswegs "schöne Geschichte der
Fotografie" erzählt, noch dazu im Präsens, was
zusätzlich dazu angetan ist, Verwirrung zu stiften, zumal
Kulissen, Requisiten, Bekleidung und Umgangsformen den Schluss
nahelegen, an der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts zu stehen -
aber wer weiß ...
Auf Seite sechs taucht jedenfalls
erstmals einer jener Sätze auf, die sich nachfolgend mit
taktgeberischer Sicherheit regelmäßig wiederholen:
"Da ist eine Stimme". Derer gibt es mehrere, und sie erläutern
zwischendurch immer wieder, mischen sich ein, melden sich mit
psychologischen wie soziologischen Weisheiten zu Wort und
könnten ebensogut zu verborgenen Erzählern wie zu
Gottes (Teufels?) Advokat oder Ärzten gehören.
Ärzten? Ganz recht! Ist doch die
unglückliche Hauptfigur, Kornélia Janetczky, (zu
Lebzeiten selbstverständlich!), mit Fallsucht geschlagen und
befindet sich infolge wiederholter Anfälle zur Rekonvaleszenz
in einem Sanatorium. Die tragische Geschichte dieser jungen Frau ist
schnell erzählt, auch Nádas selbst braucht dazu
nicht lange: Kornélia liebt es, mit ihrer Plattenkamera zu
fotografieren. Zumeist ersetzt der Blick durch das Objektiv den
tatsächlichen Kontakt mit ihrer Umgebung. Sollte ihr diese
mitunter dennoch zu nahe rücken, flüchtet sie in
Tagträume, die von epileptischen Anfällen begleitet
werden. Kornélia empfindet ihren Körper als
Gefängnis. Ob sich ihr Schwarm, Karol, tatsächlich
aus Verzweiflung - ihretwegen - aus einem fahrenden Zug in den Tod
gestürzt hat - ja selbst, ob er überhaupt jemals
wirklich existierte, bleibt unklar, obwohl oder gerade weil sie seiner
Erscheinung später auf einem uralten Friedhof ansichtig wird.
Kornélia
unternimmt eine böse endende Ballonfahrt in der Absicht,
Luftaufnahmen
zu machen, verdreht mit Vorliebe Männern den Kopf und spielt
die Naive, hat es jedoch faustdick hinter den Ohren, wie einige detailfreudige
Sexszenen und erotischen Tagträumen
zeigen, deren
Stil und Ausdrücke nicht so recht zum Rest der Geschichte
passen wollen; üben sich Nádas' Figuren
doch ansonsten in der hohen Kunst der Konversation in ungarischer,
deutscher und französischer Sprache.
Im Sanatorium wird die widerborstige Kornélia mit einem
ebensolchen jungen Mann zusammengebracht, weil sowohl die
Ärzte als auch ihre seltsame Gesellschafterin Henriette die
Hoffnung hegen, sie bekäme im Zuge einer Liebesbeziehung
wieder Boden unter den Füßen.
Weit gefehlt: Was folgt, ist das finale
letale! Carl van der Woelde, in dessen Erscheinung Kornélia
ein weiteres Mal den mysteriösen Karol zu erkennen meint, ist
im selben Ausmaß von der Schriftstellerei besessen wie
Kornélia von der Fotografie. Schlussendlich stirbt er durch
ihre Hand, sie hält seinen Todeskampf im Bild fest und verirrt
sich später im tobenden Schneegestöber.
Péter Nádas, seinerseits selbst Fotograf,
hat diese
überbelichtete Geschichte mit fototechnischen Details gespickt
und Kornélia sowohl mit gewaltiger Fantasie als auch
autistischen Zügen ausgestattet, sodass ein rechtes
Kuddelmuddel an Ebenen zustandekommt, innerhalb dessen sich alle
Grenzen auflösen oder bedenklich verschieben.
Eine ungewöhnliche, freilich nicht uninteressante Art, sich eines
Geschehens anzunehmen, mit zweifellos Schnitzler'schen
Momenten;
ein derzeit eher unüblicher Stil.
(Felix)
Péter
Nádas: "Schöne Geschichte der Fotografie"
(Originaltitel: "A fotográfia szép
története")
Berliner Taschenbuch Verlag. 136 Seiten.
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Péter Nádas, Erzähler,
Dramatiker, Essayist und
Fotograf wurde 1942
in Budapest geboren. Seine
berufliche Laufbahn begann er 1961 als Fotoreporter für das
Frauenmagazin
"Nök Lapja". Nach zweijährigem Militärdienst arbeitete er dann ab
1965 als Journalist bei der Tageszeitung "Pest Megyei Hirlap", kam
jedoch immer stärker in Konflikt mit den Leitlinien der offiziellen
Berichterstattung, bis er 1968 die journalistische Arbeit aufgab und
sich als
freier Schriftsteller aufs Land zurückzog. Da er bis 1977 auf Grund der
Zensur
keinen Verlag für seine Werke fand, arbeitete er neben der
schriftstellerischen
Tätigkeit noch für verschiedene Zeitschriften. Auf Einladung des "DAAD"
lebte Péter Nádas 1981 ein Jahr in Deutschland. Für seinen Roman "Buch
der Erinnerung" (1986, dt.1991) wurde er u.a. mit dem "Österreichischen
Staatspreis für Europäische Literatur" (1991), dem französischen "Prix
du Meilleur Livre Étranger" und dem "Leipziger Buchpreis zur
Europäischen
Verständigung" (1995) ausgezeichnet.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Spurensicherung"
Dieses Buch erinnert an eine Vergangenheit, die nicht vergangen ist: an
die
langen Jahre traumatischen Stillstands, in dem das östliche Europa seit
dem
gewaltsamen Ende des Prager Frühlings bis zur Wende 1989 erstarrt war.
Die Titelerzählung ist eine Spurensicherung im Untergrund: In einer
heruntergekommenen alten Villa in der Hügellandschaft von Buda, in der
sich eine Freundin Ende der siebziger Jahre zur Sommerfrische
eingemietet hat, identifiziert der Autor mithilfe von Fotos, Skizzen und
Zeugenaussagen jene geheime Verhör- und Folterstätte der ungarischen
Staatssicherheit, die von Béla Szász, einem der wenigen Überlebenden des
ersten Schauprozesses in Ungarn, in seinen im Samisdat verbreiteten
Erinnerungen (Freiwillige für den Galgen) als Ort seiner Gefangenschaft
beschrieben worden war. Ein Haus des Schreckens, auf dessen einstige
Bestimmung nur noch schalldichte Türen und vermauerte Zugänge, vor allem
aber das bei den Verhören benutzte sechseckige Turmzimmer hinweisen ...
Aus einer Komposition von erzählenden und dokumentarischen Texten, Fotos
und persönlichen Notizen lässt Péter Nádas ein eindrückliches Bild des
osteuropäischen Lebensgefühls nach dem Scheitern der Reformbewegungen
erstehen. (Berlin Verlag)
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"Schauergeschichten"
zur
Rezension ...
"Behutsame
Ortsbestimmung. Zwei Berichte"
Dieser Band vereint zwei sensible Zeugnisse aus extremen
Grenzsituationen: In
"Behutsame Ortsbestimmung" erkundet Péter Nádas die archaischen
Strukturen seines Dorfes Gombosszeg, und
in "Der eigene Tod" protokolliert er eindringlich, wie er nach einem
Herzinfarkt den "Nahtod"
erlebte.
Die alten Gebräuche und Götter werfen in diesem Dorf lange Schatten
bis in die
Gegenwart. Noch wird nichts mit Geld bezahlt. Ein Tauschhandel aus
Materialien,
Naturalien und Arbeit regelt den internen Verkehr. Handlungen und
Wahrnehmungen
scheinen kein Subjekt zu haben. Jeder hat teil an einem kollektiven,
magischen
Wissen. Péter Nádas gibt in "Behutsame Ortsbestimmung" einen
verstörenden
Einblick in eine fremde, archaisch anmutende Dorfgemeinschaft im
Westen Ungarns.
In "Der eigene Tod" gelingt dem Autor das fast Unmögliche: dem
eigenen Sterben Sprache zu geben. Er schildert, wie er, 51-jährig, auf
offener
Straße einen Herzinfarkt erlitt. Nüchtern hält er fest, wie er die den
Infarkt ankündigenden Symptome verdrängte, beschreibt satirisch die
Krankenhausgroteske und protokolliert beklemmend den klinischen Tod
selbst, in
dem er zwar das "Alltagsbewusstsein", nicht aber das Bewusstsein
verlor. Und aus dem er ins Leben zurückgeholt wurde mit einer nur
mystisch zu
nennenden Erfahrung: dass Licht für Gott noch "die glaubwürdigste
Metapher" sei. (Berlin Verlag)
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