Haruki Murakami: "Tanz mit dem Schafsmann"

Im Hotel Delfin gibt es eine dunkle, gruselige Zwischenwelt, in der manchmal der Lift stecken bleibt. Dann kann man dem Schafsmann begegnen. Er ist Schatten und Schutzengel des Erzählers. Und seine Botschaft lautet: "Tanzen. Immer weiter tanzen, solange die Musik spielt."


Der Erzähler, ein 34jähriger Autor, hat nach einer unglücklichen Liebe nicht wieder ganz zu sich zurück gefunden und begibt sich darum von Tokyo aus wieder nach Sapporo, in das Hotel Delfin, wo er die schönsten Momente mit der verschwundenen Frau durchlebt hat. Doch dort angekommen muss er feststellen, dass das ehemalige Stundenhotel einem teuren Nobelschuppen gewichen ist, dessen Rezeptionistin ihn allerdings schnell in Bann schlägt. Doch bevor sie sich wirklich näher kommen können, muss der Erzähler zunächst einmal in seiner Vergangenheit aufräumen.

Er muss seine alte Liebe wieder finden, und darum treibt es ihn zu einem alten Schulkameraden, dessen Leben und Wesen ihm absolut idealtypisch erscheinen möchte, der sich aber bei ihm immer wieder wegen dieses Lebens ausheult. Gleichzeitig hat sich der Erzähler auch um die junge Yuki zu kümmern, die von ihrer Künstlermutter Ame in dem Hotel vergessen wurde und deren homosexueller Vater, dessen Nachname ein Anagramm von Murakami darstellt, sich von den Frauen in seinem Leben  ganz abgeschlossen hat. Die dreizehnjährige Yuki wird nun für den eher einsiedlerisch lebenden Erzähler zur Gradmesserin der Normalität, von der er sich schon vor langem verabschiedet hat. Überhaupt haben die Namen hier immer sprechenden Charakter bei den wirklich wichtigen Figuren - May und June (zwei Prostituierte) - Ame und Yuki (Wettererscheinungen) und ein Polizist namens Schöngeist, der sehr belesen ist.

Fazit: Aus dem Werk Hermann Hesses bekannte Elemente treffen auf solche Kafkas sowie diverser Krimiautoren. Das Buch arbeitet mit mehreren übergreifenden Metaphern, nimmt starken Bezug auf Harry Hallers (dabei handelt es sich um die Hauptfigur in Hesses "Der Steppenwolf") "Magisches Theater - Eintritt nur für Verrückte" und versucht in jedem Gespräch und Gedanken des Erzählers entweder tiefschürfend philosophisch zu sein oder aber gesellschaftskritisch. Dies alles gelingt auch, jedoch wird dieser Anspruch wird ebenso an den banalsten Handlungssequenzen festgemacht, weshalb "Tanz mit dem Schafsmann" mental überladen wirkt, und das Philosophieren und Kritisieren wird immer mehr zum Selbstzweck oder zum Reflex der Erzählfigur.
Da erscheint mir "Kafka am Strand" doch wesentlich gelungener.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 11/2004)


Haruki Murakami: "Tanz mit dem Schafsmann"
(Originaltitel "Dansu, dansu, dansu")
Übersetzt aus dem Japanischen von Sabine Mangold.
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Leseprobe:

Ich träume oft vom Hotel Delfin.
Im Traum bin ich ein Teil davon. Und zwar als eine Art kontinuierlicher Zustand. Der Traum suggeriert diese Kontinuität ganz deutlich. Das Hotel Delfin ist verzerrt und schmal wie ein Schlauch. Es wirkt eher wie eine lange, überdachte Brücke. Eine Brücke, die sich von uralten Zeiten bis in die Endzeit des Universums erstreckt, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und mittendrin bin ich. Jemand weint. Weint um mich.
Das Hotel umhüllt mich. Ich kann seinen Puls fühlen, seine Temperatur spüren. Im Traum bin ich ein Teil des Hotels.
Das ist mein Traum.
Ich wache auf. Wo bin ich? Ich denke es nicht nur, sondern stelle mir die Frage laut: "Wo bin ich?" Eine sinnlose Frage. Als wüsste ich es nicht: Ich bin hier. Mitten im Leben. In meinem Alltag, mit allen Dingen, die zu mir, einer realen Existenz, gehören. Nicht, dass ich mich daran erinnern könnte, all den Situationen und Ereignissen, bei denen ich eine Rolle gespielt habe, jemals zugestimmt zu haben. Hin und wieder ist da eine Frau, die neben mir schläft. Doch meistens bin ich allein. Es gibt lediglich die Autobahn direkt vor meinem Fenster, Ein Glas - mit einem Restschluck Whiskey - an meinem Bett und das feindselige - oder vielleicht auch nur gleichgültige - diesige Morgenlicht. Manchmal regnet es. Dann bleibe ich im Bett und träume vor mich hin. Und kippe den Rest Whiskey. Ich schaue den Regentropfen zu, die von der Traufe rinnen, und denke dabei an das Hotel Delfin. Irgendwann räkele ich mich, langsam und wohlig. Das genügt mir, um mich zu vergewissern, dass ich einfach nur ich bin und nicht Teil von etwas Anderem. Aber das Gefühl im Traum hat sich noch nicht verflüchtigt. Es ist so plastisch, dass ich meine Hand danach ausstrecken und es berühren könnte. Dann würde das gesamte Bild, in dem ich mich befinde, in Bewegung geraten. Wenn ich angestrengt lausche, kann ich hören, wie sich langsam eine Reihe von Szenen abzuspielen beginnt. Eine nach der anderen, in Kaskaden. Ich lausche aufmerksam. Höre, wie jemand leise, kaum wahrnehmbar weint, ein Schluchzen irgendwoher aus dunkler Tiefe. Jemand weint um mich.
Das Hotel Delfin existiert wirklich. Es befindet sich in einem unscheinbaren Winkel von Sapporo. Vor einigen Jahren hatte ich eine Woche dort übernachtet. Wenn ich mich recht entsinne, war es vor vier Jahren. Nein, vor viereinhalb, um genau zu sein. Ich war noch in den Zwanzigern. Die Woche dort verbrachte ich mit einem Mädchen. Sie war es, die das Hotel ausgesucht hatte. Da übernachten wir. Sie hatte darauf bestanden. Sonst wäre ich nicht einmal auf den Gedanken gekommen, in einem solchen Kasten abzusteigen. Das Hotel war eine schäbige Bruchbude. Während unseres gesamten Aufenthalts haben wir, soweit ich mich erinnere, keinen anderen Gast gesehen. Ein paar Figuren lungerten zwar in der Lobby herum, aber wer weiß, ob sie tatsächlich Gäste waren. Es fehlten immer einige Schlüssel an der Rezeption, was die Vermutung nahelegte, dass außer uns noch andere hier logierten. Falls überhaupt, konnten es nicht viele sein. Wenn irgendwo in der Großstadt ein Schild mit der Aufschrift Hotel aushängt und die Telefonnummer im Branchenbuch steht, sollte man eigentlich davon ausgehen können, dass sich Gäste einfinden. Doch falls es noch andere außer uns gab, dann mussten sie extrem schüchtern und leise sein. Man hörte weder den geringsten Mucks, noch gab es irgendein sichtbares Zeichen ihrer Anwesenheit - außer der täglich wechselnden Anordnung der Schlüssel am Bord. Vielleicht waren es Schattengestalten, die mit angehaltenem Atem an den Korridorwänden entlang schlichen. Gelegentlich hörten wir das quietschende Rumpeln des Aufzugs, doch sobald er stoppte, herrschte wieder bleierne Stille.
Ein ziemlich skurriles Hotel.
Es kam mir vor wie eine Sackgasse der Evolution, wie ein genetischer Rückschritt. Eine Missgeburt der Natur, die einige Organismen irreversibel auf die falsche Fährte gebracht hatte. Der evolutionäre Vektor war aufgehoben. Verwaiste Lebensformen kauerten im Dämmerlicht der Geschichte, im Tal der ertrunkenen Zeit. Und niemand war dafür verantwortlich. Keiner trug die Schuld, keiner würde sie erlösen.
Man hätte das Hotel niemals an diese Stelle bauen dürfen. Das war der Kardinalfehler, der alles weitere zum Scheitern verurteilte. Wie ein zuoberst falsch geknöpftes Hemd. Jeder Versuch, die Dinge ins Lot zu bringen, führt lediglich zu einer feinen, aber nicht unbedingt eleganten Unordnung. Alles wirkt leicht verzerrt, so dass man seinen Kopf jedesmal um einige Grade zur Seite neigen muss, will man irgendwas anschauen. Die Verrenkung geht nie so weit, dass man ernstlich Schaden nehmen oder komisch wirken würde. Aber wer weiß? Wenn man lange genug hier zubrächte, gewöhnte man sich vielleicht daran. Eine ganz unauffällige Anomalie. Nur wird man die normale Welt dann nie wieder betrachten können, ohne den Kopf zu verdrehen.
Das also war das Hotel Delfin. Von Normalität keine Spur. Eine Konfusion jagte die nächste, bis der Sättigungsgrad erreicht war, um bald darauf vom Strudel der Zeit mitgerissen zu werden. Ein Blick genügte, und man war im Bilde. Ein erbärmliches Hotel. Erbärmlich wie ein dreibeiniger schwarzer Hund, der triefend im Dezemberregen steht. Heruntergekommene Hotels gibt es überall, ohne Frage, aber das Delfin stellte eine Klasse für sich dar. Dieses Hotel war von Grund auf erbärmlich. Es übertraf sich selbst.
Außer jenen arglosen Menschenseelen, die sich dorthin verirrten, würde natürlich niemand freiwillig dort absteigen. Doch zwischen seinem Namen (ich würde zu DELFIN eher ein schneeweißes Kurhotel im Zuckerbäckerstil an der Ägäis assoziieren) und dem tatsächlichen Eindruck, den es vermittelt, klaffte ein himmelweiter Unterschied. Ohne das Schild draußen am Portal wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, dass es sich um ein Hotel handelte. Und auch mit dem Schild sah es kaum danach aus. Es wirkte eigentlich mehr wie ein Museum. Ein Kuriositätenkabinett, in das sich Leute mit skurrilen Vorlieben hineinstehlen, um sonderbare Ausstellungsstücke zu betrachten.
Dieser Vergleich, der sich einem bei seinem Anblick aufdrängen mochte, war keinesfalls so abwegig. Ein Teil des Hotels ähnelte tatsächlich einem Museum. Ich frage mich allerdings, wer freiwillig in solch einem Loch absteigen würde, das ein Sammelsurium von Dingen beherbergt: ausgestopfte Schafe und muffige Felle in düsteren Korridoren, schimmlige Akten und verblichene Fotografien. Ein Hotel voll unerfüllter Träume, die wie verkrusteter Schlamm in den Ecken klebten.
Sämtliche Möbel waren verschlissen, jeder Tisch wackelte, kein Schloss funktionierte. Abgewetzte Korridore in trüber Beleuchtung. Die Stöpsel in den Waschbecken so verzogen, dass das Wasser im Nu durchsickerte. Das Zimmermädchen, eine Tonne, die auf Elefantenbeinen durch die Korridore walzte und unheilvoll hustete. Dann der traurig blickende Besitzer mittleren Alters, dem zwei Finger fehlten und der seinen Platz an der Rezeption nie zu verlassen schien. Ein Typ, dem man sofort ansah, dass ihm immer alles schief ging. Ein Musterexemplar seiner Gattung: nach einem Tag Einweichen in verdünnter blauer Tinte hervorgezogen, seiner Existenz stigmatisiert von Misserfolg, Versagen, Niederlagen. Man könnte ihn in eine Vitrine mit der Aufschrift Homo nihilsuccessus sperren und in einer Naturkundeklasse ausstellen. So ziemlich jeden würde der Anblick dieser Kreatur mehr oder weniger bedrücken, wenn nicht gar empören. Man könnte auch regelrecht zornig werden. Wer also würde schon freiwillig in einem solchen Hotel absteigen?
Nun, wir hatten uns dort einquartiert. Da übernachten wir, hatte sie gesagt. Und auf einmal war sie verschwunden. Hatte mich einfach sitzenlassen. Es war der Schafsmann, der mir die Nachricht überbrachte. Sie ist weg, hatte er mir gesagt. Ihm war bekannt, dass sie wegmusste. Inzwischen ist mir das auch klar. Sie hatte mich absichtlich hierher gelotst. Als wäre es ihr Ziel, ihre Bestimmung gewesen. So wie die Moldau ins Meer fließt. Die Assoziation kam mir beim Anblick der Regentraufe. Schicksal.
Als ich anfing, vom Hotel Delfin zu träumen, kam sie mir als erstes in den Sinn. Sie sucht nach mir, dachte ich unwillkürlich. Weshalb sollte ich sonst diesen Traum haben, immer und immer wieder?

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