Haruki Murakami: "Afterdark"
Gelesen
von Ulrich Matthes
(Hörbuchrezension)
Zen
oder Die Kunst, Haruki Murakami zu lesen
Japanische Autoren haben es häufig schwer, im
westlichen Kulturkreis Fuß zu fassen. Einer der
möglichen Gründe hierfür könnte
sein, dass im fernöstlichen Alltag Mystik,
Religiosität und Spiritualismus eine weitaus
größere Rolle spielen als im "aufgeklärten"
Westen. Doch langsam nimmt auch bei uns die Faszination dieser
Lebensanschauung immer weiter zu, zumal die Werke der hochklassigen
japanischen Schriftsteller immer häufiger nicht nur ins
Englische, sondern auch ins Deutsche übersetzt werden und so
größere Personengruppen erreichen.
Der im deutschen Sprachraum wohl bekannteste japanische Autor, Haruki
Murakami, veröffentlichte bei Deutsche Grammophon Literatur
seinen neuesten Roman "Afterdark" als vollständige Lesung
durch Ulrich Matthes, der seinem Ruf als Ausnahmesprecher vollkommen
gerecht wird.
Der Einfluss von Robert Altmans "Short Stories"
Mit einer langen Kamerafahrt beginnt der Roman, der in einem
Schnellrestaurant endet, und die imaginäre Kamera fokussiert
auf ein junges, auf den ersten Blick typisches japanisches
Mädchen, das an einem Tisch sitzt, ein dickes Buch liest, vor
sich eine Tasse Kaffee, an der sie von Zeit zu Zeit nippt, mehr aus
Gewohnheit denn aus Durst oder Genuss. Ein junger Mann, Takahashi,
betritt den Imbiss, schaut sich nach einem freien Platz in dem gut
besuchten Lokal um und steuert dann den Tisch des Mädchens,
Maris, an, wo er umstandslos Platz nimmt mit dem Hinweis, er werde
nicht lange bleiben, nur einen Salat essen und keinesfalls
stören. Doch entgegen seines Versprechens zwingt er ihr fast
unverzüglich ein Gespräch auf, welches wie ein roter
Faden den gesamten Roman durchzieht.
Maris ursprüngliche Intention, zurückgezogen eine
Nacht in der Großstadt zu verbringen, wird durch diese
zufällige Begegnung ins Gegenteilige umgekehrt, denn sie wirkt
wie ein Domino-Effekt und löst eine ganze Reihe weiterer
Begegnungen, Gespräche und Ereignisse aus, die
zunächst in keinem originären Zusammenhang
zu stehen scheinen, sich jedoch im Romanverlauf zu einem komplexen Bild
verdichten. Dieser scheinbare Widerspruch wird im Laufe des Romans
aufgeklärt, kann jedoch hier nicht aufgelöst werden,
ohne dass damit ein Großteil des Lesevergnügens
zerstört würde.
Mit "Afterdark" betritt Murakami in Teilen Neuland, ohne seine
literarische Brillanz und Leichtigkeit zu verlieren. Umfassten die
beiden Vorgänger ("Mister Aufziehvogel" 764 Seiten und "Kafka
am Strand" 640 Seiten) noch mehrere hundert Seiten, erreicht
"Afterdark" knapp 280 Seiten und umspannt nur den Zeitraum von 23.56
bis 06.52 Uhr. Seine Figuren betrachtet der Autor aus einer eher
distanzierten, an eine Kameraperspektive erinnernden
Erzählposition und zeichnet seine Charaktere weniger durch
Psychologisierung denn mittels intertextueller Gespräche, bei
denen beschriebene Gesten oder Gesichtsausdrücke mehr
über die Intentionen, Gefühle und Motivationen der
Personen preisgeben als das gesprochene Wort. Dies führt
gleich zur nächsten weitgreifenden Änderung, der
literarisch bewusst gewählten Visualisierung der Geschehnisse
statt der überbordenden Darstellung von Innenwelten. Trotz
aller Änderungen bleibt Murakami seiner Linie treu, denn die
Neuerungen erscheinen nicht als Experiment oder Konzession an den
Literaturmarkt, sondern "Afterdark" fügt sich nahtlos in die
Reihe seiner bisherigen Werke ein und stellt eine großartige
Bereicherung und gelungene Weiterentwicklung seiner literarischen
Möglichkeiten dar. Gerade das verhaltene, aber tendenziell
positivistische Ende des Romans lässt auf eine Fortsetzung
dieses Weges, wenn nicht sogar des Romans hoffen.
Die Stille beredsam gemacht
Ulrich Matthes hat bereits "Mister Aufziehvogel" für Deutsche
Grammophon Literatur in einer Aufsehen erregenden Lesung besprochen und
liest nun "Afterdark" mit seiner unvergleichlich filigranen Art
sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten. Das Besondere an Ulrich
Matthes ist, dass er es nicht nötig hat, mittels sprachlicher
Clownerien jedem neuen Charakter eine andere Stimme zu verleihen,
sondern allein durch nuancierte Änderungen in der Aussprache,
Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit oder das bewusste Einsetzen
der viel zu oft vernachlässigten Pausentechnik dem
Hörer ein perfekt auf den entsprechenden Charakter
zugeschnittenes audiophiles Bild zu vermitteln versteht. Über
dieses Können verfügen nur noch Christian
Brückner, der unvergessenen Gert Westphal sowie Eva Mattes.
Doch "Afterdark" stellt durch seinen teils distanzierten Blickwinkel
auf die Handelnden und die Diskrepanz zwischen beschriebener Optik und
Sprache völlig neue Anforderungen an den Sprecher. Glaubte man
schon, Ulrich Matthes habe mit der Lesung von
Colum
McCanns "Hungerstreik" seinen persönlichen Zenit
erreicht, so muss man dieses Urteil jetzt als vorschnell
zurücknehmen. Jene Teile des Romans, aus denen die
Kälte und Gefühllosigkeit der personifizierten
Großstadt gegenüber ihren Einwohnern spricht, werden
von ihm in lakonischem Ton vorgetragen und erzeugen beim Hörer
ein kaltes Frösteln, aus dem er erst langsam auftaut, wenn
Ulrich Matthes beginnt, die Diskrepanz zwischen Gestik, Mimik und
Gesprächsinhalt herauszuarbeiten und dem Hörer
dadurch das Bild dessen vermittelt, was Murakami eigentlich aussagen
will und den Figuren Konturen, Lebendigkeit und Anteilnahme verleiht.
Dabei bedient sich Matthes eines ebenso einfachen wie genialen
Kunstgriffes, indem er die Stille beredsam macht. Er lässt dem
Hörer genau die Zeitspanne, die dieser benötigt, um
das Gehörte mit dem bei ihm erzeugten Gefühl in
Einklang zu bringen. Der Versuch, diese Zeiträume exakt mit
einer Stoppuhr zu bestimmen, ist von vorneherein zum
Scheitern
verurteilt, weil diese von Ereignis zu Ereignis individuell schwanken.
Man flüchtet sich förmlich in diesen
technikgläubigen Zeiten in den Gedanken, dass Ulrich Matthes
über eine Art inneres Metronom verfügen muss, um ein
dermaßen genaues Zeitgefühl zu erreichen oder, was
weit eher vorstellbar ist, über eine
außerordentliche Intuition und ein über alle
Maßen großes Textverständnis, gepaart mit
dem Talent, dies alles äußerst unterhaltsam
hörbar zu machen.
(Wolfgang Haan; 05/2006)
Haruki
Murakami: "Afterdark"
(Originaltitel "Afuta daku")
Übersetzt aus dem Japanischen von Ursula Gräfe.
Deutsche Grammophon Literatur, 2006. 5 CDs.
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Buchausgabe:
DuMont, 2005.
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