Heribert Mühlen: "Neu mit Gott. Grundkurs christlichen Lebens"
Die Abspaltung der Erlebnisfähigkeit aus der Beziehung zu Gott ist eines der größten Hindernisse für die Begegnung mit ihm und für eine Neu-Evangelisierung.
Es ist nicht zu übersehen. Nicht nur Soziologen konstatieren einen zunehmenden Entfremdungsprozess zwischen den christlichen Kirchen und den Bewohnern jenes Kontinents, der bis fürderhin als christliches Abendland galt. Sowohl die fürstlichen Spitzen der Kirchenhierarchien als auch gelehrte Theologen machen sich ihre Gedanken ob der unfassbaren Entchristianisierung abendländischer Kulturen. Und wenn auch vielerorts die Zahl der eingetragenen Christen immer noch die überwiegende Bevölkerungsmehrheit repräsentiert, so ist doch nicht zu leugnen, dass christliche Haltungen in der alltäglichen Lebenswirklichkeit kaum noch präsent sind und - soweit doch noch vorhanden - selbst schon in traditionell christlichen Landen gerade noch als schrullig belächelt werden.
Jahr für Jahr verabschieden sich zahllose Christen
klammheimlich von ihrer angestammten Religion, ohne dass sie dies ausdrücklich
mittels des Formalakts des Kirchenaustritts offen bekunden würden. Es ist ein
stilles, kaum merkliches sich Verabschieden, weitaus dramatischer als es Kirchenaustrittsstatistiken der interessierten
Öffentlichkeit vermelden. Ein heimlicher Entfremdungsprozess von der Sakramentsgnade
des römisch-katholischen Ritus höhlt sukzessive die Fundamente einer irdischen
Einrichtung aus, die doch laut ihres eigenen Glaubenskanons von Jesus Christus
in Person zur Verkündigung seiner Heilsbotschaft auf Erden berufen worden sei.
Es ist ganz offenkundig: Die christlichen Kirchen Europas befinden sich in einer
existenziellen Krise und hätten mittlerweile schon genügend Gründe, kraftlos
zu resignieren. Der von
Friedrich Nietzsche einst diagnostizierte Niedergang, der europäische Nihilismus, er droht
uns heute tatsächlich eine letzte bittere Wirklichkeit zu werden. "Ein Gott,
an den niemand mehr glaubt, ist überfällig. Eine Moral, nach der niemand mehr
lebt ist überlebt. Das geht zu Ende", schrieb Nietzsche in seiner "Götzen-Dämmerung"
über das Ende von zweitausend Jahren christlichen Gottesglaubens und Widermoral.
Und, damit ist nichts mehr, nichts als Nihilismus, also jene radikale Ablehnung
von Wert, Sinn und Wünschbarkeit.
Und doch. "Wie oft waren gerade Schwierigkeiten, die als unüberwindlich galten,
Anlass, eine neue, der jeweiligen Zeit besser entsprechende Gestalt gläubiger
Praxis zu entdecken" (aus einem Schreiben der Deutschen Bischöfe).
Angesichts der von der römisch-katholischen Kirche so dramatisch empfundenen
glaubensgeschichtlichen Situation ist in diesen Tagen "Neu-Evangelisierung"
angesagt und Neu-Evangelisierung ist auch das eigentliche Ansinnen dieser von
Heribert Mühlen verfassten praxisbezogenen Heranführung an den christlichen
Glauben römisch-katholischer Konfession, wobei es dem Professor für Dogmatik
an der Universität Paderborn weniger um die Klärung von theologischen Problemstellungen
geht, als um die Vermittlung eines lebendigen Christentums, das sich in der
authentischen Erfahrung der Einheit von Glaube und Leben verwirklicht.
Gleich eingangs findet sich eine umfassende Thematisierung des zuletzt so virulenten
Begriffs von der "Neu-Evangelisierung" (bekanntlich eine der Schwerpunktsetzungen
des gegenwärtigen Papstes Ioannes Paulus II.,
Karol
Wojtyla), die sich - wie der Name schon verrät - an bereits christianisierte
aber vom Glauben wieder abgefallene bzw. dem Glauben entfremdete Personen und
Völker wendet und somit per definitionem von "Erst-Evangelisierung" (Heidenmission)
klar zu unterscheiden ist. Neu-Evangelisierung bemüht sich, im Bewusstsein des
Scheiterns herkömmlicher Pastoralpraxis, um eine neuartige Verkündigung der
Frohen Botschaft und um eine Vertiefung verflachter Glaubenspraxis. Dass Kirche
in erster Linie immer noch Sinnerfahrung in Gemeinschaft bedeutet, manifestiert
sich in dem Streben nach Bildung von Seminargemeinschaften und Begehung von
gemeinsamen liturgischen Feiern, die den Gläubigen wieder in die geistliche
Gemeinschaft seiner Kirche eingliedern sollen. Die gängige gesellschaftliche
Praxis des "Privatisierens" von Glauben ("Rette deine Seele") gilt es jedenfalls
zu überwinden, da der Christ einerseits in geistlich-menschlichen Beziehungen
reift (einander "belehren und ermahnen" in der Kraft des Heiligen Geistes) und
andererseits die Selbstisolierung von Christen zu einer Verdrängung des persönlichen
Verhältnisses zu Gott aus dem öffentlichen Leben geführt hat. Christen sollten
jedoch nicht davor zurückscheuen, ihre Glaubenserfahrungen auszutauschen und
sich gegenseitig zu Christus hinzuführen. Der gegenständliche Grundkurs, welcher
- chronologisch untergliedert - über neun Wochen geht, sollte hierfür eine hilfreiche
Anleitung sein.
Nicht zuletzt geht es in dem Projekt der Neu-Evangelisierung um die lebendige
Erfahrung des transzendenten Gottes und in diesem Zusammenhang u.a. auch um
Misstrauen und Ängste in Bezug auf diesen Gott. Fragen wie: "Gibt es eine Selbstverwirklichung
ohne Gott?" werden ebenso thematisiert und zur Meditation aufgetragen wie etwa
die Irritation, die aus der Ambivalenz des gleichermaßen zärtlichen wie zornigen
Gottes erwächst oder das Mysterium des Heiligen Geistes, der uns mit dem fernen
Gott wie auch untereinander verbindet. Dies alles sei jetzt nur ausschnittsweise
angeführt worden, zwecks beispielhafter Demonstration einer Vielzahl von Themenbereichen,
welche im Rahmen des geistlichen Grundkurses behandelt werden sollten.
Tatsächlich werden im Zuge des Grundkurses eine ganze Reihe theologischer Fragestellungen
angeschnitten, die auch den an bloßer Mystik oder Bibelkunde interessierten,
jedoch an religiöser Eigenpraxis desinteressierten, Leser jedenfalls erfreuen
werden. Rätselhafte Textstellen aus den Evangelien wie: "Noch ehe Abraham wurde,
bin ich" (Joh 8,23f.27f.42.58), werden aus dem kulturhistorischen Kontext heraus
erläutert, was - um gleich eine Kostprobe zu geben - bspw. im konkreten Fall
das Mysterium der Menschwerdung des ewigen "Wortes" meint (Joh 1,14), vor dem
alle menschliche Sprache versagt, dass nämlich dieses "Ich", das da spricht,
das ewige "Ich" Gottes ist und auf eine exklusive Gemeinschaft mit Gott verweist:
"Ich und der Vater, wir sind eins" (Joh 10,30). "Ich allein kenne ihn" (Joh
6,46;8,55). In Jesus ist Gott nicht nur gegenwärtig wie in einem der alttestamentlichen
Propheten, erklärt der Paderborner Professor für Dogmatik die Bedeutung dieses
mysteriösen Bibelzitats für uns: Gott macht sich nicht nur in den Worten Jesu
gegenwärtig, sondern Jesus ist "Gott". Solcherart ermöglicht es sich der Leser,
eine Ahnung der personalen Einheit von Vater und Sohn zu erheischen, die unter
Hinzufügung des Heiligen Geistes bekanntlich die
Dreieinheit,
den einzigartigen dreifaltigen Gottesbegriff der christlichen Theologie ergibt.
Dieser Jesus, wie ihn die Evangelien bezeugen,
fährt Professor Mühlen in seiner Schrift fort, unterscheidet in Bezug auf seine
Person zwischen zwei Ich-Begriffen: Nämlich zwischen dem alltäglich-menschlichen
"Ich", das sagt: "Ich will ein Stück Brot, ich bin hungrig", und jenem Ich-Worte,
das auf seine direkte Herkunft aus Gott verweist: "Ich bin das Brot des Lebens
... Wie mich der lebendige Vater gesandt hat und wie ich durch den Vater lebe,
so wird jeder, der mich isst, durch mich leben" (Joh 6,48.57).
Nicht nur tiefgründige Worte, sondern auch Worte von vollendeter Schönheit finden
sich in der Bibel. Voll der Wonne mag sein, wer sie auch versteht.
Die
Bibel ist und bleibt große Literatur, gleich wie man über den Inhalt
denken mag. Und - um zum gegenständlichen Grundkurs zurückzukehren - dieses
Buch der Bücher (die Offenbarung Gottes durch seinen eingeborenen Sohn) steht
natürlich auch im Zentrum der Betrachtungen unseres Grundkurses, denn christliche
Pastoralpraxis bedeutet immer und überall zu aller erst vor allem Hinwendung
zur Bibelkunde. Wobei jedoch ein besonderes Augenmerk auf eine praktische Bezüglichkeit
zur Lebenswirklichkeit des Gegenwartsmenschen genommen wird. Dazu ein kurzer
Textauszug: Bedenke heute auch Deine Stellung zu dem gesellschaftlichen System,
in dem Du lebst. Welche vereinnahmendem Forderungen kommen auf Dich zu? Konsumzwang?
Zwänge zu rücksichtsloser Machtausübung und Selbstdurchsetzung im Streben nach
Gewinn und Profit? Sozialer
Druck zu sexueller Ungebundenheit? Welche Ideologien bestimmen das System, in
dem Du lebst? Möglichst schrankenlose "Freiheiten des einzelnen" ("Ich bestimme
selbst, was ich tun und lassen soll")? Zwang zur Unterordnung unter eine gesellschaftliche
Zentrale und ihre Planungen? Musst Du Dich vor Deiner Umgebung in Arbeitswelt
und Familie rechtfertigen, wenn Du Dich gesellschaftlichen Zwängen und Forderungen
nicht anpasst? - Man sieht, kritische Fragen zur Irritation sind dem Projekt
der Neu-Evangelisierung, wie es Heribert Mühlen auffasst, nicht fremd.
Werter Leser! Sie sehen schon, was für ein hochinteressantes Buch uns mit diesem
Grundkurs christlichen Lebens vom Herrn Professor Mühlen vorgelegt wurde. Dank
seiner jahrelangen Erfahrung als Leiter von Glaubenskursen in Akademien und
Gemeinden beherrscht er die Kunst, auch den theologisch nicht vorgebildeten
Laien auf leicht verständliche, weil auf anschauliche Weise, mit den Grundbegriffen
christlichen Fragens und Verstehens vertraut zu machen. Die Religion des Christentums
ist - und das macht diese Religion für mich so sympathisch - eine Buchreligion,
weshalb bei der Annäherung und Vertiefung an christliche Inhalte der Erwerb
von biblischen Kenntnissen und deren verstehende Deutung, also von Schriftgelehrtheit,
immer von überragender Bedeutung sein muss. Diesem Grunderfordernis der Schriftgelehrtheit
wird Mühlens Grundkurs christlichen Lebens jedenfalls voll gerecht. Das Neue
Testament ist keine weitgehende Sammlung von Gesetzestexten und Verordnungen
wie wir es von anderen - teilweise juristisch anmutenden - Heiligen Texten her
kennen (bspw. Koran), sondern voll der Mysterien, in epischer Breite erzählten
Mythen und bildkräftigen Symbolismen, die allein für sich schon ob ihrer Schönheit,
Fantasie- und Gedankenfülle faszinieren, doch eben auch der fachkundigen Auslegung
bedürfen, um die darin enthaltene Botschaft erfassen zu können. Und wem auch
nicht die Gnade des Glaubens geschenkt ist, die Lektüre dieser Welt zärtlicher
Spiritualität wird sich noch allemal für jedermann lohnen, ob jetzt des poetischen
Genusses oder der philosophischen und theologischen Erbauung wegen. Alle diese
Motive rechtfertigen eine eingehendere Befassung damit.
Das Leben eines jeden Menschen ist nicht nur immerzu vom Scheitern bedroht,
sondern jedes und alles Leben scheint sogar zum Scheitern verurteilt. Leben
bedeutet in seiner letzten Konsequenz, zu Grunde zu gehen. Keine Religion befasst
sich so intensiv mit dem Scheitern, gibt selbst ein so illustres Beispiel für
das Scheitern, wie das Christentum, dessen Heiland, einsam und verlassen
an
ein Kreuz genagelt, verendet und darin seine Erhöhung erfährt. "Gott
wird Dich auch im Scheitern bedingungslos bejahen!" lautet dazu die Botschaft
Gottes an den Menschen, und wer sie vertrauensvoll annimmt, dessen "Auferstehung"
hat schon begonnen.
Abschließend ist zu sagen: Dieses Buch macht Mut und gibt Kraft, und sollte,
von Mut und Kraft einmal abgesehen, selbst noch dem "
bekennenden
Gottlosen" eine anregende Lektüre sein. Zudem handelt es sich bei
dieser als Grundkurs konzipierten Annäherung an die christliche Daseinssphäre
um eine brauchbare Anleitung zur unmittelbaren religiösen Praxis, welche, dem
Vernehmen nach, von kirchlichen Einrichtungen in der Erwachsenenseelsorge angewendet
wird und sich dabei bewährt haben soll.
(Torquato Tasso; 6. September 2002)
Heribert
Mühlen: "Neu mit Gott"
Herder, 2000. 287 Seiten.
ISBN
3-451-26666-0.
ca. EUR 12,90.
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