Sławomir Mrożek: "Balthasar"
Autobiografie
Der polnische Spötter
"Mrożeks Gedanken sind so ungewöhnlich, dass sie jedem
verständlich sind." - so urteilte einmal Gabriel Laub
über den hier zur Disposition stehenden Autor. In den Augen
Reich-Ranickis ist Mrożek ein engagierter Schriftsteller, Humanist,
Satiriker, Surrealist und "ein Mann des Absurden - also zeigt er das
Widersinnige, um die Vernunft zu provozieren." Nach Karasek gelingt es
Mrożek sogar, "die pfiffige Vieldeutigkeit der marxistischen Dialektik
zu persiflieren." Man zählt Mrożek neben
Beckett und
Dürrenmatt zu den bedeutendsten Dramatikern unserer Zeit.
Seine hier vorgelegte "Autobiografie" (Untertitel) ist
übertragen aus dem polnischen Original (2006) von Marta Kijowska. Zur Erklärung des Titels muss man wissen, dass sich
Mrożek (geboren 1930) nach seinem Gehirnschlag (2002) "Balthasar nannte,
zum Zeichen, dass er danach nicht mehr derselbe war" (Klappentext). Er
litt seither an Aphasie und wollte die Frage der Selbstidentifizierung
thematisieren - und es ging ihm darum, mit Hilfe einer Therapeutin sein
Erinnerungs-, Sprech- und Schreibvermögen wieder zu erlangen.
Der erste, kürzere Teil des vorliegenden Buches bezieht sich
auf seinen Mexiko-Aufenthalt (1990-1996), der zweite Teil beschreibt
das Leben seit der Kindheit bis zur Ausreise aus Polen.
Man nannte ihn den "polnischen Spötter", sein Werk kreist um
die Politik, zielt allerdings auf die Ethik. Das Absurde setzt bei ihm
nicht wie bei Beckett den Menschen in Beziehung zum Absoluten, sondern
zum Mitmenschen als Individuum oder Gruppe. Er spürt die
Unzulänglichkeiten und Falschheiten der gesellschaftlichen,
politischen und moralischen Normen auf. Mrożek ist eigentlich ein
Realist, für den das Konkrete absurde Ausmaße
bekommt. Ihn interessiert mehr das Anthropologische als das
Soziologische, gleichwohl kennzeichnet die Sprache die kulturelle
Herkunft seiner Protagonisten. Häufig geraten ihm auch
parodistische Elemente v.a. aus politischen Versatzstücken in
die Dialoganteile. Kaum zu glauben, dass dieser Vielschreiber einmal
sagte: "Ich erzähle nicht gern, ich höre lieber zu."
Und während Mrożek sein Wunderbar-Absurdistisches in Prosa und
Dramenform verfasste, hielt er sich mehr im Ausland als in Polen auf -
wobei er Mexiko nach eigenem Bekunden als seine "Bestimmung -
für immer" angesehen hatte - er bezeichnete die Jahre
1993 bis 1995 als "die schöpferischsten in meiner gesamten Zeit in
Mexiko." Aus privaten und wirtschaftlichen Gründen erfolgte im
September 1996 die endgültige Rückkehr nach Polen, wo
er weiterhin Erfolg hat. Allerdings wird nicht eigentlich
verständlich, warum Mrożek nach 33 Jahren im westlichen
Ausland freiwillig nach Polen zurückkehrte. Ein Problem des
vorliegenden Buches mag sein, dass sich Mrożek schwer für sein
Thema entscheiden kann: "Kehren wir aber zur Gegenwart zurück,
von der ja dieses Buch handeln soll. Doch bevor ich meinen Bericht
fortsetze, sei es mir erlaubt, mich in die Vergangenheit zu vertiefen."
Jedenfalls erfahren wir dadurch, dass Mrożek während der
Kriegsjahre in Ermangelung gleichaltriger Freunde begonnen hatte, ein
eifriger Leser zu werden.
Einige Kapitel später entschuldigt sich Mrożek quasi:
"Verzeihen Sie bitte die Detailliertheit meiner Erinnerungen" -
erinnern wir uns: gerade daran hatte er vorher gezweifelt bzw. darum
hat er eben gerungen! Mit diesem Buch musste er sich in seinem Kampf
gegen die Aphasie etwas beweisen. Auf rund 80 Seiten lässt
sich nachlesen, wie sich der Zweite Weltkrieg aus privater polnischer
Perspektive darstellte. Erst um den Jahreswechsel 1949/50 herum nimmt
Mrożek Kontakt mit Schriftstellern und Künstlern auf. In der
Folgezeit spricht er von seiner "ideologischen Verwirrung" - allgemein
war er für den Marxismus-Leninismus, wenn es konkret wurde,
aber dagegen. Mrożek arbeitete einige Zeit als Journalist, dann begann
er ab 1956 Feuilletonistisches und Literarisches zu schreiben. Der
Polnische Schriftstellerverband finanziert ihm und etlichen anderen
jungen Literaten (u.a. auch
Wislawa Szymborska) eine Reise nach Paris.
Fasziniert von Theateraufführungen in Paris
beschließt Mrożek bei seiner Rückkehr nach
Krakau
ein Stück zu schreiben: "Polizei". Nie mehr später
hat er so schnell ein Stück verfasst - und "zum ersten Mal
hatte ich das Gefühl, ein echter Schriftsteller zu sein."
Obwohl sich ein erster Theatererfolg einstellt, reist Mrożek Ende 1959
in die USA, wo er an einer zweimonatigen sogenannten "Summer-School"
für Literatur in Harvard teilnimmt - in dieser Zeit lernt er
übrigens Professor Henry Kissinger kennen. Nach Polen
zurückgekehrt beschließt Mrozek aus der
Kommunistischen Partei auszutreten: "... das Grundprinzip des
Kommunismus war absurd. In der Praxis reduzierte es sich doch darauf,
dass der erstbeste Idiot nicht nur den Beruf des Literaten, sondern
auch jeden anderen ergreifen konnte."
Auf den letzten Seiten des vorliegenden Buches kehrt Mrożek sozusagen
wieder in die Gegenwart zurück: Im Mai 2002 erleidet er seinen
Gehirnschlag, im Dezember 2003 hat er bei einem Kurzaufenthalt in Paris
einen Traum, dass sein neuer Name "Balthasar" lauten solle. Nach seiner
Entlassung aus der Klinik war er völlig
unselbstständig, er benötigt etwa drei Jahre, "um mit
den einfachsten (...) Dingen fertig zu werden." Eine ganz spezifische
Aussage müsste uns allerdings fast erschüttern:
"Indem ich nun aber den Namen wechsle und mich als 'Balthasar'
bezeichne, gebe ich meine Unvollkommenheit offen zu. Von jetzt an kann
man mich für das, was ich vor der Aphasie geschrieben habe,
weder loben noch tadeln, denn jener Mensch existiert nicht mehr." Aber
hat Mrożek nicht mit dem vorliegenden Buch genau das Gegenteil
bewiesen?!
Eine tragische Variante kommt noch dazu: Durch die Aphasie hat Mrożek seine Fremdsprachenkenntnisse verloren - und schreibt mit
Überzeugung nur noch Polnisch. Schließlich widmet er
im "Epilog" das Buch all denen, die an Aphasie leiden. Und so ist dies
eine insgesamt eher sentimentale als intellektuelle Abhandlung - es ist
nicht ganz sicher, wieviel eigentlich von dem "Spötter"
übrig geblieben ist - die Literaturwelt muss sich
wahrscheinlich tatsächlich damit abfinden, dass das Genie
Mrożek der Vergangenheit angehört.
(KS; 04/2007)
Sławomir Mrożek: "Balthasar"
(Originaltitel "Baltazar. Autobiografia")
Mit einem Vorwort von Antoni Libera und einem Bildteil.
Aus dem Polnischen von Marta Kijowska.
Diogenes, 2007. 376 Seiten.
Buch
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Sławomir Mrożek ist am Morgen des 15. August 2013 im Alter von 83 Jahren in Nizza gestorben