Salomon Hermann Mosenthal: "Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben"


Skizzen jüdischer Frauen aus dem ländlichen Hessen des 19. Jahrhunderts

Salomon Hermann Mosenthal, 1821 als Sohn einer verarmten jüdischen Kaufmannsfamilie im hessischen Kassel geboren, brachte es in Wien als Schriftsteller zu einiger Berühmtheit.

Die fünf in diesem Buch vorgestellten Erzählungen fanden allerdings nicht viel Beachtung, obwohl sie interessante Einblicke in die ländlich-jüdische Kultur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bieten. Sie haben offensichtlich einen wahren Kern und sind im familiären Umfeld des Autors angesiedelt.

In der ersten Erzählung lernt der Leser aus kindlicher Sicht die alte Tante Guttraud kennen, die mit zwei altjüngferlichen Töchtern und einem wehleidigen, bettlägerigen Mann unter ärmlichsten Bedingungen zurückgezogen lebt. Das Rätsel, warum der alten Frau so viel Verehrung entgegengebracht wird, löst sich erst nach vielen Jahren, als der Autor von seiner Mutter erfährt, wie sich Tante Guttraud in einem Augenblick der Gefahr und der Schande fast wie eine Märtyrerin für ihren undankbaren Mann und die ganze jüdische Gemeinde aufgeopfert hat.

"Schlemilchen" ist ein hässliches, ungeschicktes und armes Waisenmädchen mit einem goldenen Herzen. Als sich irrtümlich herumspricht, Schlemilchen sei reich geworden, stellt sich umgehend ein Heiratskandidat ein, der jedoch sofort die Flucht ergreift, sobald der Geldsegen sich als Fehlinformation entpuppt. Schlemilchen verspielt daraufhin durch ihre Furcht vor einer weiteren derartigen Erfahrung beinahe ihr künftiges Glück.

Raaf's Mine wiederum, eine Rabbinertochter, unterstützt einen aufgeklärten, sich von der Orthodoxie abwendenden Rabbinerschüler nach besten Kräften beim Studium und überlässt ihn dann, als er gefeiert zurückkehrt, der Frau, die er wirklich liebt.

In "Jephtha's Tochter" geht es um die Auslegung der Schrift: Als der Vater eines schönen Mädchens dieses in einem Augenblick der Lebensgefahr im Gebet seinem gleichaltrigen Gläubiger als Frau verspricht, wenn er davonkommt, fügt sich die Tochter todunglücklich, aber gehorsam, erklärt dem Bräutigam allerdings, dass sie ihm zwar nach Möglichkeit eine gute Frau sein, jedoch immer an den von ihr geliebten jungen Mann denken wird. Der Gläubiger, der sie sehr begehrt hat, besinnt sich daraufhin und trifft die einzig sinnvolle Entscheidung.

Raschelchen schließlich ist eine alte Leichenwäscherin. Der Autor ergründet ihre tragische Geschichte: Aufgrund eigener leidvoller Erfahrungen hat sie ihrer musikalisch hochbegabten und in einen Christen verliebten Tochter verboten, aus ihrer jüdischen Welt auszubrechen, und ihr damit das Herz gebrochen. Nun fragt sie sich, welche Schriftstelle wohl Recht hat: jene, dass die Frau ihren Eltern gehorchen solle, oder die andere, dass die Frau dem Mann folgen müsse. Hätten nicht beide Auslegungen in die Katastrophe geführt?

Auf den ersten Blick muten die Erzählungen wie Miniaturen in romantischer Tragik an, auch die Motive sind ja ausgesprochen romantischer Natur. Die jüdische "Folklore", all die Sitten und eingestreuten, vom Autor stets erläuterten jiddischen Ausdrücke, geben den Skizzen ein eigenwilliges, anrührendes Gepräge, zu dem auch die liebevoll gezeichneten, charaktervollen Figuren beitragen. Ungewöhnlich für das frühe 19. Jahrhundert wirken die starken, dominierenden Frauengestalten, die sich zwar gehorsam den Sitten und religiösen Gesetzen fügen, aber bereits im Aufbruch zur Moderne begriffen sind - wie denn auch der Autor den Übergang von der strengen Orthodoxie hin zu einem aufgeklärteren Judentum insbesondere in "Raaf's Mine" darstellt und indirekt propagiert. In dieser Erzählung treten ausnahmsweise Männergestalten in den Vordergrund.
Mosenthal wandte sich mit seinen fünf Geschichten vor allem an ein nichtjüdisches Publikum, um dessen Verständnis für die überwiegend sehr arme jüdische Minderheit zu fördern und Impulse für das Zusammenleben zu geben. Er sprach sich zwar gegen Mischehen aus und zeigte schonungslos auf, wie gelegentlich die ganze jüdische Gemeinde für die Straftat eines Einzelnen (der zudem im geschilderten Fall aus der Not heraus gehandelt hat) büßen musste und in welch erniedrigender Weise Juden gern drangsaliert wurden, aber er wünschte ganz offensichtlich eine Öffnung beider Seiten für ein vorurteilsfreies Miteinander: ein erstaunlich modernes Denken!
In den Geschichten herrscht ein von jüdischem Geisteswitz, erzählerischer Eleganz und Geradlinigkeit geprägter Stil vor, freilich immer wieder von in typisch romantischer Manier geballt vorgebrachten Gefühlsregungen - heute würde man das als kitschig bezeichnen - aufgebläht; es fließt gar manche "Thräne" aus glutvollem Auge.
Wer die labile Koexistenz jüdischer und christlicher Gemeinden in Deutschland vor dem Kaiserreich verstehen möchte und Interesse daran hat, in eine liebenswürdige, heute etwas verschroben anmutende Subkultur einzutauchen, wird dieses Buch als einen wiederentdeckten kleinen Schatz zu würdigen wissen.

(Regina Károlyi; 03/2006)


Salomon Hermann Mosenthal: "Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben"
Mit einem Nachwort herausgegeben von Ruth Klüger.
dtv, 2006. 219 Seiten.
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Salomon Hermann Mosenthal kam am 14. Jänner 1821 in Kassel als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie zur Welt, die kurz nach seiner Geburt ihr Vermögen verlor. Nach dem Besuch des Lyceums ging er, gefördert von Freunden, nach Wien, wo er nach kurzer Zeit eine beachtliche literarische Karriere machte und sich zu einer zentralen Figur des Wiener Kulturlebens entwickelte. Er starb am 17. Februar 1877 in Wien.

Ein weiteres Buch des Autors:

"Deborah. Volksschauspiel in vier Akten"

Jüdisches Leben zwischen Tradition und Emanzipation. Das erfolgreichste Stück von Salomon Hermann Mosenthal.
Salomon Hermann Mosenthal war zu Lebzeiten ein international bekannter Librettist und Dramatiker. Der Durchbruch gelang ihm 1848 mit dem Volksstück "Deborah", das einen Siegeszug um die Welt antrat: Es wurde in 13 Sprachen übersetzt und erlebte allein in New York 400 Aufführungen.
Das Drama spielt im ländlichen Milieu des 18. Jahrhunderts: Joseph steht zwischen seiner Jugendliebe, der Christin Hanna, und der Jüdin Deborah, die es auf der Flucht vor Pogromen in das Dorf in der Steiermark verschlagen hat. Josephs Entscheidung wird zum Prüfstein für die Gemeinde.
Das Volksstück traf den Geschmack des liberalen Bürgertums, da es die Diskriminierung der Juden als ein unter Joseph II. bereits gelöstes Problem darstellte. Entsprechend ablehnend war die Reaktion kritischer jüdischer Kreise. (Wallstein Verlag)
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