Thomas Morus: "Utopia"

"Utopia" entstand im Jahre 1516 unter dem Titel "Ein wahrhaft herrliches, nicht weniger heilsames denn kurzweiliges Büchlein von der besten Verfassung des Staates und von der neuen Insel Utopia" (orig.: "Libellus vere aureus nec minus salutaris quam festivus de optimo reipublicae statu deque nova insula Utopia") und scheint, gemessen an den aktuellen politischen Problemen, noch immer bemerkenswerte Ideen zu enthalten.


Schöne alte Welt

Allgemeines
Vermutlich gibt es so gut wie niemanden, dem die Begriffe "Utopie" oder "utopisch" fremd sind. Aber die Gruppe derer, die den Ursprung dieser Wörter kennen, ist möglicherweise viel kleiner.
Der Manesse Verlag hat im Rahmen seiner Künstleredition dieses bedeutende Frühwerk der europäischen Literatur in der Übersetzung von Jacques Laager neu aufgelegt. Das Werk, welches das Genre der "Utopie" begründete, ist auch als Hörbuch, erschienen bei Eichborn/Lido, als ausgezeichnete Lesung von Ulrich Matthes erhältlich.

Das Buch
"Utopia" setzt sich aus zwei Teilen zusammen, wobei Morus den zweiten, die Idealgesellschaft betreffend, zuerst verfasst und den ersten "aus dem Stegreif" geschrieben und nachträglich eingefügt hat. So erklären sich auch manche Ungereimtheiten zwischen den einzelnen Passagen.
Das zweite Buch befasst sich ausführlich mit allen nur denkbaren Teilbereichen einer Gesellschaft wie z. B. der Beamten- und Handwerkerschaft, Tugend und Lust, Literatur und Kunst, Staatsvermögen, Religion, Militär, Sozialverhalten usw., wobei die dargestellten Idealzustände nicht unbedingt die Meinung Morus' widerspiegelt. Dabei bedient sich der Autor auf geniale Weise der Formen der Ironie und Satire, um den Leser dazu zu bewegen, die Ernsthaftigkeit des Geschriebenen zu hinterfragen. Um diesen Effekt zu verstärken, hat der Verlag die Eigennamen in der ursprünglichen Form behalten und ein umfangreiches Verzeichnis beigefügt, welches erheblich dazu beiträgt, die gewollten Anspielungen zu erkennen. Morus war nicht nur Autor, sondern auch englischer Lordkanzler und Mitglied des Parlaments. In diesen Positionen hatte er gewichtigen Einfluss auf die damalige englische Politik, und ihm waren die herrschenden Missstände nur zu gut bekannt.
Der Roman beginnt damit, dass der Ich-Erzähler anlässlich einer diplomatischen Mission in Antwerpen Raphael Hythlodaeus kennen lernt. Dieser hat den berühmten Seefahrer Amerigo Vespucci begleitet, sich dann von diesem getrennt und fortan unbekannte Länder und Gegenden bereist. Diese Reisen führten ihn auch auf eine unbekannte Insel namens "Utopia", auf der er mehr als fünf Jahre verbrachte. Im zweiten Buch berichtet Raphael als Augenzeuge und Beobachter ausführlich von diesem Idealstaat in all seinen Facetten.
In einem Anhang sind der Buchausgabe die Vorworte der einzelnen Ausgaben sowie ein ausführliches Nachwort des Übersetzers beigefügt .

Wirkung
Der Einfluss von Thomas Morus' "Utopia" dauert bis in die Neuzeit fort, bekannteste Nachfolger sind wohl Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" und Orwells "1984". Aber auch Defoes "Robinson Crusoe", Swifts "Gullivers Reisen" und H. G. Wells' "Die Zeitmaschine" entstanden unter dem Einfluss Morus'. Merkwürdigerweise hatte für  Marx, dessen "Kommunistisches Manifest" einige Ähnlichkeiten mit dem beschriebenen Idealstaat aufweist, "Utopia" als "bloße fantastische Schilderung der zukünftigen Gesellschaft" keine besondere Bedeutung.

Das Hörbuch
Das Hörbuch beschränkt sich "nur" auf den wichtigen zweiten Teil des Buches, der von der geheimnisvollen Insel handelt. Ulrich Matthes liest den Text in einem ruhigen, ausdrucksvollen, die ironischen Anspielungen geschickt betonenden Sprachrhythmus. Dabei gelingt es ihm mühelos, den Hörer für die feinen Details des Texts zu sensibilisieren und über die gesamte Laufzeit zu fesseln. Die Ausstattung des Hörbuchs ist, wieder einmal, besonders gelungen. In der schön gestalteten Aufbewahrungshülle befindet sich überdies ein ausführliches, äußerst informatives Begleitheft, das auch die wichtige Namensliste enthält. Dem Medium Hörbuch wird besondere Rechnung getragen durch die maximale Ausnutzung der CD-Laufzeit sowie eine aussagekräftige Titelliste, die das Wiederfinden einzelner Textstellen erleichtert.

Fazit
Ein Klassiker der europäischen Literatur in gleich zwei Versionen. Beide sind üppig ausgestattet, liebevoll aufbereitet und weisen überdurchschnittliches Bonusmaterial auf. Obwohl fast 500 Jahre alt, erhält man hier keine verstaubte Prosa, sondern eine überraschend zeitgemäße Wunschvorstellung einer ironisch verbrämten Gesellschaftsutopie, deren Realitätsnähe oder, vielleicht in Teilbereichen, wünschenswerte Umsetzbarkeit jeder Leser/Hörer für sich selbst ergründen kann.

(Wolfgang Haan; 12/2005)


Thomas Morus: "Utopia"
Hörbuch:
Lido/Eichborn, 2005. 2 CDs, Laufzeit etwa 173 Minuten.
ISBN 3-8218-5390-5.
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Buch:
Manesse, 2004. 320 Seiten.
Aus dem Lateinischen übersetzt und mit einem Nachwort von Jacques Laager.
ISBN 3-7175-2054-7.
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Thomas Morus (1478-1535) gelang in London eine beispiellose politische Karriere, die ihn als ersten Laien ins Amt des britischen Großkanzlers führte. Sie fand ein jähes Ende, als er aus religiösen Gründen sein Einverständnis zur Scheidung Heinrichs VIII. verweigerte.
Der König ließ Morus gefangen nehmen und enthaupten.
Thomas Morus interessierte sich früh für Literatur und Philosophie, musste aber wie sein Vater die Rechte studieren und wurde Richter. Eine diplomatische Mission in den Niederlanden führte er so gut aus, dass der König ihn als Berater an den Hof holte, wo er, der Politik und dem Machtspiel im Grunde abgeneigt, bis zum Lordkanzler avancierte. Eine enge Freundschaft verband ihn mit Erasmus von Rotterdam, den er in seinem Haus in Chelsea zur Niederschrift von "Lob der Narrheit" anregte. Er selbst begann in Holland mit seinem Meisterwerk "Utopia", das 1516 erschien. Als strenggläubiger Christ verweigerte er Heinrich VIII. den Eid, als dieser sich zum Oberhaupt der englischen Kirche erklärte, und wurde als Hochverräter 1535 hingerichtet. Er starb als "the king's good servant, but God's first" und wurde 400 Jahre später von der römisch-katholischen Kirche heiliggesprochen.