Christian Morgenstern: "Alle Galgenlieder"


Christian Morgenstern, welcher am 6. Mai 1871 in München aufging und am 31. März 1914 in Meran versank, ist in der Literaturgeschichte als großer Humorist, Pionier des Absurden und Schöpfer einer neuen Sprachästhetik bekannt geworden.

Teils durch die häufigen Ortswechsel seines Vaters, eines bekannten Landschaftsmalers, teils durch eine frühe Kränklichkeit (welche sich zu einer veritablen Tuberkulose entwickeln und ihn schließlich auch dahinraffen sollte) davor bewahrt, regelmäßig die Schulbank zu drücken, dürfte er diesen Zustand relativer Freiheit insgesamt recht liebgewonnen haben - auch das Militär und ein Jusstudium vermochten ihn nicht lange in Beschlag zu nehmen; stattdessen verfiel der junge Mann zusehends absonderlichen Ideen wie zum Beispiel Seelenheil, Dichtkunst und Nietzschelektüre. Anno 1894 zog er nach Berlin, wo er als Journalist, später auch als Dramaturg, Übersetzer (von Henrik Ibsen) und Lektor tätig wurde und bald auch eigene Lyrik veröffentlichte. Neben seinem Leben in der Berliner Künstlerszene blieb Morgenstern ein Sinnsuchender, der sich intensiv mit dem Buddhismus und christlichen Mystikern wie Meister Eckhart und Jakob Böhme auseinandersetzte. 1906 bescherte ihm ein mystisches Einheitserlebnis die Auflösung aller metafysischer Zweifel, 1908 fand er in der Anthroposofie so etwas wie eine geistige Heimat; Rudolf Steiner höchstselbst hielt schließlich die Totenrede an Morgensterns Grab, wofür sich der Dichter mit seinem letzten, dem Anthroposofen gewidmeten (und naturgemäß posthum erschienenen) Gedichtband bedankte.

Christian Morgensterns Liebeslyrik und seine spirituellen Gedichte sind weitgehend unbekannt geblieben, wohl gibt es einige sehr schöne Sachen darunter, doch sind diese sprachlich konventionell ausgefallen, der Inhalt ist es, der zählt.
Nachgerade umgekehrt verhält es sich mit seinem humoristischen Werk, für welches ihm der Ruhm noch vieler Nachwelten gewiss ist und welches die vorliegende Ausgabe gesammelt präsentiert. Der Ursprung der meisten Galgenlieder fällt in das Jahr 1895 (veröffentlicht wurden sie allerdings erst 1905), als Morgenstern mit sieben Gleichgesinnten regelmäßig zusammenkam, um in einem sonderbaren Kult (worin er selbst das Hochamt des Rabenaas, welcher das Mysterium verwest, innehatte) und mit gehörigem Galgenhumor, in der Mitte zwischen Mensch und Universum sozusagen, der Zeit die Zähne zu zeigen. Am Anfang des Gedichtbands steht ein Motto Nietzsches, wonach im echten Manne ein Kind steckt, das spielen will. Äußerst verspielt geht es denn auch wirklich in seinen Galgenliedern zu, nicht bloße Kindsköpfigkeit allerdings soll sich dabei austoben, sondern - noch einmal der Dichter in Anlehnung an den Filosofen - eine Umwortung aller Worte ist anvisiert, ein freier Umgang mit der Sprache, welcher durch seine hemmungslosen Absurditäten das Wort vom damit üblicherweise verbundenen Sinn und Gefühl trennt und solchermaßen eine Frischzellenkur des Geistes bewirkt. Ob er beim Verfassen der Galgenlieder an Kulturkritik und Sprachtheorien gedacht hat, möchte ich allerdings bezweifeln. In seiner Einleitung spricht Morgenstern auch von einer bitter notwendigen Gegenbewegung zum herrschenden Zeitgeist voller Fortschrittswahn, Vereinheitlichungstendenzen, Materialismus, Bierernst, bürgerlicher Steifheit, Fantasielosigkeit, sturem Rationalismus und dergleichen Abscheulichkeiten mehr. Da ich mir aber nicht ganz sicher bin, ob ich ihn richtig verstanden habe, möchte ich ihn, mit dem letzten Satz seiner Einleitung, selbst zu Wort kommen lassen:

" ... Es darf daher getrost, was auch von allen, deren Sinne, weil sie unter Sternen, die, wie der Dichter sagt: 'dörren, statt zu leuchten', geboren sind, vertrocknet sind, behauptet wird, enthauptet werden, daß hier einem sozumaßen und im Sinne der Zeit, dieselbe im Negativen als Hydra gesehen, hydratherapeutischen Moment ersten Ranges - immer angesichts dessen, daß, wie oben, keine mit Rosenfingern den springenden Punkt ihrer schlechthin unvoreingenommenen Hoffnung auf eine, sagen wir, schwansinnige oder wesentielle Erweiterung des natürlichen Stoffgebiets zusamt mit der Freiheit des Individuums vor dem Gesetz ihrer Volksseele zu verraten sich zu entbrechen den Mut, was sage ich, die Verruchtheit haben wird, einem Moment, wie ihm Handel, Wandel, Kunst und Wissenschaft allüberall dieselbe Erscheinung, dieselbe Frequenz den Arm bieten, und welches bei allem, ja vielleicht gerade trotz allem, als ein mehr oder minder modulationsfähiger Ausdruck einer ganz bestimmten und im weitesten Verfolge excösen Weltauffasserraumwortkindundkunstanschauung kaum mehr zu unterschlagen versucht werden zu wollen vermag - gegenübergestanden und beigewohnt werden zu dürfen gelten lassen zu müssen sein möchte."

(fritz; 03/2004)


Christian Morgenstern: "Alle Galgenlieder"

Zu einer CD-Version der Galgenlieder?