Michel de Montaigne: "Tagebuch einer Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland"
Reisen
eines interessierten Hypochonders
"Beschwerte man sich, dass er die Gesellschaft oft kreuz und
quer herumführe, so dass man nicht selten fast wieder zum
Ausgangspunkt gelange - das tat er übrigens wirklich: wenn er
von irgend einer Sehenswürdigkeit in der Nähe,
hörte oder sonst irgend eine Gelegenheit lockte,
änderte er: häufig die Route -, antwortete Herr de
Montaigne, er wolle, immer nur genau dorthin, wo er sich gerade
befinde; für ihn gebe es keine Um- und schon gar keine
Irrwege, da er nur bestrebt sei, von einem fremden Ort zu einem anderen
zu schweifen. Solange er nicht dieselbe Strecke zweimal
zurücklege und dieselbe Stadt zweimal besuche, werde er seinem
eigentlichen Plan nicht untreu." (Seite 135)
Michel de Montaigne
(28.02.1533-13.09.1592) ist vor allem durch seine
1580 erschienen moralisch-philosophischen Essais bekannt; erst fast 200
Jahre nach seinem Tod fand man durch Zufall sein Reisetagebuch aus den
Jahren 1580 und 1581.
Aus der Umgebung von Paris zieht er über das heutige
Ostfrankreich und Elsass nach Basel, von dort weiter an den Bodensee.
Die Fuggerstadt Augsburg, in der er vier Tage verbringt, bezeichnet er
als die schönste Stadt Deutschlands. Von dort reist er nach
Süden, über Innsbruck und den Brenner nach Bozen und
weiter über die Sprachgrenze nach Trient, dann über
Venedig und Florenz nach Rom. In der Papststadt bleibt er fast ein
halbes Jahr, bereist dann die Adriaküste und die
nördliche
Toskana.
Während eines weiteren Aufenthalts
in Rom empfängt er ein Schreiben, in dem ihm mitgeteilt wird,
dass er zum Bürgermeister seiner Heimatstadt Bordeaux
gewählt wurde: In nur eineinhalb Monaten reitet er aus
Mittelitalien zurück an die Atlantikküste.
Montaigne ist kein Pilger, auch wenn er an den Religionen
interessiert ist und genauestens notiert, ob die Menschen, denen er auf
den Reisen begegnet, katholisch, lutherisch oder calvinistisch sind.
Distanziert diktiert er Schilderungen über die feindselige
Konkurrenz zwischen den protestantischen Gruppen; mit neugierigem
Interesse beobachtet er Riten wie den päpstlichen
Fußkuss, einen Exorzismus oder die Beschneidung eines
jüdischen Knaben in einer römischen Synagoge. In
Loretto lässt er eine Votivtafel mit seinem Wappen anbringen.
Die römischen Altertümer behandelt er mit demselben
Interesse wie seine körperlichen Leiden. Penibelst notiert er
die Ausscheidungen von Harnsteinen und Schmerzen im Urogenitalbereich.
Das gleiche Interesse gilt der Ausstattung der Gästezimmer,
vor allem dem Zustand der Betten. Linderungen seiner Leiden erhofft er
sich in den italienischen Heilbädern, vor allem in der
Umgebung von Lucca.
Dazwischen finden sich Klagen über hohe Pferdepreise und
betrügerische Wirte, Notizen zu Essgewohnheiten und zur
Gefälligkeit der örtlichen Damen. An Augsburg und
Lucca werden nahezu alle danach besuchten Städte gemessen, aus
den Vergleichen wächst das Weltbild des reisenden Philosophen.
Dieses Tagebuch gefällt durch die scheinbar zufällige
- und daher kurzweilige - Aneinanderreihung von Beobachtungen des
Neuen, dem sich Montaigne unentdeckt nähern möchte.
Nichts ist ihm mehr zuwider, als sogleich als Fremder erkannt zu
werden. Es zeigt, wie sich ein freier und gebildeter (und zwangsweise
wohl auch vermögender) Mensch der
Renaissance mit seiner
Umgebung auseinandersetzt, über Begegnungen und seinen eigenen
Körper denkt. Während der Reisen entsteht eine neue
Beziehung zwischen Mensch und Umgebung, entwickelt der gelehrte
Verfasser der Essais ein staunendes und neugieriges Ich, an dem auch
die Leser teilhaben können. Reisen ist für Montaigne
ein äußerst individuelles Vergnügen und
Teil seiner persönlichen Entfaltung. Es wäre wohl
nicht uninteressant, dem entgegenzuhalten, welche individuellen
Erlebnisse und Eindrücke heutige Massentouristen in einem Blog
festhalten, ob sie denn überhaupt vergleichbare Impressionen
erfahren.
Freilich hätte ich mir - mehr als vierhundert Jahre nach der
Reise! - manchmal einige noch weitere und genauere geografische und
kulturhistorische Details über die Alpen, das Leben in der
Stadt und das Leben der Menschen gewünscht. Doch wer einen
ganzen Tag im Sattel sitzt und sich abends in einem verwanzten,
ungewohnten und oft zu kleinen Bett wälzen muss, dem nehme ich
nicht übel, dass er sich dann auch kurz fasst.
(Wolfgang Moser; 01/2008)
Michel
de Montaigne: "Tagebuch einer
Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland"
Aus dem Französischen von Ulrich Bossier.
Mit einem Vorwort von Wilhelm Weigand.
Diogenes, 2007. 432 Seiten.
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Noch
ein Buchtipp:
Hans Peter Balmer: "Montaignes Essayistik"
Montaigne bildet eine Ausnahme in der Hauptströmung der
westlichen Tradition.
Während in Frankreich im letzten Drittel des sechzehnten
Jahrhunderts
fanatische Religionskriege wüten, ist er auf
Ausgleich und Dialog bedacht. Er verfasst "Essais,
Erprobungen des Herrn von
Montaigne", etwas ganz Neuartiges, die
erste philosophisch relevante Veröffentlichung
in französischer Sprache. Bestandteil der
Weltliteratur, verkörpern sie seitdem
aufgrund ihrer humanistischen Weisheit und
kosmopolitischen Toleranz die maßgebliche
Protomoderne.
Montaignes Weg führt von der Selbstschilderung zur
Beschreibung der Umstände und Maßgaben des
Menschseins insgesamt. Von den Problemen einer rationalen, sogenannten
Natürlichen
Theologie aus findet er zur Neubegründung der Skepsis. Was
weiß ich? - so die allem
vorangehende Frage.
Sokratisch wird das Philosophieren betrieben,
inmitten von Menschen
und Dingen, nicht an abstrahierten Ursachen. Gegenüber dem
herkömmlichen Platonismus
mit seiner Axiomatik des Unwandelbaren und Ewigen ergibt sich eine
Umwertung
in Richtung einer Weltkonzeption der Fluktuanz. Veränderung
und Vielfalt werden
zu Zeichen der Fülle und der Lebendigkeit.
Gewissheit des Wissens und restlose Selbsterkenntnis mögen
unerreichbar bleiben, nicht aber Loyalität gegenüber
der menschlichen Grundverfassung
und die Befähigung, das Dasein recht genießen zu
können.
Montaignes Essayistik ist so der niemals zu
Ende zu führende Versuch, in der Selbsterkundung zugleich
der menschlichen Grundbefindlichkeit eingedenk zu sein. Über
sie, die sogar
im Einzelnen, fern jeder zwanghaften Identität, unweigerlich
als etwas
Uneinheitliches sich zeigt, will Montaigne
Verständigung ermöglichen, in gehörig
komplexer Suchbewegung, essayistisch-experimentell.
So gewinnt er Einsichten, die heute, da die geopolitische Situation
erneut als Religionskrieg konzipiert erscheint und an Stelle von
Toleranz
wiederum Polarisierung und Fanatisierung an
der Tagesordnung sind, erst recht interessieren müssen. (A.
Francke Verlag)
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