Michel de Montaigne: "Von der Kunst, das Leben zu lieben"
Herausgegeben, aus den Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Hans Stilett
Einem
Denker wie Michel de
Montaigne gerecht werden, heißt in erster Linie seine und
unsere Zeit verstehen
wollen. Natürlich mag es auch im Belieben eines jeden Lesers
stehen, sich ob
des einen oder anderen Wortspiels des galanten Franzosen einfach nur zu
erheitern oder zu besinnen, doch was ist ohne eine kritische Reflexion
schon
erreicht? Der einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie entstammende Michel
de
Montaigne, dessen aphoristisches Werk uns in einer Übersetzung
von Hans Stilett
somit zu Gemüte gebracht wird, war zu seiner Zeit (1533-1592)
ein Mann von
hoher Bildung. Sozusagen ein Gelehrter, der, wohl um die
herrschaftliche
Vermittlung von Bildungswissen wissend, zur Schulgelehrtheit auf
Distanz blieb.
Was ihm als Kind jener Tage fehlte, wird bei Lektüre des
Buches rasch klar: Ein
soziologisch differenzierender Blick auf das, was dem Betrachter in
Gestalt
scheinbarer Unveränderlichkeiten entgegentritt. Montaignes
Menschenkunde ist
notgedrungen bar modernistischer Deutungsmuster, die so manchem
gegenwärtigen
Zeitgenossen als selbstverständlich erscheinen. Montaigne
spricht deswegen auch
rasch einmal von der Natur des Weibes und des Mannes, von
völkischen
Charaktertypen ("grobschlächtiger Deutscher",
"amouröser Italiener")
und gibt solcherart Trivialitäten zur Schau, die heutzutage
selbst das
schlichte Gemüt zum Widerspruch reizen mögen.
Was nun also wie ein Manko wirkt, ist aus historischer Perspektive
gesehen
dieses keineswegs. Montaigne mag zwar einer seiner Zeit
gemäßen
Typologisierungswut
anhängen, die zu wissen vorgibt, was typischerweise ist,
doch blitzt bei ihm mit Beständigkeit ein intellektueller
Heroismus durch, der
in diesen Dingen nach Überwindung seiner Selbst strebt. Die
Frauen, ja natürlich,
sie sind so und so, aber leben in einer Sittenordnung, die ihnen das
Patriarchat übergestülpt hat, die also
Männersache und nicht Frauensache ist!
Polen, Deutsche, Italiener und Franzosen, auch sie sind so und so, aber
dem
Kosmopoliten sind sie alle gleich lieb und wert. Was nun denn so
harmlos
einherschreitet, enthält in der Tat Dynamit. Eine Erkenntnis,
die nicht nur der
Leser bei der Lektüre haben wird, sondern die den schwarz
berockten Wahrheitswächtern
jener fernen Tage ebenso wenig verborgen geblieben ist. Als
romantisierenden
Propagandisten des Idealbilds vom "Edlen Wilden" wollten und konnten
sie
Montaigne gerne tolerieren, solange er sich nicht darüber
ausließ, dass der
vermeintlichen Barbaren Religion, ihre Gesellschaftsordnung und ihr
Gebrauch der
Dinge nicht weniger Respekt und Wertschätzung verdiene als die
Lebensform der
christlichabendländisch geprägten Europäer.
Und Montaigne ging sogar noch
weiter, wenn er meinte, jene Wilden seien so wild, wie edle
Wildfrüchte wild
sind. In ihnen würden die ursprünglichsten und
heilsamsten, die wahren
Eigenschaften und Kräfte der Natur lebendig und
wirkungsmächtig, und es sei
verdrießlich, dass dem verehrten Platon die Kenntnis jener
unverfälschten
Menschen fehlte, die in ihrer ganzen Unschuld dem von seiner
Philosophie
ersehnten Idealzustand glichen.
"Dies sind Geschlechter, die fürwahr Natur im Urbeginn gebar",
schwärmt
Montaigne. "Hier haben wir ein Volk, würde ich zu
Platon sagen, in dem es
keinerlei Handel gibt, keine Kenntnis von Buchstaben, keine
Rechenlehre, keine
Bezeichnung für Behörde oder Obrigkeit, keine
Dienstbarkeiten, keinen Reichtum
und keine Armut; ... Weit entfernt von solcher Vollkommenheit
würde Platon
sogar seinen idealen Staat
finden, sähe er diese Menschen, frisch aus der Götter
Hand." Diese Zeilen mussten provozieren. Die aus heutiger
Sicht vielleicht
nicht mehr ganz unproblematische Verklärung des Menschen mit
naturnaher
Lebensweise zum "Edlen Wilden" schlägt in Herrschafts-,
Gesellschafts- und
Religionskritik um. Die Obrigkeit erlangt über diese Zeilen
einen schalen
Geschmack; wird anarchistisch subversiert. Der Mensch von
natürlichem Adel
entspringt der Götter Hand; weder ist er Geschöpf des
einen Gottes noch die
Verfeinerung roher Menschennatur in der Zivilisation. Der Hinweis auf
Platon
macht nur zu klar, dass der christlich geformte Mensch das Produkt
einer
Dekadenz sein muss, hingegen die noch nicht missionierten Wilden eine
vorchristliche Vollkommenheit verkörpern, die anzutasten einer
schweren Versündigung
gegen das Vornehme im Leben gleichkäme.
Montaigne aus dem Weg zu räumen, seine Bücher zu
verbieten, war nicht gut möglich,
denn allzu populär war der berühmte Essayist. Man
begnügte sich vorerst
damit, dem Ketzer schlimme Konsequenzen anzudrohen, sollte er sich
nicht
zuvorkommend in Selbstzensur üben. Mehrmals wurde der
Unbequeme überfallen und
übel zugerichtet. Schwarzer Terror überschattete das
Licht aufgeklärter
Vernunft. Es half alles nichts. Montaigne ließ sich den Mund
nicht verbieten.
Als unabkömmlicher Vermittler in blutigen Religionskonflikten
rang er den
Autoritäten das Privileg seiner Freigeistigkeit ab. Erst lange
nach Montaignes
Tod konnte der Vatikan im Jahre 1676 es wagen, die
ESSAIS auf
den
Index zu
setzen. Wenn wir Montaigne also heute lesen, seine nebst
allfälliger "Trivialitäten" auch durchaus ebenso
vielschichtige wie originelle
Weltsicht und Zeitkritik würdigen, so sollten wir die unserer
wissenschaftlichen Bildung inhärente Arroganz
gegenüber früheren Denkweisen
tunlichst beiseite lassen und vielmehr den Heldenmut rühmen,
dessen es
seinerzeit bedurfte, um zu sagen, was Montaigne gesagt hat. Montaignes
Schriften
ergeben in Summe das Manifest einer vom Geist tollkühner
Unbeugsamkeit
getragenen Kultur der Aufklärung, die dem neuzeitlichen
Menschen den Weg zu
einem Dasein in Mündigkeit und Freiheit ebnen half.
(Harald Schulz; 12/2007)
Michel
de
Montaigne: "Von der Kunst, das Leben zu lieben"
Herausgegeben, aus den Französischen übersetzt und
mit einem Nachwort von Hans
Stilett.
dtv, 2007. 304 Seiten.
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