Nasrollah Monschi: "Kalila und Dimna"

Fabeln aus dem klassischen Persien


Orientalischer Fürstenspiegel zwischen Machiavelli und Koran

Wie schon der Klappentext verrät, bildet "Kalila und Dimna eine uralte Fabelsammlung, die in Indien entstand und über Persien und Arabien den Weg durch die gesamte Welt nahm"; das Werk "ist ein Klassiker im besten, lebendigsten Sinn des Wortes". Das vorliegende Buch in der Fassung des mittelalterlichen Erzählers Nasrollah Monschi wurde von den beiden an der Universität Heidelberg lehrenden Iranisten Seyfeddin Najmabadi und Siegfried Weber in moderne deutsche Sprache übertragen, in der auf altertümliche Formulierungen bewusst verzichtet wird, um das Fabelkompendium einer breiteren Leserschaft - außerhalb des akademischen Betriebes - näher zu bringen. Erschienen ist das Buch bei C.H. Beck ("Neue Orientalische Reihe") - in der für den Verlag kennzeichnenden gediegenen Aufmachung, die dem Leser schon optisch vermittelt, dass ein literarischer Schatz in Händen liegt.

Die Wurzeln der Erzählungen rund um die ungleichen Schakalbrüder Kalila (der Besonnene) und Dimna (der Skrupellose) liegen im Indien des ausgehenden 3. Jahrhunderts nach Christus - und zwar im "Pantschatantra" ("Fünf Bücher von lehrhaften Erzählungen"), entstanden in Kaschmir, niedergeschrieben in Sanskrit. Als Autor gilt der Pandit Wischnu Scharma, dessen Urfassung aber leider nicht mehr erhalten ist. Freilich hießen die Schakale im indischen Text noch Karataka und Damanaka. Ihre bis heute gebräuchlichen Namen verleiht den beiden erst der persische Arzt Borzuje, der im Auftrag seines weltoffenen Herrschers Khosrou I. die Fabelsammlung ins Pahlawi, das Mittelpersische (also jene Sprache vor der Islamisierung), überträgt. Um die Geschichten ins passende Lokalkolorit einzufärben, wechselten auch einige Tiergattungen, so mussten Krokodile und Mungos Schildkröten bzw. Wieseln Platz machen.

Gegen 570 überträgt der christliche Geistliche Bodh die Fabeln um Kalila und Dimna ins Syrische, eine der großen Kultur- und Liturgiesprachen der damaligen Zeit. Im 10. Jh. erscheint die erste Version in Neupersisch, welche allerdings Fragment bleibt. Zwischen 1143 und 1145 nimmt sich Nasrollah Monschi des Stoffes an und gebiert jene Prosafassung, die bis heute als "Kalila wa Dimna" im Iran im Umlauf ist. Im 16. Jahrhundert entstehen weitere Adaptionen des Fabelkreises - in schwülstigem Arabisch gehalten. Auf Latein zirkuliert bereits drei Jh. zuvor der "Liber Kalilae et Dimnae" des Johannes von Capua, auf dem die erste deutsche Übersetzung beruht: "Das Buch der Beispiele der alten Weisen", Antonius von Pforr, circa 1500.

Von Anfang an war "Kalila und Dimna" nicht zur Volkslektüre gedacht, sondern als Lehrmaterial heranreifender Adliger, als "Fürstenspiegel". Um dabei nicht das Risiko einzugehen, hochgestellte Persönlichkeiten zu beleidigen, bedienten sich die Weisen von Alters her des Instrumentariums der Fabel, ein praktikables literarisches Mittel, auf dem schon Äsop metaphernreich zu spielen wusste. Schließlich konnte allzu direkt vorgetragene Kritik oder Zurechtweisung gegenüber der Obrigkeit in früheren Zeitaltern auch den gelehrtesten Kopf leicht um seinen Kragen bringen. "Kalila und Dimna" ist kein in sich geschlossenes Werk, das aufgrund seiner Bearbeitung zu unterschiedlichen Zeitaltern und in verschiedenen Kulturkreisen oft auch Widersprüchliches vermittelt. Fatalistische Ideen der Inder finden sich darin ebenso wie weltabgewandte Betrachtungen des Buddhismus oder stark moralisierende Texte islamischer Prägung. Nasrollah Monschi baut zur sittlichen Belehrung in die Fabelhandlung immer wieder Koransprüche ein. Wer jetzt allerdings zu glauben neigt, "Kalila und Dimna" sei ein langweiliges, streitsüchtigen Theologen oder Philosophen vorbehaltenes Sammelsurium, der geht in die gedankliche Irre.

Regelmäßig werden kuriose Begebenheiten eingeflochten, so dass die Handlung "auf unterhaltsame Art einen didaktischen Wert erhält" (die Herausgeber).
Beispiel gefällig? Eine Bordellinhaberin hatte einst eine wunderhübsche, faszinierende Kurtisane, der alle Männerherzen zu Füßen lagen, unter ihren Fittichen. Natürlich wollte die Kupplerin ihrer besten Einnahmequelle nicht verlustig werden - und als das Mädchen einem Galan ihre Gunst kostenlos, aus Liebe, gab, griff die Bordellchefin zu drastischen Mitteln: "Sie hatte den beiden solange schwere Weine kredenzt, bis sie betrunken und ganz benommen waren. Sobald beide in den Schlaf gefallen waren, füllte sie etwas Gift in ein Schilfrohr und setzte dessen eines Ende an den After des Jünglings. Das andere Ende nahm sie in den Mund, um das Gift so in seinen After hineinzublasen zu können. Bevor ihr dies jedoch gelang, entschlüpfte dem Schläfer ein Wind - und das ganze Gift drang der Frau in den Hals, auf der Stelle hauchte sie röchelnd ihr Leben aus. Nicht umsonst sagt man: Die Belohnung dessen, der einem anderen den Hintern küsst, ist ein Wind."

Es geht auch weniger zotig zu: "Kein Herrscher ist gewaltiger als das Meer. Doch die Meeresnähe mag gefährlich enden", gilt es durch die Vieldeutigkeit hindurch zu ergründen. Dann wieder elitär: "Der Neid der Unfähigen führt den Untergang der Fähigen herbei. Wahrlich das Schöne wird von den Neidern mit Argwohn betrachtet. Wie auch die Blumendüfte dem Mistkäfer missfallen." Und - in Richtung Machiavelli: "Sei nie, wenn du auf etwas ganz und gar versessen bist, zufrieden mit dem, was unterhalb der Sterne zu bemessen ist. Sei beharrlich wie der Falke, und sieh, wie der Leopard etwas bedenkt (...). Vergiss doch gänzlich Nachtigall und Pfau. Dort ist nur Gezwitscher und hier nur Farbenschau."

Dass gerade Schakale die Hauptrolle spielen, mag unter anderem am Verhalten dieser Wildcaniden liegen, die aufgrund ihrer eher schwachen Statur dazu gezwungen sind, in freier Wildbahn möglichst kraftsparend zu agieren bzw. auch als Aasverwerter ihr Auslangen zu finden. Abgesehen vom ägyptischen Totengott Anubis genießt der Schakal im Orient geringes Ansehen. Ähnlich dem Fuchs unserer Märchen wird ihm allerhand Schurkerei auf den Pelz gedichtet. Dimna agiert in den Fabelepisoden als der machtgierige Pol der beiden Schakalbrüder. Im Abschnitt "Der Löwe und der Stier" gewinnt er geschickt das Vertrauen des Herrschers der Tiere und seines bulligen besten Getreuen, spannt sie gegen einander aus, bis Zwietracht und Kampf herrschen. Kalila hingegen fungiert als der besonnene Antipode, dem die Einheit des Reiches und die Stärke des Herrschers am Herzen liegt. Immer wieder gemahnt er seinen skrupellosen Bruder zu Einsicht und Umkehr. Anhand der beiden Schakale will Monschi künftigen Fürsten ein Gleichnis vermitteln, wie ein Land weise und kraftvoll zu regieren sei.

"Kalila und Dimna" ist trotz der scheinbar leichtfüßigen Fabelstruktur nicht als Zwischendurchlektüre geeignet. Viele der Aphorismen offenbaren sich erst nach mehrmaligem Lesen; lassen unterschiedliche Interpretationsweisen zu. Und gerade darin liegt der Wert dieser aus einem fremden Kulturkreis stammenden Sammlung von Weisheiten: Sie sind so simpel wie schön, verbunden mit der fast sprichwörtlichen Leichtigkeit und Mehrdeutigkeit des Orients.

(lostlobo; 01/2005)


Nasrollah Monschi: "Kalila und Dimna"
Herausgegeben und übersetzt von Seyfeddin Najmabadi und Siegfried Weber.
C.H. Beck, Neue Orientalische Bibliothek, 1996. 453 Seiten.
ISBN 3-406-40361-1.
ca. EUR 25,60.
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Zwei Buchtipps:

Nahal Tajadod: "Das unbekannte Persien. Magier, Ketzer und Christen"
Die Autorin, Iranerin und Sinologin, führt erzählend in eine unbekannte, faszinierende Welt ein: Persien im 3. bis 7. Jahrhundert, die Zeit des Niedergangs Roms bis zum Sieg des Islam. Sie greift auf alte Schriften zurück, die erst im 20. Jahrhundert aufgefunden wurden und bisher weitgehend unbekannt sind, und geht den religiösen Kräften nach, die die Welt damals erschütterten: Magier, die das Erbe Zarathustras hüteten, hinduistische und buddhistische Traditionen, der Prophet Mani, der zwischen die Religionsfronten gerät und hingerichtet wird, die wachsende Zahl von Christen und ihr Selbstverständnis.
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Navid Kermani wurde 1967 in Siegen geboren. Er ist promovierter Orientalist und lebt als Schriftsteller in Köln. Für sein akademisches und literarisches Werk wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt anno 2012 mit dem "Kleist-Preis". Im Jahr 2011 erschien bei Hanser sein großer Roman "Dein Name". (Hanser)
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