Thomas Vilgis: "Die Molekül-Küche"
Physik und Chemie des feinen Geschmacks
Was
im Kochtopf wirklich passiert
Manchmal möchte man als Hobbykoch und Freund guter
Küche allzu gern wissen, woran es liegt, dass die Eierschalen
trotz Abschreckens wieder einmal unerbittlich am Eiweiß
kleben. Und warum das Fleisch aus dem Supermarkt so viel Wasser
verliert und nach dem Braten zäh ist, das Fleisch vom Metzger
jedoch nicht. Wieso schmeckt ein vom Bäckermeister klassisch
mit Sauerteig
gebackenes Brot so viel besser als eines aus der Fabrik?
Überhaupt: Woraus entstehen eigentlich die leckeren
Düfte, die uns vor der Bäckerei und vor dem Backofen,
in dem der Braten brutzelt, sprichwörtlich das Wasser im Mund
zusammenlaufen lassen?
Diesen Fragen und etlichen weiteren geht der Physiker Thomas Vilgis in
seinem Buch "Die Molekül-Küche" auf den Grund. Denn
neben einem kleinen Anteil Biologie betreiben wir in der Küche
vor allem Physik und Chemie, und schon um der Optimierung der
Ergebnisse willen lohnt es sich, Vorgänge wie
Dünsten, Schmoren, Braten und Mayonnaiseschlagen auf
molekularer Ebene zu betrachten. Abgesehen davon ist das, was mit
unseren hoffentlich sorgfältig ausgewählten Zutaten
bei der Verarbeitung geschieht, ausgesprochen spannend; vor allem, wenn
die Vorgänge so gut verständlich und unterhaltsam
erläutert werden.
Wie vielseitig diese Thematik sein kann, zeigt schon das
Inhaltsverzeichnis mit folgenden übergeordneten Abschnitten:
Zum Auftakt - ein kleiner Aperitif; Das Auge isst mit - von Licht,
Elektronen und ErnährungsberaterInnen; Kleine Menge -
große Wirkung: aus der Fülle der Inhaltsstoffe; Kalt
und heiß: Was Temperatur bewirkt; Garen - ein (sanfter)
Temperaturschock; Die hohe Kunst der Zubereitung; Von Brühen,
Fonds und Saucen; Gepökelt und mariniert; Wie sich
Gegensätze vereinen lassen; Kleine Helfer in Speis und Trank;
Flüssiges wird fest; Schaumschlägereien; Was man aus
Milch so machen kann -
Käse und andere Spezialitäten;
Von Teigen, Plätzchen und anderen Backwerken;
Kaffee
& Co., die frühmorgendliche Perkolation;
Schokoladenverführung.
Damit etwa Fleisch schön zart und saftig wird beziehungsweise
bleibt, muss es eine Weile reifen. Von fleischeigenen Enzymen
gesteuerte Veränderungen bewirken die erwünschten
Eigenschaften. In Plastik eingeschweißte Supermarktware kann
diesen Prozess nicht ideal durchlaufen und schnurrt daher beim Braten
zusammen.
Wohlgerüche, die von knusprig gebräunten
Oberflächen ausgehen, werden durch so genannte
Maillard-Reaktionen aus Aminosäuren und Kohlehydraten erzeugt.
Die chemischen Formeln der duftenden Endprodukte sehen für den
Laien fast ein bisschen giftig aus, und manche von ihnen, wie
Acrylamid, stehen tatsächlich im Verdacht, in höheren
Konzentrationen - die wir in der guten Küche nicht erreichen -
potenziell krebserregend zu sein. Thomas Vilgis zeigt aber auch auf,
dass eine ausgewogene Ernährung einschließlich
bunter (und damit radikalfängerhaltiger) Gemüse
generell jedem Krebsrisiko entgegenwirkt.
In praktischer Hinsicht erweist sich beispielsweise das Wissen um die
Vorgänge bei den verschiedenen Zubereitungsarten als
ausgesprochen nützlich. Hat man erst einmal verstanden, was
sich beim Schmoren, Grillen, Braten und so weiter verschiedener
Fleischsorten (und Gemüsearten) auf molekularer Ebene
abspielt, kann künftig eigentlich nichts mehr schief gehen.
Dieses Buch ist im Grunde genommen eine hervorragende Kochschule. Eine
Fülle von einladenden Rezepten unterstreicht und
ergänzt die Erläuterungen; vom selbst hergestellten
Fond über höchst appetitliche Brühwurst und
Hühnerbrühe, die jedes Instantprodukt um
Längen schlägt, sowie zarten Sauerbraten und
exotische Kichererbsen mit Merguez bis hin zur echten Marseillaiser
Bouillabaisse gibt es die unterschiedlichsten Gerichte und
Grundzubereitungen. Hierzu sei angemerkt, dass der Autor auch
für diverse kulinarische Zeitschriften schreibt.
In gelegentlich saloppem, humorvollem Ton bringt der Autor dem Leser
(der für diese Lektüre keine naturwissenschaftliche
Ausbildung benötigt) die vielseitigen Interaktionen der
Nahrungsmoleküle und ihre Auswirkungen auf den Erfolg unserer
Kochkunst charmant näher. Viele anschauliche Grafiken
vertiefen das Verständnis. Ein gründliches Glossar am
Buchende bietet Erklärungen sowohl zu "Küchenlatein"
als auch naturwissenschaftlichen Fachausdrücken, und auch das
Register wurde sorgfältig erstellt. Das Korrektorat
hätte allerdings etwas sorgfältiger vorgenommen
werden können.
Ein ungewöhnliches Buch, das außer den theoretischen
Hintergründen der durch Kochschulen vermittelten Fertigkeiten
und Kenntnissen der Warenkunde sowie vielen interessanten Rezepten auf
jeden Fall einige Stunden spannender und aufschlussreicher
Lektüre bietet!
(Regina Károlyi; 12/2005)
Thomas Vilgis: "Die Molekül-Küche"
S. Hirzel Verlag, 2005. 216 Seiten.
ISBN 3-7776-1370-3.
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Prof. Dr. Thomas Vilgis ist theoretischer Physiker am Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz. Schon lange steht er am eigenen Herd, wo er mit Leidenschaft kocht. Über seine Erfahrungen schreibt er unter anderem in "essen & trinken", "Physik in unserer Zeit" und "Häuptling Eigener Herd". Sein Credo: Kreativität ist sowohl in der Küche als auch in der Wissenschaft die Zutat Nummer eins.