Linda Maria Koldau: "Die Moldau. Smetanas Zyklus 'Mein Vaterland'"


Das Hauptwerk des tschechischen Nationalkomponisten

Smetanas Werke "Die Moldau" und, wenn auch nicht in diesem Maße, "Aus Böhmens Hain und Flur", beide Bestandteile des Zyklus "Mein Vaterland", sind bei deutschsprachigen Musikfreunden bekannt und beliebt. "Die Moldau" dient häufig im schulischen Musikunterricht als eines der Paradebeispiele für Programmmusik.

Gerade dem heutigen nicht-tschechischen Hörer bleibt jedoch die große Bedeutung des Zyklus für die Tschechen des ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verborgen. Die Autorin des vorliegenden Buchs zeigt auf, wie Smetanas Musik für die von nationalen Gedanken beseelten Tschechen identitätsstiftend wirkte und ihnen in den schwierigsten Situationen ihrer Geschichte Mut gab, ihre Unabhängigkeit weiterhin anzustreben.

Zunächst gilt es, Bedřich Smetanas Rolle als tschechischer Nationalkomponist zu verstehen. Die Autorin erstellt eine kurze Biografie Smetanas vor dem Hintergrund der tschechischen Geschichte, die im 19. Jahrhundert im Rückblick hauptsächlich aus Fremdherrschaft und der Auflehnung dagegen bestand; insbesondere in der Habsburgermonarchie konnten die Tschechen erst spät gewisse Mitbestimmungsrechte und die Anerkennung ihrer Sprache erkämpfen. Für den aufrichtigen Patrioten Smetana, der bisher keine sonderliche Berühmtheit erlangt hatte, bot die nationale Bewegung die Gelegenheit, sich zu etablieren. In seinen Opern, insbesondere aber in "Mein Vaterland", verarbeitete er mythische Stoffe, die mit der Volksgründung und den heroischen Kämpfen der Tschechen (zum Beispiel im Rahmen der Hussitenkriege) gegen die Übermacht der deutschsprachigen Besatzer - sofern man das durchweg so bezeichnen kann, wie die Autorin deutlich macht, denn seit Jahrhunderten lebten in Böhmen Deutschstämmige und Tschechen zusammen. Die ersten Aufführungen von Teilen des Zyklus und erst recht des gesamten Werks wurden von den Tschechen intensiv gefeiert, denn diese verstanden sehr genau, worauf sich der Komponist bezog.

Der Großteil des Buchs befasst sich mit den einzelnen Stücken, vor allem mit dem verwendeten, überwiegend mythischen Stoff und der Ausführung durch Smetana. "Vyšehrad" zeichnet die Geburt des tschechischen Volkes auf dem legendären Burgberg dieses Namens durch die Stammesmutter Libuše und ihren Gemahl Přemysl. Prächtig wie die damalige, zu Smetanas Zeiten freilich völlig verfallene Festung ist natürlich das verwendete Hauptmotiv, das in den späteren Stücken des Zyklus immer wieder anklingt, auch in der darauf folgenden "Moldau", die als der tschechischste Fluss gilt, sozusagen als Lebensader des Landes, und deren Verlauf der Komponist mit seiner Musik folgt.

"Šárka" wiederum ist ein rein mythischer Stoff aus der Zeit unmittelbar nach dem Tod von Libuše und Přemysl; Libušes Gefolge aus kriegerischen jungen Frauen hat seinen Einfluss verloren und wird von Männern gejagt. Deren Anführer überlisten die Amazonen jedoch unter Aufbietung eines Lockvogels namens Šárka. Die Autorin zeigt auf, wie geschickt Smetana hier mit den Motiven arbeitet, die, wie im gesamten Zyklus, sehr einfach und einprägsam gehalten sind.

"Aus Böhmens Hain und Flur" könnte im Grunde ländliches Leben überall auf der Welt darstellen, doch viele Anspielungen auf nationale Elemente wurden nur von den Tschechen verstanden. "Tábor" und "Blaník", zwei Teile, die inhaltlich zusammengehören, haben hingegen einen ausschließlich nationalen Bezug, nämlich auf die Hussitenkriege mit dem für die Táboristen - eine militante Hussitengruppe - fatalen Ausgang und die legendenhafte Hoffnung auf eine Wiedererweckung des in einem Berg schlafenden Hussitenheeres und der Nation als solcher.

Ausführlich widmet sich die Autorin zudem der Rezeption des Zyklus zur Entstehungszeit und im 20. Jahrhundert, sowohl unter den Tschechen als auch im deutschsprachigen Raum, zumal in Österreich. Sie befasst sich zudem noch einmal mit der zuvor schon öfters angeschnittenen Frage des Zusammenhangs zwischen "Mein Vaterland" und der tschechischen Identität; hielt diese Musik doch sogar den Widerstand und Überlebenswillen tschechischer KZ-Häftlinge aufrecht.

Die Autorin legt anhand zahlreicher Quellen dar, wie Smetana die Rolle als Nationalkomponist annahm, und wie seine in dieser Hinsicht wichtigsten Werke, insbesondere natürlich "Mein Heimatland", rezipiert wurden. Die tschechischen Bestrebungen hin zu einem Nationalstaat werden ebenfalls sehr sensibel dargestellt und erläutert. Packend präsentieren sich zudem die Legenden, die Smetanas Zyklus prägen. Für den Leser entsteht so ein recht klares Bild der Hintergründe zu diesem Werk, und er wird ermutigt, sich auch einmal mit den außerhalb Tschechiens wenig gespielten Teilen zu befassen und das Gelesene darin wieder zu entdecken.

Im Buch werden die einzelnen Teile gleichberechtigt behandelt und sämtlich mithilfe zahlreicher Notenbeispiele auch aus musiktheoretischer Sicht intensiv erläutert. Man muss indes kein Berufsmusiker sein, um Smetanas Arbeit mit Motiven, Rhythmen und Dynamik nachvollziehen zu können, denn die Autorin weiß dies alles anschaulich zu erklären. Das Buch ist trotz der inhaltlichen Dichte angenehm zu lesen und lässt sich deshalb auch im Musikunterricht gut einsetzen, zumal der Zyklus, wie erwähnt, fachübergreifend interpretiert wird.

Ein bis zur letzten Seite hochinteressantes Buch für Liebhaber romantischer Musik und europäischer Kultur.

(Regina Károlyi; 06/2007)


Linda Maria Koldau: "Die Moldau. Smetanas Zyklus 'Mein Vaterland'"
Böhlau Verlag Köln, 2007. 197 Seiten.
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Linda M. Koldau ist Privatdozentin und Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Musikwissenschaft der Universität Frankfurt a.M.

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Noch ein Buchtipp:

"Smetana, Dvořák, Janáček. Musikerbriefe"
Ausgewählt von Alena Wagnerová zusammen mit Barbora Srámková

"Die verkaufte Braut" und "Die Moldau" sind Inbegriffe für die tschechische Musik, sie haben ihren Schöpfer Bedřich Smetana berühmt gemacht. Welches Schicksal aber verbarg sich hinter dem Ruhm zu Lebzeiten? Antonín Dvořák schuf in Amerika die Sinfonie "Aus der Neuen Welt" und wurde dort als Komponist und Dirigent gefeiert. Warum zog es ihn doch zurück nach Böhmen? Leoš Janáček und Kamila Stösslová verband eine Liebesgeschichte, die bis heute Rätsel aufgibt. War die unscheinbare Frau die Muse des Komponisten, die ihn während seiner produktivsten Jahre inspirierte? Dieses Buch gewährt Einblicke in die Privatkorrespondenzen der berühmten Komponisten Smetana, Dvořák und Janáček und zeigt eindrucksvoll die Höhen und Tiefen ihrer Lebenswege. Die Briefe erscheinen zum großen Teil erstmals auf Deutsch. Die Auswahl und Einleitung besorgte Alena Wagnerová, die in Deutschland durch Bücher über Milena Jesenská und über die Familie Kafka bekannt geworden ist. (DVA)
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