Rudolf Simek: "Mittelerde"

Tolkien und die germanische Mythologie


Etymologischer Reiseführer in den Tolkien-Kosmos

Über J.R.R. Tolkien (1892-1973) wird viel geschrieben - fast so viel wie von seinem Werk abgekupfert wird. Aber woher bezog der Hobbit-Schöpfer und Elben-Veredler selbst seine Epen schaffenden Einflüsse? Wissenschaftlich fundiert ist darüber im deutschsprachigen Raum bislang wenig zu Papier gebracht worden. Rudolf Simek, Professor für mittelalterliche deutsche und skandinavische Literatur an der Universität Bonn, hat sich dieser überfälligen Aufgabe angenommen. Das vorliegende Buch "geht den wichtigsten Namen, Stoffen und Motiven nach, die Tolkien der altskandinavischen Sagenwelt und Mythologie, den Eddas und Sagas des isländischen Mittelalters entnommen und in seiner neugeschaffenen Welt von Mittelerde verwendet hat."

Wenn Simek einleitend auf das Leben und Schaffen Tolkiens eingeht, schreibt er gewissermaßen über einen Kollegen. Denn J.R.R. verbrachte lange Jahre selbst als Literaturprofessor - an der Universität Oxford. Dort schloss Tolkien 1926 Bekanntschaft mit C.S. Lewis, dem Autor von "Die Chroniken von Narnia", einem anderen großen Fantastik-Zyklus. Lewis zählte wie Tolkien zum Kreis der Inklings ("Tintenkleckser"), jener Schrift- und Sprachgelehrten, die sich auch selbst literarisch betätigten. Außerdem gründete er den Kreis der Coalbiters ("Kohlenbeißer"), der mehrfach pro Trimester zur gemeinsamen Sagalektüre zusammenkam. Mit E.V. Gordon, dem Verfasser des bis heute benutzten Altnordisch-Lehrbuchs "An Introduction to Old Norse", hatte Tolkien den Viking Club gegründet. John Ronald Reuels mythologisch-historische Präferenzen bedürfen wohl keiner weiteren Untermauerung - sein Zugang zur germanischen Götter- und Heldenwelt war mit Inbrunst gepflastert.

Wie andere einschlägige Wissenschafter vor und nach ihm hat auch Tolkien den mittelalterlichen isländischen Gelehrten Snorri Sturluson (1178-1241) als Quelle für die Wiedergabe der altnordischen Mythen verwendet. Snorri war es auch, der dem alten Ausdruck midgardr ("umgrenztes/geschütztes Gebiet in der Mitte") die Bedeutung "Menschenland" verlieh - im Unterschied zu den Ländern der Götter bzw. Riesen. Vom Midgard der Edda ist es gedanklich wie phonetisch nur mehr ein kleiner Hüpfer nach Mittelerde, in jenen episch ausgedehnten Kosmos, der Tolkiens schriftstellerisches Schaffen fast zur Gänze ausfüllt. Diese vorzeitliche Welt besiedelte er mit Heroen und Bösewichten, schuf detaillierte geografische Darstellungen und entwickelte ausgefeilte linguistische Systeme, die wiederum ihrer ganz eigenen Schriftarten bedurften. Meister Tolkien war dabei ganz in seinem Element.

Rudolf Simek gliedert seine Tolkien-Analyse in insgesamt zehn thematisch unterschiedliche Kapitel. Bei der Vielzahl an neuen Informationen, vor allem Eigennamen, leistet das ans Buchende gestellte Register gute Nachschlagdienste. Der Anhang mit Literaturhinweisen ist für alle jene eine Orientierungshilfe, die gar nicht genug der literarischen Grabungsarbeiten bekommen können.

Stichwort "Orientierung": Im Abschnitt "Kosmographie und Kartographie" von Mittelerde deckt Simek auf, welche Entstehungswurzeln dieser heute so profan verwendete Begriff nach sich zieht. Christliche Weltkarten (mappae mundi) des Mittelalters waren nach Osten ausgerichtet, dort, wo das Heilige Land, der Orient, liegt. Sie waren "orientiert". J.R.R. Tolkiens kartografisches Konzept von Mittelerde orientierte sich im Speziellen nach der mappa mundi der Kathedrale von Hereford. Die meisten topografischen Namen in seinen Werken sind Ableitungen aus dem Altenglischen bzw. Altnordischen. Eine Ausnahme stellen die Elbenwohnstätten dar, deren Benennung stark kymrisch (= walisisch) geprägt ist.

Auch einer der Hobbits, Meriadoc, hat seinen Namensursprung im Keltischen, während Frodo phonetisch möglicherweise skandinavisch oder normannisch geprägt ist. Gandalf wird nur bei Tolkien zum halbgottähnlichen Magier, in der Edda führt ein gefinkelter Zwerg diesen Eigennamen, der "Zauber-Albe" bedeutet. "Alben" und "Elfen" vermengte J.R.R. zu "Elben". Im Altnordischen kannte man diese Sammelgattung mythologischer Wesen als álfar, im Altenglischen als ælfen. Snorri unterteilte sie in Licht-, Dunkel- und Schwarzalben, was in etwa Engeln, Dämonen und Zwergen gleichkommt. Richtig gelesen, auch Zwerge - Galadriel möge verzeihen - fielen im Mittelalter unter die "Elfen". Erst durch Shakespeares "Ein Sommernachtstraum" fand eine Veredlung und Einengung des Begriffs auf optisch attraktive, dem Menschen in vielerlei Hinsicht überlegene Lichtgestalten statt. Tolkien kultivierte diese Evolution im "Silmarillion" bzw. "Der Herr der Ringe". Detailfreudige Auskunft über anderweltliche Wesen aus heidnischer Vergangenheit liefert "Das Zwergenbuch" von Ditte und Giovanni Bandini.

Viel Aufschlussreiches gäbe es noch anzuführen, so z.B., dass Saurons weitblickendes Auge wohl auf den nordgermanischen Gott Odin zurückzuführen ist, der eines seiner Sehorgane im Tausch gegen die Weisheit opferte, oder dass das Heer der Untoten, welches Aragorn zur Hilfe eilt, ebenfalls auf Odin bzw. auf dessen Gefolgschaft gefallener Helden hinweist. Zudem zeigt Tolkiens Stil der Runenschrift starke Parallelen zum altenglischen Futhark.

Für Kurzweil-Suchende ist Rudolf Simeks "Mittelerde. Tolkien und die germanische Mythologie" denkbar ungeeignet, für den harten Kern der Mittelerde-Pilger bewährt sich das Buch hingegen als etymologischer Reiseführer.

(lostlobo; 08/2006)


Rudolf Simek: "Mittelerde"
C.H. Beck, 2005. 204 Seiten.
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