Jacques Le Goff, Nicolas Truong: "Die Geschichte des Körpers im Mittelalter"


So fühlte sich das Mittelalter an

Die Schule und der Lehrer
Dass die klassische Ereignisgeschichte nicht der Weisheit letzter Schluss sein konnte, ahnten bereits Generationen von Schülern an weiterführenden Schulen. Denn die Geschichtsschreibung wurde von großen militärischen und politischen Ereignissen geleitet und fragte nur selten danach, wie es den Menschen dabei eigentlich erging. Der Tod ganzer Dörfer und Landstriche wurde kurzerhand in Nebensätze ausgelagert, das Zerstören einer Lebensplanung gar interessierte praktisch niemanden. So weit dachten erst die Philosophen und Literaten der Aufklärung wieder, denn "Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gerichte sich endigt." schrieb einst Schiller, als er begann, Tragödien der Weltgeschichte auf die Bühne zu bringen.

Die beiden Historiker Lucien Febvre und Marc Bloch nahmen in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts die Kritik einiger Soziologen zum Anlass, die Methoden und Methodiken der Geschichtsschreibung zu überdenken. Heraus kam etwas, was teils unter dem Begriff Mentalitätsgeschichte läuft. 1929 gaben Febvre und Bloch die Zeitschrift Annales heraus, die den Namen für einen neue Historikergeneration gab, die als École des Annales bekannt wurde.

Der Autor Jacques Le Goff ist heute der bekannteste und fleißigste Vertreter dieser Annales-Schule und Verfasser einer ganzen Reihe Bücher zum Thema Mittelalter. Trotz oder vielleicht auch wegen seines hohen Alters von 83 Jahren publiziert er emsig.

Das Buch
Das Christentum schaffte es relativ schnell, die eigene Schrift umzudeuten und die paradiesische "Verfehlung" der Neugierde in eine sexuelle Verfehlung abzuändern und den Körper vollständig zu entwerten, wie Le Goff schreibt. Eine teils quellenwidrige Lesart deklassierte die Frauen zur puren Körperlichkeit, was letztlich auch im späteren Hexenwahn seinen Ausdruck fand. "Die Frau musste mit ihrem Körper den Hokuspokus der Theologen bezahlen, als sie die Erbsünde in eine sexuelle Verfehlung verwandelten.", schreibt der Autor. Dass selbst Frauen wie die Mystikerin Hildegard von Bingen diese weibliche Inferiorität eingestanden, bildet quasi den Schlussstein dieser Logik, die insbesondere - doch nicht nur - auf Augustinus zurückgeht. Selbst Papst Gregor der Große bezeichnete den Körper als "abscheuliches Gewand der Seele".

Über eine kurze Geschichte der Tränen geht es dann zum Lachen, das, da es den unteren Körperregionen entsprang, unrein war. Im Übrigen belegt das Neue Testament zwar, dass Jesus geweint habe, aber von Lachen war nicht die Rede. Und so besagte eine Ordensregel des Columban, dass "der, welcher unter der Kapuze gelacht hat [...], mit sechs Schlägen bestraft wird." Ab dem 12. Jahrhundert zog dann ein sittliches Lachen ein, doch das spöttische Lachen war immer noch vom Teufel verursacht. Wie fröhlich hätte die Geschichte werden können mit einem Gott, der lachen kann, fragt man sich da.

Das zweite Kapitel widmet sich dem Leben, Sterben und natürlich dem Bereich dazwischen, also der Krankheit. Körper und Geist bildeten im Christentum eine Einheit. Die alleinige Heilungshoheit lag bei Gott, und somit wurden Erkrankungen als Manifestationen der Verfehlung, der Sünde gesehen. Da war für medizinisches Wissen kein Platz. Es gab jedoch Ärzte, die da etwas deutlicher sahen und medizinisches Neuland betraten. Da dies jedoch gefährlich war, gaben sie die neuen Verfahren oft als Wissen der Antike oder arabischer Mediziner aus, um unverdächtig zu sein. Somit war der medizinische Stand im Mittelalter wohl höher als zumeist angenommen wird.

Es folgen Betrachtungen über Ernährung, über Unter- und Übergewicht, das Sterben und den Tod. Doch auch die Manieren des Mittelalters sind einer Betrachtung wert, denn es entwickelte sich eine gesellschaftliche Kodifizierung der Körpertechniken, da einfache körperliche Vorgänge wurden mit der Zeit unschicklich wurden.

Im letzten Kapitel wird der Körper als Metapher gesellschaftlicher, theologischer und politischer Systeme untersucht.

Fazit
Der eigene Körper hat die Menschen damals oft schon mehr interessiert als die kühnsten theoretischen Konstruktionen. Deswegen scheiterte auch das Mittelalter geistesgeschichtlich, denn es wurde als widersprüchlich, unsinnlich, oft als gewalttätig erfahren und erlebt - übrigens durchaus so wie die Herrschaft der Jakobiner. Und genau das, und hier muss man dem Autor zustimmen, kann man in herkömmlichen Büchern über das Mittelalter so nicht lesen.

Wenn man den methodischen Ansatz der longe durée zugrunde legt, der Merkmal der Annales-Schule ist, so kann man ohne Weiteres behaupten, dass die moralischen Ausläufer des Mittelalters bis in die Sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts reichten, bis die sexuelle Revolution - oder die Rückkehr zum antiken Normal - die letzten mittelalterlichen Gifte abbaute. Dieser durch Le Goff und die Annales vertretene Ansatz der Historiografie wird hoffentlich dazu beitragen, dass die vielfach noch klassische deutschsprachige historische Literatur sich wandeln möge.

(Klaus Prinz; 04/2007)


Jacques Le Goff, Nicolas Truong: "Die Geschichte des Körpers im Mittelalter"
(Originaltitel "Une histoire du corps au Moyen Age")
Aus dem Französischen von Renate Warttmann.
Klett-Cotta, 2007. 224 Seiten.
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