Jacques Le Goff: "Ritter, Einhorn, Troubadoure"
Helden und Wunder des Mittelalters
Mit
"Die
Geburt Europas im Mittelalter" beschrieb Jacques Le
Goff, wie tief das kollektive Unterbewusstsein des modernen Europas in
der Gedankenwelt des Mittelalters wurzelt. Im reich illustrierten
Prachtband (147 Abbildungen) "Ritter, Einhorn, Troubadoure"
versucht er, dieses gemeinsame "Volksgut" auf zwanzig
ausgewählte Begriffe zu reduzieren, zu konzentrieren, eine Art
Quintessenz des Mittelalters herauszufiltern, die immer noch lebendig
ist; sei es in Form von Gebäuden, Erzählungen oder
Filmen. Le Goff nimmt historische Details, stellt zwischen ihnen ein
Beziehungsgefüge her und extrapoliert auf die Gegenwart. Dabei
zeigt er, wie sehr Europa seine Mythen und Legenden braucht, seine
überzeichnete und idealisierte Vergangenheit, die im
jeweiligen Jetzt regelmäßig neu beschworen wird.
Die begriffliche Zwanzigschaft formiert wie folgt: Artus/Die
Kathedrale/Karl der Große/Die Burg/Ritter und Rittertum/Der
Cid/Kloster und Kreuzgang/Das Schlaraffenland/Der Jongleur/Das
Einhorn/Melusine/Merlin/Das wütende Heer, "La Mesnie
Hellequin"/Die
Päpstin Johanna/Renart/Robin
Hood/Roland/Tristan und Isolde/Der Troubadour und der
"trouvére"/Die Walküre. Es steht nicht an, hier
alle Kapitel einzeln zu behandeln, wohl aber einige besonders
hervorstechende.
Heroen und Anti-Helden
Bei seiner Auswahl von Helden (preux) verzichtet
Jacques Le Goff ganz bewusst auf biblische oder antike Figuren
wie König
David,
Alexander
den Großen oder
Caesar,
die
zwar in der westlichen Geisteswelt ihren fixen Platz haben, aber eben
nicht typisch europäisch sind. Stattdessen bedient er sich
Karls des Großen,
des "Rasenden Rolands" bzw. des
kastilischen Maurenbezwingers Rodrigo Diaz de Vivar, besser
bekannt als "El Cid" (abgeleitet vom arabischen "sayyid" für
„Herr“). Sie sind exemplarische christliche Helden,
die das katholische Abendland gegen den Islam verteidigten. In ihnen
verschwimmt das Historische mit dem Legendären, was Le Goff
zulässt, da er - im Einklang mit dem Konzept von "Ritter,
Einhorn, Troubadoure" - auf ein bildliches, symbolisches
Betrachten setzt. Der Leser soll diese Ritter und Paladine mit den
Augen monastischer Buch-Kollorateure oder prä-rafaelitischer
Maler sehen. Es gilt, ihren Wert als einheitsstiftende Sinnbilder
klarzumachen.
Damit sind wir bei Artus, dem Ideal des ritterlichen Königs
schlechthin. Beim Chronisten Nennius, der in seiner "Historia
Brittonum" (9.Jh.) erstmals einen gegen die Sachsen zu Felde
ziehenden Kriegsherrn namens Arthur beschrieb, setzt Le Goff an. Weiter
geht es mit dem Oxforder Kanonikus Geoffrey of Monmouth, welcher in der
"Historia Regum Britanniae" ( zw. 1135 und 1138)
Artus als Eroberer zum Mythos erhob. Dabei vermengte Monmouth alte
keltische Legenden (z.B. Mabinogion) mit christlichem Kolorit.
Chrétien de Troyes verfeinerte diese Melange zwischen 1160
und 1185. Im Auftrag seiner Gönnerin, Gräfin Marie de
Champagne, scharte der Troubadour eine Reihe weiterer Helden wie Owein,
Lanzelot oder Parzival um Artus. Neben dem Minnewesen kam auch der
Heilige Gral hinzu. Mitte des 15. Jh. fasste dann der englische
Abenteurer Sir Thomas Malory alle Artus-Stränge im Prosawerk "Le
Morte d’Arthur" zusammen. Arthur war zum Inbegriff
des Königtums geworden. Mehr noch, es haftete ihm sogar etwas
Messianisches an. Er wurde der Rex quondam, rexque futurus,
der "einstige und zukünftige König", der zwar
sterbend nach Avalon eingeht, von dort aber - wenn die Not am
größten ist - glorreich wiederkehren wird. Das
Ableben des deutschen Staufer-Kaisers Friedrich Barbarossa (gest. 1190)
folgt diesem Motiv. Gemäß der Sage ist Barbarossa
nämlich nicht tot, er schläft nur im
Kyffhäuser-Bergrücken bis seine Zeit gekommen ist.
Da passt es gut ins heroische Bild, dass selbst Arthurs
stählernes Reichsinsignium einen Namen trägt:
Excalibur. Wer kennt diesen Namen nicht? Auch den Schwertern Karls des
Großen und Rolands wurde diese Persönlichkeit
gebende Benennung zuteil. Sie heißen wohlklingend La Joyeuse
bzw. Durendal. Wer mehr über die legendenverbrämten
Taten dieses fränkischen Ritterduos erfahren will, dem sei
Ariosts episches Gesangeswerk "Orlando
furioso" empfohlen.
Das Hochmittelalter brachte auch romantische Helden hervor. Lanzelot
etwa, der in schicksalsschwangerer Leidenschaft zu Guinevere, der
Gemahlin seines Königs und Freundes Artus entbrannt ist; oder
Tristan, der in ähnlich unglücklicher Weise die
irische Prinzessin Isolde liebt, die ihrerseits bereits König
Marke von Cornwall versprochen ist. Träger dieser
Minnegeschichten waren so genannte Troubadoure, die entweder durch die
Lande zogen, um ihre romantischen Weisen zum Besten zu geben oder an
Adelshöfen im Auftrag eines noblen Gönners
Liebeslyrik schmiedeten.
Kurz zu einem Helden der anderen Art, zu Robin Hood: Er ist "vogelfreier
Bandit und Ehrenmann" (Le Goff) in Personalunion. Ob und in
welcher Form es ihn tatsächlich gegeben hat, analysiert der
englische Historiker James C. Holt in seiner Abhandlung
"Robin
Hood" ausführlich. Bei Jacques Le Goff
steht die Balladenfigur des edlen Räubers im Mittelpunkt,
jener Robin, der von den Reichen nimmt und den Armen gibt; jener
Grünstrumpf, der weit über den Wald von Sherwood
hinaus jedem Bubenherz ein Begriff ist.
Auch Anti-Helden kannte das Mittelalter, z.B. in Person des
betrügerischen Fabelfuchses Renart. Er führt das
halbe Tierreich an der Nase herum: Chantecler, den Hahn,
Tiéclin den Raben, Tibert den Kater und Ysengrim, den Wolf.
Rotfuchs Renart vergewaltigt die Wölfin Hersant,
verführt die Löwenkönigin und putscht gegen
ihren Gemahl, König Nobel. In seinem unterirdischen Palast
Maupertuis wird er erfolglos belagert. Erst am Ende der Geschichte
streckt Renart tödlich getroffen alle Viere von sich. Unter
dem Jubel seiner Opfer wird der Fuchs pompös beerdigt.
Irgendwann kehrt er wieder, um all die Übel nochmals zu tun,
einfach weil sie seinem Wesen entsprechen. Goethe nahm sich des Themas
in "Reineke
Fuchs" in abgeschwächterer Form an. Fest steht,
dass der im Mittelalter fabulierte schlechte Ruf des Fuchses immer noch
anhält, man denke nur, wie barbarisch Vulpes vulpes
von den "edlen" Waidmännern verfolgt wird.
Ein Hauch von Magie
Einhörner kannte schon das antike Rom. Plinius z.B.
erwähnte sie in seiner "Naturalis Historia"
gleich dreimal. Im Mittelalter steht das Unicornus als Sinnbild der
Unschuld. Gregor der Große,
Isidor
von Sevilla oder Beda
Venerabilis, allesamt große Kirchenmänner, ebneten
dem scheuen Pferdewesen den Einzug in den Volksglauben. Das Einhorn
wird zum Symbol der Jungfrau Maria wie auch von Christus selbst. Es
gelangt in pseudo-naturwissenschaftliche Tierbücher, so
genannte Bestiarien,
und prangt von Gobelins oder gar
königlichen Wappen. Eine Essenz seines Hornes soll vor Gift
schützen, hieß es. Könige, Herzöge
und Bischöfe schickten Händler aus, um
Einhorn-Hörner zu ergattern. Und diese wurden fündig.
Allerdings stammten die seltenen Hornstücke nicht von
wundertätigen Equiden, sondern von Narwalen, die im
Nordatlantik bejagt wurden.
Im 11./12. Jh. taucht die schöne Melusine in
vulgärlateinischen Texten auf. Das Besondere an der Dame: Sie
ist keine Normalsterbliche, sondern eine Fee mit Geheimnis. Erwischt
man sie beim Baden, wird ihr wahrer Unterleib erkennbar,
nämlich der einer Schlange oder eines Drachen (je nach
Ausprägung der mönchischen Frauenangst). Ist
Melusines wahres Ich erst einmal aufgeflogen, erhebt sie sich erbost in
die Lüfte und fliegt von dannen, Mann und Kinder
zurücklassend. So passierte es etwa Raymond, Schlossherr von
Rousset, wie Gervasius von Tilbury schreibt. Melusine wurde im 14. Jh.
zu einem "Typennamen", bemerkt Le Goff. Überall in Frankreich
tauchten Geschichten über sie auf. Die hochadlige
Herrschaftsfamilie der Lusignan führte sie sogar als
Stammmutter an. Richard Löwenherz, Spross der Familie
Plantagenet, König von England und Prinz von Anjou, hielt sich
ebenfalls für einen Nachfahren Melusines. Angesprochen auf die
Unstimmigkeiten innerhalb der eigenen Familie, soll er gesagt haben: "Was
könnt Ihr denn anderes von uns erwarten? Sind wir denn nicht
Abkömmlinge der Dämonin?" (Bericht des
Giraud de Barri, 13. Jh.)
Der allseits bekannte Zauberer Merlin "ist im Wesentlichen
ein Geschöpf des 12. Jahrhunderts", schreibt Le
Goff. Sein kreativer Vater war weder der Teufel noch ein Inkubus, wie
es die Legende will, sondern der bereits zuvor erwähnte
Geoffrey of Monmouth. 1134 brachte Monmouth die "Prophetia
anglicana Merlini" unter die Leute, vier Jahre
später stellte er Merlin an Artus’ Seite, 1148
vollendete er seine Magierbegeisterung mit der "Vita Merlini".
Großen Anklang fand der britische Magier im ohnehin
zauberhaften Venedig.. Die kaisertreue Partei der Ghibellinen
führte ihn sogar als einen der Ihren gegen die
pro-päpstlichen Guelfen an.
Le Goff bezeichnet Merlin als den "Prototyp des Helden
zwischen Gut und Böse". Im 13. Jh.
schmückten französische Autoren die Zauberervita
weiter aus. Merlin verliebt sich in die machtgierige Fee Viviane, die
ihm zuerst alle Geheimnisse entlockt und dann in einer Höhle
hermetisch einschließt. Noch heute soll sein Wehklagen im
bretonischen Wald von Brocéliande (für alle Pilger:
Forèt de Paimpont, Département Ille-et-Vilaine)
zu hören sein. Viviane stellt in diesen mittelalterlichen
Geschichten - ähnlich wie Morgan Le Faye in der Artus-Sage
- eine dunkle Ausformung des Feenwesens dar - im Gegensatz zu
den guten Melusinen.
Einhorn, Melusine, Merlin und viele andere magische Gestalten des
Mittelalters schwingen in der Moderne immer noch Schwingen oder
Zauberstab. Ihre populärkulturellen Wiedergänger
flimmern über Bildschirme, füllen Bücher und
lösen Kaufrekorde aus. Gandalf oder Dumbledore, erfolgreichste
Merlins der literarischen Gegenwart, liefern den besten Beweis
dafür, dass bestimmte Archetypen aus dem Unterbewusstsein
eines Kulturkreises stets aufs Neue Gestalt annehmen.
Zu Stein gewordene Macht
Spricht man von Kathedrale, hat man nicht die schlichte
frühmittelalterliche Kirche der Romanik im Sinn, sondern die
himmelsstürmende
Baukunst
der Gotik. Eine formgebende Rolle
spielt dabei Saint Denis. Diese Grablege der ersten
französischen Könige gilt "archetektonisch
wie ideologisch als Gründungsbau der Gotik" (Le
Goff). Im 5. Jh. begonnen, wurde die ursprüngliche Abteikirche
zur "Großbaustelle" der Herrschergeschlechter der Merowinger,
Karolinger und Capetinger und löste in der Zeit von 1130 bis
1280 ein wahres Baufieber an Kathedralen aus. Viele Dome, die wir heute
bewundernd bestaunen, nahmen damals Gestalt an, z.B. Notre Dame in
Paris (ab 1163) oder Chartres (ab 1195). Was die Höhe der
Gewölbe betraf, wollten die Baumeister immer weiter hinauf.
Reims (ab 1212): 38 Meter; Amiens (1221): 42 Meter; Beauvais (1284):
Rekord von 48 Metern. Damit waren Zenit und Niedergang gleichzeitig
erreicht. Der übermäßig hochgezogene Chor
von Beauvais stürzte ein. Ähnlich zu Fall kamen das
Gewölbe bzw. der Turm der Kathedralen von Troyes und Sens. Ein
Exportschlager wurde die Gotik dennoch: Canterbury, Burgos,
Köln, Wien, überall im katholischen Europa schossen
Kathedralen in den Himmel. Wobei der Begriff "Kathedrale" ("cathedra" =
"Bischofsstuhl") laut Le Goff nur in Frankreich, England und auf der
iberischen Halbinsel Fuß fasste, in Deutschland oder Italien
setzte sich "Dom" (von "domus" = "Gotteshaus") durch. Heute werden zwar
keine Kathedralen mehr gebaut, dafür aber Wolkenkratzer. Der
Sakral- lebt im Profanbau weiter.
Burgähnliche Anlagen tauchen erstmals im 10. Jh. auf, in
Nordeuropa als Wehrtürme, im Süden des Kontinents als
Felsenfestungen. Ab dem 11. Jh. setzen sich die klassischen Burganlagen
mit Turm, Donjon und Wehrmauer durch, im 14. Jh. kommen
Zugbrücken in Mode. Die Burg war kraftstrotzender Ausdruck des
Feudalismus. "Sie besitzt zwar nicht die
Spiritualität der Kathedrale, kündet aber auch von
symbolischer Macht und wirkt als Imago von Kraft und Herrschaft",
schreibt Le Goff. In den steinernen Festungen trotzten die lokalen
Potentanten der königlichen oder kaiserlichen Zentralgewalt,
egal ob in der Normandie, in Orleans oder in Kastilien, das sogar
seinen Namen vom Kastell, der Burgfeste, erhielt. Mit dem Aufkommen von
Kanonen verlor die Burg allmählich an Bedeutung, Im 19. Jh.
gab es allerdings eine punktuelle Renaissance (Pierrefonds,
Neuschwanstein).
Nach Meinung des Rezensenten hat Jacques Le Goff sehr viel gemeinsam
mit dem ebenfalls Mediävistik betreibenden Alain Demurger ("Die
Templer", "Der
letzte Templer"). Beide Herren sind im Schreibstil
zwar oft trockener als eine Flasche voll Martini, glänzen aber
durch ein umfassendes, vernetztes Detailwissen und seriöse
Analysen. Selbst wenn sie geheimnisumrankte Themen wie Tempelritter
oder Tafelrunde behandeln, erliegen sie nie der Auflagen steigernden
Verlockung, historischen Spekulationen nachzugeben. Mit "Ritter,
Einhorn, Troubadoure" zeigt speziell Jacques Le Goff, dass auch
faktisch fundierte Geschichtsforschung mitreißend sein kann.
Liegt wohl nicht zuletzt auch daran, dass der Verlag C.H. Beck
dafür ein ideales Medium darstellt.
(lostlobo; 09/2006)
Jacques
Le Goff: "Ritter, Einhorn, Troubadoure"
Aus dem Französischen von Annette Lallemand.
C.H. Beck, 2005. 240 Seiten.
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Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Hrsg.): "Die Staufer
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Kaisers hinter den Mythen frei. Das "Staunen der Welt" wird so zum
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Stürner: "Staufisches Mittelalter.
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Der Band versammelt ausgewählte Beiträge von Wolfgang
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Reich des hohen Mittelalters. Weitere Beiträge befassen sich
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Das Bild Kaiser Friedrichs I. Barbarossa, legendenumwobener Exponent der Stauferzeit, zeigt noch bis heute die Züge der Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts. Doch wer waren die Staufer wirklich? Dieser Band informiert über die Geschichte der Staufer und das Leben und Wirken der einzelnen Kaiser vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen ihrer Zeit. Ein Ausblick in die Rezeptionsgeschichte rundet die Darstellung ab. (C.H. Beck)
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