Anna Mitgutsch: "Zwei Leben und ein Tag"
Wie
gehen Menschen mit den Brüchen ihres Lebens um? Wie
verarbeiten sie ihr Scheitern, und wie konfrontieren sie sich mit der
unabänderlichen Schuld, die sie durch bestimmte
Lebensentscheidungen auf sich geladen haben? Können sie das in
ihr gegenwärtiges Leben integrieren, oder wird es abgespalten
und in die Krankheit oder die Sucht verdrängt?
Was geschieht mit unseren Lebensträumen, wenn sie sich nicht
erfüllen?
Wie entwickelt sich eine große, leidenschaftliche Liebe, wenn
ihre Kraft langsam und unerklärlicherweise und dennoch
unabänderlich nachzulassen beginnt?
Wie ein Mensch sich allen diesen Fragen stellt, ehrlich und ohne
Illusionen, aber auch ohne Groll und nachtragende
(Selbst-)Vorwürfe, wie er diesen Fragen nachsinnend und
nachschreibend zu Antworten kommt, die das zerbrochene Leben irgendwie
halten und ihm mitten in aller Tristesse einen eigenen,
würdevollen Sinn verleihen, das beschreibt Anna Mitgutsch in
ihrem Roman "Zwei Leben und ein Tag" auf beeindruckende, bewegende und
meisterhafte Weise.
Sie erzählt die Geschichte von Edith und Leonhard. Beide
lieben die Literatur, und besonders Leben und Werk Herman Melvilles
haben es beiden angetan. Sie träumen davon, dass sie
irgendwann einen verlorenen Text Melvilles ausgraben und dann die
ultimative Biografie dieses großen, zu Lebzeiten verkannten
und letztlich gescheiterten Schriftstellers schreiben. Es sind auch das
Scheitern und die öffentliche Missachtung seines Werkes zu
Lebzeiten, die Edith und Leonhard beschäftigen, und wenn Anna
Mitgutsch Edith aus einem viel späteren Blickwinkel
ihr Leben und ihr Scheitern beschreiben lässt, ist es auch
diese Parallelität, die Edith fasziniert und den Roman
für den Leser so überaus interessant macht.
Nach einem wahren Nomadenleben durch Südostasien und
Osteuropa, wo Leonhard immer wieder Aufträge annimmt, um ganze
Bibliotheken aufzubauen, haben sich die Wege von Edith und Leonhard
irgendwann getrennt. Eine Szene brennt als Flamme großer
Schuld zwischen ihnen, als ihr gemeinsamer Sohn Gabriel als kleines
Kind in Südkorea erkrankt und offenbar nicht die
nötige Behandlung erfährt. Das Kind ist durch die
ganze Kindheit eher ein Einzelgänger, irgendetwas ist in
seinem Gehirn passiert,
es kann aber nicht wirklich erkannt werden. Und ein lebenslanger
Vorwurf quält Edith:
"In der Literatur lieben wir jene, die dem Leben nicht
gewachsen, vom Schicksal gezeichnet sind, wir finden uns selber in
ihnen wieder, missverstanden und tragisch in unserem Scheitern.
Stellvertretend für uns sind sie die
Sündenböcke, die vom Felsen in die Wüste
gestoßen werden, deren Blut vergossen wird, damit wir selber
unverwundbar bleiben dürfen, auf dem Altar der Literatur
werden sie an unserer statt geopfert. Die Wirklichkeit ist weniger
grandios und weniger ergreifend. Eine literarische Figur für
die Konsequenz, mit der sie scheitert, zu bewundern und hilflos
zuzusehen, wie sich diese Folgerichtigkeit im Leben Deines Kindes
abzeichnet, das sind sehr verschiedene Dinge."
In zahllosen Briefen schreibt sie ihrem Mann Leonhard, ohne diese
Briefe jedoch jemals abzuschicken. Sie lebt mittlerweile mit ihrem
inzwischen erwachsenen Sohn in Österreich im Haus ihrer
Kindheit. Dort sitzt und schreibt ihre nie abgeschickten Briefe. Sie
sind ohne Groll; Edith liebt Leonhard noch immer, und ihre Leidenschaft
für Herman Melville ist ungebrochen. Und so erfährt
der Leser, der fast atemlos durch die Seiten dieses faszinierenden
Buches eilt, nicht nur alles über Edith, Leonhard und ihren
Sohn Gabriel, sondern auch außergewöhnlich viel
literarisch und literaturwissenschaftlich Interessantes über die Person, das
Leben und das Werk Herman Melvilles, dem Edith nach wie vor
eng verbunden ist.
Seinen besonderen Charakter und seine besondere Spannung
erfährt das Buch dadurch, dass nach dem ersten Drittel ein Tag
im Leben von Gabriel geschildert wird; ein Tag, an dem Gabriel
aufbricht in ein neues Leben, nachdem er nach dem Tod der Mutter deren
gesammelte Briefe an seinen Vater gelesen und ihre lebenslangen Sorgen
um ihn zur Kenntnis genommen hat. An diesem Tag - seinem letzten? -
erinnert er sich seines ganzen, bewegten und traurigen, letzten Endes
auch gescheiterten Lebens. Immer wieder wechselt Anna Mitgutsch
zwischen der Perspektive Ediths und Gabriels hin und her bis zum Ende
des Buches, und es bleibt sehr lange offen für den Leser, wie
es mit Gabriel weiter geht.
Dieses Buch ist ein sprachgewaltiges Werk über das Scheitern
und unseren Umgang damit. Anna Mitgutsch ist ein großer,
tiefer Roman gelungen.
(Winfried Stanzick; 06/2007)
Anna
Mitgutsch: "Zwei Leben und ein Tag"
Gebundene Ausgabe:
Luchterhand Literaturverlag, 2007. 349 Seiten.
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Taschenbuch:
btb, 2008.
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Zwei weitere Bücher der Autorin:
"Die Annäherung" zur Rezension ...
"Wenn du wiederkommst"
Es ist keine Liebe auf den ersten Blick, eher das Versprechen von Verlässlichkeit:
zwei Menschen, einander nah und vertraut wie Geschwister. Diese Nähe ist so
stark, dass sie die dunklen Seiten ihrer Liebe und Ehe, Untreue, ihre einander
oft ausschließenden Obsessionen und sogar die scheinbar endgültige Trennung übersteht.
Jetzt, lange Jahre später, sieht es so aus, als gäbe es die Möglichkeit, noch
einmal ganz neu anzufangen. Da geschieht das Unfassbare. Jerome stirbt.
Verzweifelt versucht die verlassene Erzählerin, gegen die Realität des Todes
aufzubegehren. Sie kämpft, als könnte sie den Toten zurückholen oder ihm
wenigstens ein letztes Wort, ein Zeichen seiner Liebe abringen. Sie klammert
sich an die verheißungsvolle letzte Begegnung, den letzten gemeinsamen
Augenblick, die letzten Worte beim
Abschied am Flughafen von Boston. Sie beschwört
die Glücksmomente wie auch die gegenseitigen Verletzungen in ihrer langen
Liebesgeschichte. Den gesellschaftlichen Ritualen der Trauer, den Bemühungen
der Verwandten, ihr die Bedeutung als Ehefrau abspenstig zu machen, steht sie
wehrlos gegenüber. Und doch gelingt es ihr in der gemeinsamen Trauer mit der
erwachsenen Tochter, die Beziehung zum Ehemann und zum Vater in ihrer ganzen
Widersprüchlichkeit lebendig werden zu lassen. (Luchterhand Literaturverlag)
zur Rezension ...
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