Norbert Kuchinke: "Missa Mystica"
Spiritualität
und Kunst in Russland
Das Buch zu den Konzerten des Moskauer Kathedralchores
Der
Autor Norbert Kuchinke stellt in seinem Buch "Missa Mystica" die
derzeitige Situation der russisch-orthodoxen Kirche in Russland dar.
Zu Beginn fragt er sich, ob die Menschen in Russland für die
kommunistische Revolution ihren über 1000 Jahre bestehenden
Glauben aufgegeben hatten und kommt zu dem Ergebnis, dass
überall Reste von religiöser Tradition vorhanden
waren, die nach dem Fall des Regimes sofort wieder den Glauben an die
Religion aufkeimen ließen. Es gab immer wieder auch
Mitglieder der Arbeiterpartei, die durchaus bibelfest waren, sogar der
Koch Stalins
konnte sich seine Religiosität erhalten und lebte als
Mönch in einem Kloster.
Nach der Revolution von 1917 wurden von den Regierenden viele
Klöster aufgelöst und Kirchen abgerissen, als
landwirtschaftliche Lagerhallen, Fabriken oder Gefängnisse
missbraucht. Oft wertvolle Ikonen wurden dem Schicksal des Vermoderns
preisgegeben oder als Regalbretter benützt. Von über
1000 Kirchen in Moskau waren beispielsweise nur noch 50 aktiv und von
über 1000 Klöstern in ganz Russland
überlebten nur zwei die kommunistische Zeit. Der Kreml
bestehend aus drei Kathedralen, zwölf Kirchen und zwei
Klöstern, wurde zum Museum, die Klöster wurden
abgerissen.
Die
Religionsausübung wurde drastisch beschränkt,
und Bibeln konnte man nur noch auf dem Schwarzmarkt kaufen.
Mönche und Nonnen wurden oft in Arbeitslager gebracht.
Heute versucht die Kirche den Machtverlust der kommunistischen
Regierung wieder für sich zu nutzen und auszugleichen. Die
russisch-orthodoxe Kirche ist abermals ein Bestandteil der russischen
Gesellschaft geworden. Überall im Land entstehen erneut
Klostergemeinschaften von Männern und Frauen, und die Menschen
üben wieder überaus begeistert ihre Religion aus. So
stellt der Autor an zahlreichen Beispielen in diesem Buch einige
Klöster vor und beschreibt die Lebensumstände und
Gewohnheiten der Mönche und Nonnen heute. Nach wie vor ist
deren Leben nicht von Luxus oder
übermäßigen Bequemlichkeiten begleitet. Oft
fehlt es an den einfachsten Dingen. Während des Kommunismus
hatten die Menschen ihr Auskommen und es war leichter, Geld zu spenden
um die Priester zu finanzieren. Heute ist Geld knapp.
Ein großes Kapitel in dem Buch widmet der Autor der
"Wiedergeburt" von Klöstern, die überall im Land in
den alten, oft verfallenen Gebäuden durch die
fleißigen Hände der Nonnen und Mönche von
neuem entstehen.
Kuchinke beschreibt, wie Traditionen und Kulthandlungen wieder aufleben
und lebendig werden. So fühlen sich die Menschen ihren Toten
gegenüber sehr verbunden. Sie feiern zu bestimmten Tagen mit
ihnen zusammen auf den Friedhöfen Feste. Wasser wird am 19.
Jänner, zwölf Tage nach dem russischen
Weihnachtsfest, also zur Taufe Christi, überall in den Kirchen
geweiht, das von den Gläubigen in Kannen und Eimern nach Hause
transportiert wird. Allein in der Nikolskij-Kathedrale
in St.
Petersburg werden 80 000 Liter an die Gläubigen weitergegeben.
Das geweihte Wasser soll vor allem vor Krankheiten schützen,
sie heilen oder Haus und Hof segnen.
Auch zur Ikone haben die russischen Gläubigen eine besondere
Beziehung. Nicht nur, dass sie aus geweihten Materialien gefertigt
wird - sie wird von den Menschen oft behandelt wie eine
heilige Person. Wenn man etwas vor ihr verbergen will, wird sie
kurzerhand umgedreht oder durch einen Vorhang verdeckt. Sie begleitet
aber auch alle Lebenssituationen des Gläubigen von der Geburt
bis zum Tod.
Am Ende des Buches befindet sich je ein Beitrag von Irenäus
Totzke und Nikolaj Berdjajew. Totzke, Archimandrit (= Abt eines
orthodoxen Klosters) der byzantinischen Abteilung der Benediktinerabtei
Niederalteich, berichtet darin über die Geschichte und die
Veränderungen der Kirchenmusik in der russisch-orthodoxen
Kirche Russlands.
Berdjajew berichtet in seinem Artikel "Die russische Idee" von den
Russen als polarisiertes Volk, das weder Ost noch West, weder Asien
noch Europa ist. Die Menschen sind exzessiv, sie feiern Orgien, sind
große Marienverehrer und suchen in ihrer wechselvollen
Geschichte immer nach einer Lösung, aus ihrer eigenen
unerfreulichen Wirklichkeit herauszufinden und einen Ausweg aus ihrer
Gegenwart zu bekommen. Auch der Kommunismus bot ihnen die Aussicht auf
brüderliches Miteinander von Menschen und Völkern,
indem die Klassen überwunden werden. Die Menschen hofften mit
der Revolution auf die höchste Stufe der Weltanschauung,
nahmen die Unbillen auch deshalb in Kauf, um später besser
leben zu können.
"Missa Mystica" ist ein gut recherchierter, herrlicher und
interessanter Bildband. Der Autor hat zahlreiche Klöster,
Kirchen und Sammler selber besucht und viele Menschen befragt, dadurch
ergibt sich ein gutes Gesamtbild der Situation der russisch-orthodoxen
Kirche. Das Buch besitzt aber meiner Meinung nach immer wieder
textliche Längen. Die Bilder, die teils aus dem EMB Archiv,
Luzern, dem Ikonen-Museum in Recklinghausen und vom Sun-Studio,
Paris/Tokyo stammen, wurden durch Fotos des Autors ergänzt.
Besonders gefielen mir jene, die kirchturmreiche Klöster in
romantisch schöner Landschaft zeigen, aber auch die
wunderschönen Bilder von Ikonen.
Norbert Kuchinke, geboren 1940, lebte von 1973 bis 1983 als
West-Korrespondent in Moskau. Heute pendelt er als freischaffender
Schriftsteller und Journalist zwischen Berlin und Moskau.
(Ingrid; 11/2003)
Norbert
Kuchinke: "Missa Mystica"
Mit Beiträgen von Irenäus Totzke und
Nikolaj Berdjajew.
Kreuz-Verlag, 2003. 192 Seiten.
ISBN 3-7831-2282-1.
ca. EUR 29,90.
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CD-Tipp:
"Missa Mystica"
Geistliche Hymnen und Gesänge. Moskauer
Kathedralchor.
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