Juan José Millás: "Die alphabetische Ordnung"
Aus
einem Guss ist der Roman auf den ersten Blick nicht, und wenn mich mein subjektiver
Eindruck nicht trügt, lässt die überbordende Fantasie des Autors im zweiten Teil
nach, doch mag das auch erzählerische Absicht gewesen sein. Im ersten Teil, in
den Fieberträumen des "dreizehnjährigen, fast vierzehnjährigen" Julio
werden wahre Feuerwerke der Fantasie abgebrannt, sind die Grenzen zwischen Realität
und Irrealität fast aufgehoben; im zweiten Teil stellt sich die zerfallene, geradezu
atomisierte Ordnung der vertrauten Welt zwar nicht wieder vollständig her, doch
ist sie so weit gefestigt, dass sich darin leben lässt, erst recht, wenn man es,
wie der Held, nicht so genau nimmt mit der Einordnung in Wirkliches und Eingebildetes.
Da spielt es dann keine Rolle mehr, ob Julio tatsächlich seine Jugendliebe Laura
(der zu nahen er sich nie getraute) heiratet oder sie nur sehnsüchtig als Traum
durchs Leben trägt, ob er einen dreizehnjährigen, fast schon vierzehnjährigen
Sohn hat (mit dem und in dem er zu seinem eigenen Ausgangspunkt der Erkenntnis
zurückkehrt) oder sich nur unbewusst nach einem Sohn sehnt.
Der Held bewegt
sich als Junge (Teil 1) verstört, als Erwachsener (Teil 2) mit Leichtigkeit und
Unbekümmertheit durch die Dimensionen von Sein und Nichtsein. In einer total verrückten
Welt lässt es sich als Verrückter eben noch am angenehmsten leben. "Er war
nie wieder auf die andere Seite (d.h. der Realität) zurückgekehrt, so dass er
auch nicht sicher sein konnte, dass sich dort schließlich wieder alles eingerenkt
hatte." (S. 124)
Die Welt ist brüchig. Ausnahmslos alles kann sich im
Handumdrehen auflösen. Fragen, die den Roman durchziehen, die aber nicht endgültig
beantwortet werden, weil der rasende Zerfallsprozess rechtzeitig gestoppt wird:
Wie weit lassen sich die Dinge des täglichen Lebens reduzieren? Welche Folgen
hat die Reduktion? Wie weit lässt sich Sprache
reduzieren? Ab welchem Punkt ist Kommunikation nicht mehr möglich?
Im ersten Teil fliegen Bücher wie Vogelschwärme davon.
"Offenbar hatten die Lehrer die Flucht zu stoppen versucht, indem sie die
Fenster schlossen, aber die Bücher hatten mit ihren Rücken die Fenster eingeschlagen.
Die Mathematikbücher
verließen die Schule in vollendeter Formation wie ein Schwarm Wildenten, während
die Sprachbücher sich am Ausgang stauten und manche dabei Blätter verloren,
die wie Federn zu uns hernieder schwebten. Wir fingen sie ein und vernichteten
sie, damit ja keine Spur von diesen verhassten Wälzern übrig blieb. Jedes Mal,
wenn die Bücher eines Faches davonflogen, klatschten wir wie verrückt, den Blick
nach oben gerichtet, und lachten dabei schallend. Ein Teil von mir wusste, dass
dieser Jubel etwas Barbarisches hatte, aber der andere konnte sich an dem Spektakel
nicht satt sehen." (S. 24)
Im ersten Teil verschwinden Buchstaben, Silben und
Wörter und mit ihnen ihre Bedeutung.
"Nicht im Traum wäre mir eingefallen,
dass der Verlust eines einzigen Buchstabens derartige Auswirkungen auf die Umwelt
haben konnte. Das brachte mich auf den Gedanken, dass die Sprache einem Ökosystem
vergleichbar war, in dem selbst der unscheinbarste Laut eine wichtige Funktion
hatte. Ich zog daraus den Schluss, dass in diesem Biotop eigenartigerweise die
großen Tiere (die Wörter) weniger wichtig waren als die kleinen (die Buchstaben)."
(S. 71)
Nicht einmal die alphabetische Ordnung der Konversationslexika und
Wörterbücher
gibt Sicherheit in einer unbehausten Welt, denn selbst die hat ihre Tücken und
Fallen, wie Millás an Hand von zahllosen konkreten Beispielen nachzuweisen nicht
müde wird. Aber immerhin gibt sie einen gewissen Halt. "Die Dinge entwickelten
sich wie erwartet, eins nach dem anderen, in chronologischer Reihenfolge (der
einzigen, die neben der alphabetischen noch Bestand hatte) " (S. 207)
"Gemeinhin
glaubte man ja, Konversationslexika seien das Werk von Menschen, aber /Julio/
überlegte, ob der Mensch nicht vielleicht eine Schöpfung der Konversationslexika
war. Er stellte sich vor, wie die ersten menschlichen Wesen aus den Seiten dieser
dicken, dunklen, in Leder gebundenen Bände hervor gekrochen waren, um die Wirklichkeit
zu erobern, so wie die Fische angeblich einstmals die Meere verlassen hatten,
um über die Erde zu herrschen." (S. 189)
Hans Joachim Schädlich hat den sprachlichen Zerfallsprozess in seiner bekannten
Erzählung für Kinder "Der Sprachabschneider" bereits eindringlich spielerisch
beschrieben, doch längst nicht in der Tragweite und Konsequenz wie Millás.
Mit den Mitteln des Absurden und der Verfremdung rückt der Autor die Kostbarkeit
der uns anvertrauten Schätze und die Verluste, die uns drohen, wenn wir nicht
wachsam sind, ins Bewusstsein.
Sprachlehrer
dürften ihre helle Freude an der barocken sinnlichen Klassifizierung von grammatikalischen
Mitteln, Wortarten und Lauten haben. Wörter, die duften oder stinken; Buchstabenverluste,
die schmerzen wie Amputationen. So frech und originell ist Grammatik wohl selten
beschrieben worden.
"Ich begriff schnell, dass /die Aufgabe des Adverbs
im Satz/ darin bestand, die Säfte des Verbs oder des Adjektivs herauszufiltern,
ähnlich wie es die Nieren im menschlichen Organismus taten. Vielleicht zersetzten
sich die Adverbien deshalb so schnell und verströmten dabei diesen beißenden Geruch,
der in meinem olfaktorischen Gedächtnis gespeichert war." (S. 93)
"Das
Adjektiv kam mir trotz seiner schicken Aufmachung ein wenig fad vor. Auch wenn
es beim Hineinbeißen so aufregend krachte wie ein Bonbon. Das Substantiv war ohne
jeden Zweifel die Krönung. Mit seinem Aroma machte es einem den Mund wässrig,
noch bevor man mit dem Kauen begann, und wenn es unter dem Druck der Zähne zerplatzte,
entpuppte es ich als weitaus saftiger, als man je gedacht hatte." (S. 97)
Ein besonderer Leckerbissen ist die Schilderung eines unselig öden Englischsprachkurses
als Paradies. Sie sei allen Autoren, die Dialoge und Übungen für Sprachlehrbücher
entwerfen (um nicht zu sagen: verbrechen), ganz besonders ans Herz gelegt.
"Es machte Spaß, sich in einem solchen liebevollen Ambiente aufzuhalten,
wo die Zeit nicht zu vergehen schien und die Sorgen der Leute sich darauf beschränkten,
nicht zu wissen, wo sie das Feuerzeug gelassen hatten, das sich dann immer auf
oder unter dem Tisch befand." In der dritten Lektion "steckte der Mann
sich eine Zigarette an, ohne dass die Frau oder er selbst die gesundheitsschädlichen
Wirkungen des Tabaks erwähnten. Vielleicht gab es im Universum der Kassette ja
keinen Krebs."
Dann kam die Frau auf die Strümpfe und die Hose des Mannes
zu sprechen, und Julio dachte schon, zwischen den beiden bahne sich eine sexuelle
Begegnung an, doch so weit kam es nicht, denn derartige Bedürfnisse schienen sie
ebenfalls nicht zu haben. Wenn in den Filmen, die Julio gewöhnlich konsumierte,
der Ton so herzlich wurde, braute sich im Hintergrund meist etwas Schreckliches
zusammen, aber hier nicht, hier war die Welt wirklich noch in Ordnung. Alle diese
Menschen, deren Leben sich nicht im Laufe von Jahren, sondern von Lektionen abspielte,
lebten in einer Art Paradies, in dem es zum Beispiel nicht notwendig war, seinen
Lebensunterhalt zu verdienen. Niemand ging zur Arbeit oder kam von ihr nach Hause,
sie wurde nicht einmal erwähnt." (S. 193)
Ein Blick ins Internet zeigt, dass Millás im spanisch- und englischsprachigen Raum sehr bekannt, im deutschsprachigen so gut wie unbekannt ist. Und das ist mehr als bedauerlich.
Wer
sich als Jugendlicher von Wolfgang Hildesheimer ("Lieblose Legenden")
oder Kurt Kusenberg ("Mal was andres") verzaubern und sich bereitwillig
von ihnen in Welten entführen ließ, in denen die Gesetze der Realität aufgehoben
sind und in denen Gesetze gelten, die nur der dichterischen Fantasie folgen, der
wird von diesem ungewöhnlichen, gleichzeitig tiefsinnigen und kurzweiligen Roman
mit Sicherheit begeistert sein.
Ein sprachliches Glanzstück, das möchte ich
ausdrücklich hervorheben, hat auch die Übersetzerin Ilse Layer vollbracht.
(Diethelm Kaminski; Köln, am 26.06.2003)
Juan
José Millás: "Die alphabetische Ordnung"
dtv premium 24348;
ISBN
3-423-24348-1
217 Seiten
ca. EUR 14,50.
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