Nives Widauer (Hrsg.): "Meteoriten"
Was von außen auf uns einstürzt
Eine in dieser Form wohl einzigartige Synopse
Viele Menschen erliegen im Lauf ihres Lebens der Faszination für ein Thema,
eine Sache, eine Idee. Nives Widauer erging es so, als sie den Meteoritensaal
des Naturhistorischen Museums in Wien kennen lernte. Ihre Begeisterung für die
Steine aus dem All brachte sie auf den Gedanken, namhafte Natur- und
Geisteswissenschaftler, Kunsthistoriker und Literaturschaffende für eine
Anthologie zu gewinnen, in der das Thema "Meteoriten" aus den
verschiedensten Perspektiven verarbeitet wird. Auf diese Weise entstand eine
einzigartige Zusammenschau, ein sichtlich liebevoll und trotzdem sehr
professionell erstelltes Kunstwerk zwischen Buchdeckeln. Die Mischung aus
Sachinformationen und niveauvoller Unterhaltung macht Nives Widauers Anthologie
zu einem Leseerlebnis.
Die Herausgeberin hat die vielen Beiträge geschickt geordnet, das heißt:
sowohl logisch als auch von der "Dramaturgie" her ansprechend. Sie
spannt den Themenbogen von der (natur)wissenschaftlichen Betrachtung über den
religiösen, mythischen, kulturellen und philosophischen Aspekt hin zur
bildenden Kunst und zur Literatur, wobei die Übergänge wie bei einem Aquarell
fließend sind. Den Anfang macht eine ausführliche, gründliche und reich
bebilderte Einführung in die Meteoritenkunde, den humorvollen Abschluss bildet
Karl Valentins "Hausverkauf". Dazwischen findet der Leser einen
langen, aber niemals langweiligen Reigen von Texten, die sich mit Meteoriten
befassen, zum Teil konkret, oft auch lediglich mit dem Thema der Anthologie als
Aufhänger für eine gedankliche Weiterführung. Wie bei allen Anthologien lagen
mir manche Beiträge mehr als andere - wahrscheinlich ergeht es jedem Leser so
-, aber ich habe alle mit Interesse gelesen, schon aus Neugier darauf, wie der
jeweilige Autor das Thema umsetzen würde.
Jeder Beitrag hat seinen individuellen Stil behalten; dies trägt zum
Abwechslungsreichtum der Anthologie bei und spricht für ein sensibles Lektorat.
Gelegentlich wurde vielleicht zu behutsam lektoriert, denn hier und da blieben
kleine Fehler erhalten. Das ist jedoch mein einziger (und ein marginaler)
Kritikpunkt.
Verarbeitung und Aufmachung lassen nichts zu wünschen übrig; hierbei wurde mit
Geschmack, Fantasie und Extravaganz gearbeitet. Nives Widauers die Beiträge
begleitende Bilderserie besticht durch schlichte Ästhetik. Einband, Druck und
Bindung sind hochwertig. Den nicht ganz niedrigen Preis des Buchs halte ich
aufgrund der hohen inhaltlichen, gestaltungs- und verarbeitungstechnischen Qualität
für gerechtfertigt.
Im Anschluss versuche ich, eine kurze Übersicht über die einzelnen Texte zu
geben, wobei mir bewusst ist, dass ich damit den Beiträgen in keiner Weise
gerecht werde. Ausgearbeitete Besprechungen würden jedoch angesichts der
Vielzahl der Texte den Rahmen einer Buchrezension sprengen.
Nives Widauer: Warum
ein Buch über Steine
Die Herausgeberin über ihr Projekt.
Gero Kurat: Meteoriten - Ein neues Bild der außerirdischen
Besucher, erarbeitet in und mit der Sammlung des Naturhistorischen
Museums in Wien
Eine fachlich-detaillierte Einführung mit reichlich Bildmaterial, gründlich
und dennoch keineswegs so trocken wie
der kosmische
Staub, in Form dessen ein
Großteil der außerirdischen Materie auf unseren Planeten trifft. Ein ausführliches
Glossar unterstützt nicht nur beim Lesen des Artikels, sondern kann auch
"später" als Nachschlagemöglichkeit dienen, falls der Leser sich vom
Meteoritenfieber hat anstecken lassen.
Jochen Schlüter: Wenn ein Meteorit zur Erde stürzt ...
Auswirkungen eines Meteoritenfalls sowohl auf den Meteoriten selbst als
auch auf die Aufprallstelle und in großräumiger (globaler) Hinsicht.
Katharina Lodders: Der Meteorit von Willamette
Spannende, authentische Geschichte eines berühmt gewordenen Meteoriten
von seiner Entdeckung bis heute.
Günter Paul: Wenn ein kosmischer Vagabund auf die Erde stürzt
Beurteilung des Risikos, das von einem größeren Meteoriteneinschlag
insbesondere ins Meer ausgeht.
Beda A. Hofmann: Meteoritenhandel: Herkunft, Angebot und Nachfrage
Wie der Handel mit Meteoriten abläuft; auch einige ungefähre Preise
werden genannt.
Paul Sipiera: Auf der Suche nach Meteoriten - Ein Bericht aus persönlicher Sicht
Ein Forscher beschreibt, wie er selbst zur Meteoritenforschung fand und
wie Suchexpeditionen, insbesondere in der Antarktis, durchgeführt werden.
Birgit Sattler: Hot and cold: Glühende Steine im Eis
Eine Mikrobiologin erzählt von ihrer Teilnahme an einer
Meteoriten-Suchexpedition in der Antarktis und diskutiert die Frage, ob
Meteoriten extraterrestrisches mikrobielles Leben bergen können.
Norbert Classen: Meteoriten in Kultur und Religion
Nicht nur zahlreiche Naturvölker, sondern auch Hochkulturen der Alten
und Neuen Welt verehrten (und verehren) die vom Himmel gefallenen Steine.
Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (1927-42): Meteor
Glaubensüberzeugungen und durch sie bedingte Reaktionen auf Meteoritenfälle
in Deutschland und anderen Ländern.
Hartmut Böhme: Der Donnerstein von Ensisheim - Albrecht Dürers Bildphantasie eines
Meteoriteneinschlags
Eine Interpretation des rätselhaften Dürer-Werks unter Einbeziehung
zeitgenössischer Glaubens- und Weltuntergangsvorstellungen.
Ursula Pia Jauch: Pierre Bayle und der Komet von 1680, oder: Weswegen
gelegentlich auch Kometen ganz meteoritisch einschlagen können
Hier geht es bewusst nicht um Meteoriten, sondern um einen Kometen,
dessen Erscheinen bei dem Philosophen Pierre Bayle (der eine ganze Gruppe
bedeutender französischer Philosophen beeinflussen sollte) "wie ein
Meteorit" einschlug und ihn zum Verfassen einer wichtig gewordenen
philosophischen Schrift veranlasste.
Margit Zuckriegl/Michael Staudinger: Himmel, Kunst und Wolkenbruch - Atmosphärische Phänomene als Themen der Kunst
Die Kunsthistorikerin und der
Meteorologe erstellen einen Abriss der
Geschichte der naturwissenschaftlichen Erforschung und der künstlerischen
Thematisierung atmosphärischer Phänomene und beobachten ein interessantes
Spiel aus Annäherungen und gegenläufiger Entwicklung.
Andrea Domesle: Zerstörung und Zukunft zugleich: Blitzschlag mit
Lichtschein auf Hirsch - Eine Installation von Joseph Beuys
Ausführliche Interpretation eines von
Joseph Beuys' letzten und
bedeutsamsten Werken.
Walter Kugler/Rudolf Steiner: Wie Meteoritenschwärme sich hinübergießen
in das Dasein des Blutes - Die Jahreszeiten-Imaginationen von Rudolf Steiner
Rudolf Steiners Sicht von Zusammenhängen und Wechselwirkungen zwischen
dem Eisen vom Himmel (Meteoriten) und dem Eisen in den roten Blutkörperchen,
folglich von kosmischen Einflüssen auf menschliche Lebenszyklen.
Johannes Grenzfurthner: Zusch.
Gesellschafts- und Techniksatire.
Sibylle Omlin:
Ein Meteorit, versunken
im Eis.
Geschichte eines Meteoritenfalls in Grönland und der erfolglosen Suche
nach dem Meteoriten aus Sicht einer Journalistin, die um jene Zeit zufällig
nach Grönland reiste und vom Meteoritenfieber ergriffen wurde.
Gernot Böhme: Einfälle.
Aufsatz über verschiedene Bedeutungen des Begriffs "Einfall" -
hier intellektuell/philosophisch betrachtet; der "Einfall" von
Meteoriten als Außerirdische in unsere Welt dient als Aufhänger.
Peter Sloterdijk: Versuch über das Leben der Künstler - Fälle
Assoziationen des Künstlerlebens mit dem Begriff "Fall".
Vrääth Öhner: Von tiefen und anderen Eindrücken - Himmelskörper im Katastrophenfilm
Parallelen zwischen den Filmen in Konzeption und moralischem Hintergrund.
Julius Deutschbauer/David
Jagerhofer: Meteoritenpsalm
Satirische Bearbeitung der Darstellung der biblischen Plagen (die einigen
mehr oder weniger wissenschaftlichen Auslegungen zufolge durch einen
Meteoriteneinschlag ausgelöst wurden).
Kurt Kladler: Deep impact - traumhafte Katastrophen
Aufarbeitung von Kindheitsängsten vor Naturereignissen als Auslöser späterer
Alpträume.
Andreas Okopenko: Was kommt dort von der Höh?
Traumbilder und Wirklichkeit werden verwoben.
Susanna Heimgartner: Fallstudien
Drei scheinbar flüchtig skizzierte Liebesgeschichten, ironisch, voller
Biss, der Beginn bewusst klischeebeladen - und realistisch beendet.
Bodo Hell: Sätze, wie sie fallen
Scheinbar zufällig, ohne Zusammenhang hingestreute Sachinformationen über
Meteoriten im Wechsel mit typischen Sternschnuppen-Wünschen - ganz
pragmatischen und solchen, die das Wohl der Gesellschaft, der Menschheit
betreffen.
Rosa Pock: Ein Meteorit ist der letzte Hauch eines Kometen
Ein mit Wort- und Gedankenspielen durchsetzter Kurztext.
Sibylle Berg: Texte über Außeneinflüsse auf Damen - Drei Nachweise von extraterrestrischen Einwirkungen
Drei Episoden über die Monotonie des Lebens, das die jeweilige
Protagonistin steuert statt umgekehrt - bis es überraschend zum Durchbruch
kommt.
Raphael Urweider: was von außen auf uns eindringt
Ein bezauberndes Stück Lyrik.
Karl Valentin: Hausverkauf
Ein Dialog voll Komik und hintergründigem Humor.
(Regina Károlyi; 05/2005)
Nives Wiedauer (Hrsg.): "Meteoriten"
Niggli, 2005. 276 Seiten.
ISBN 3-7212-0534-0.
Buch
bei amazon.de bestellen
Nives
Widauer geboren 1965 in Basel, lebt
in Wien und Basel. Nach dem Studium an der
Universität Basel (Germanistik, Geschichte, Kunstgeschichte) wechselt Nives
Widauer an die Schule für Gestaltung, Basel. 1987, ein Reisejahr: Australien,
Japan, Südsee. Von 1988 bis 1990 besucht sie die Fachklasse für audiovisuelle
Gestaltung bei Enrique Fontanilles und René Pulfer an der Schule für Gestaltung
in Basel. Im gleichen Jahr erhält sie ein Stipendium für einen Studienaufenthalt
an der Cité des Arts in Paris. Ausstellungen, Festivalteilnahmen und Bühnenräume
folgen seitdem. 1991-2004 Videobühnen für Theater Basel, Burgtheater
Wien, Zürcher Festspiele, Expo 02, Schauspielhaus Wien u.a. Ausstellungen
seit 1990 (Auswahl): Deichtorhallen Hamburg;
Sigmund Freud Museum, Wien; Galerie
semina rerum, Zürich; College of the arts, Edinburgh; Brotfabrik, Berlin; Minoriten,
Graz; world wide video festival, Den Haag.
Nives Widauer beschäftigt sich besonders mit den Übergängen
zwischen bildender (Medien-) Kunst, Literatur und
Theater. Reale und
assoziative Freiräume werden geschaffen, in denen (Video-)Bilder den Horizont
des gesamten Geschehens erzeugen und die tradierten Grenzen, zum Beispiel
zwischen Bühnenraum und Zuschauerraum bildnerisch aufbrechen. Die Grenzen
zwischen künstlerischen Genres und Tätigkeitsfeldern verwischen. Nives
Widauer erarbeitet gemeinsam mit Schauspielerinnen, Autoren oder
Wissenschaftlerinnen Projekte in unterschiedlichen Kontexten und inhaltlichen
Schwerpunkten. Zentral bleibt immer die Suche nach der Erweiterung von
Erfahrungsräumen. Oft verleihen ihre Videos der Dimension Zeit räumliche
Aspekte - selten geht es darum, (akademisches) Wissen zu vermitteln.
Lien zur
Netzseite der Künstlerin:
https://www.widauer.net/.