Univ.-Prof. Dr. Siegfried Meryn: "Leben bis 100"
"Nach der Lehre des Buddha bin ich mein eigener Meister. Alles hängt
von mir selbst ab. Dies bedeutet, dass Freude und Schmerz aus unseren eigenen
tugendhaften oder lasterhaften Handlungen erwachsen, also nicht von außen, sondern
von innen kommen."
(Tenzin Gyatso, der 14. Dalai-Lama)
"Die Menschen brauchen
sehr lange, um jung zu werden."
(Pablo Picasso)
Methusalem lässt grüßen.
Der Titel des jüngsten Lebensratgebers von Professor Meryn kokettiert schon fast ein wenig unverschämt mit dem Sehnen des Menschen nach Unsterblichkeit und hält dann zum Glück doch mehr als er, so einfach nur plakativ, verspricht. Geht es doch primär nicht darum, genetisch vorprogrammierte Lebenszeitgrenzen zu sprengen, sondern um die Entwicklung einer persönlichen Grundhaltung, die auf ein positives und selbstverantwortliches Lebensgefühl hin abzielt, als beste Voraussetzung für ein erfülltes Leben - vielleicht bis 100. Dass hinkünftig ein gewiss nicht unerheblicher Anteil der westlichen Bevölkerung (vor allem Frauen) die magische Jahrhundertgrenze erleben wird, lässt sich bereits in diesen Tagen seriös prognostizieren, und wer heute vierzig ist, der hat mit einer ausgewogenen Lebensweise mit gesunder Ernährung, viel Sport und beherrschtem Stress eine sehr gute Chance, die 100-Jahres-Grenze zu überschreiten. In diesem Sinne ist dann eben auch ein Gutteil des Buchinhaltes der so genannten richtigen Lebensweise gewidmet, die freilich in ihren Grundzügen bereits jedermann bekannt sein sollte: Fettreiche Nahrungsaufnahme weitestgehend meiden, dafür Obst und Gemüse essen, heißt "Klüger essen". Und maßvoller Sport, sprich: Wohlfühl-Fitness, hält den Körper nicht nur schlank, verdichtet die Knochen und stärkt das Muskelgewebe, sondern trainiert nicht zuletzt auch die Libido ("Mehr Lust auf Sex") und fördert das Körperempfinden.
Dinner Cancelling - der Schlüssel zu unvergänglicher Jugendlichkeit?
Das zuletzt sehr in Mode gekommene "Dinner Cancelling" - als wissenschaftlich fundierte Methode der Kalorienreduktion und Lebensverlängerung - wird von Meryn durchaus kontroversiell diskutiert, denn einerseits dürfte ein drastischer Kalorienentzug tatsächlich das Lebenstempo verlangsamen, und somit die Lebensspanne erstrecken, andererseits besteht die Gefahr der Unterversorgung mit lebenswichtigen Vitalstoffen, und es kann zu unerwünschten Nebenwirkungen kommen (verminderter Sexualtrieb, Neigung zu Depressionen, Verstopfungen). Gar nicht zur Debatte steht bei Meryn das "Dinner-Cancelling-Konzept" als Verzicht auf das Abendessen, wie es Univ.-Prof. Johannes Huber in seinem Buch "Länger leben, später altern" propagiert. Für Huber hat die nächtliche Nahrungskarenz ihren Zweck in der sodann ungehinderten Ausschüttung von Melatonin und Wachstumshormonen durch den Körper, welche nachweislich den Organismus regenerieren, gesund und jung halten. Kurz nach Mitternacht setzt der Körper die größten Mengen an Wachstumshormonen frei, weshalb er sich zu dieser Zeit im Tiefschlaf befinden sollte. Ein Tiefschlaf, der vor allem infolge konsequenter Nahrungskarenz realisiert werden kann.
Erfreu' Dich des Lebens! Auf deine Gesundheit! Prost!
Meryn, wohl mehr Genussmensch denn Asket, erwähnt die abendliche Nahrungskarenz in seinen Ausführungen nur ganz beiläufig, mit polemischer Spitze gegen ungenannt bleibende Anti-Aging-Gurus und keineswegs als Alltagsprogramm, so wie auch der entschieden ausformulierte Antialkoholismus von Huber ("Alkohol - viel Fluch, wenig Segen") bei Meryn keine ähnlich entschiedene Fortführung findet, zumal zumindest Rotwein offenbar der Gesundheit förderlich sein kann, und manche amerikanische Wissenschaftler aufgrund vorhandener Forschungsergebnisse schon so weit gehen, Nichttrinken (von Rotwein) als Risikofaktor zu werten. Die Heilwirkung von Rotwein lässt sich heute kaum noch bestreiten, hingegen vor dem Zellgift Alkohol ganz generell gewarnt werden muss.
Nikotin - eine Schreckensbilanz.
Sieht der Mediziner und Buchautor Meryn den Alkohol noch mit einem lachenden und einem weinenden Auge, so wird, sobald seine Rede auf Nikotin kommt, eine gewisse medizinische Militanz manifest, die er jedoch vermittels nackten Zahlenmaterials eindrucksvoll zu begründen versteht. Aktives und passives Rauchen sei Ursache einer Nikotin-Schreckensbilanz, der jährlich allein in Österreich fünfzigtausend Tote anzulasten seien, sowie ein Drittel aller Beinamputationen. Da Passivrauchen fast so ungesund wie Aktivrauchen sei, sollten Nichtraucherzonen jedenfalls überall (in öffentlichen Lokalen wie am Arbeitsplatz) gefordert und auch durchgesetzt werden.
Es vergreist spät, wer um die Geheimnisse biologischer Jugendlichkeit weiß.
Univ.-Prof. Dr. Siegfried Meryn - bekannt durch seine Fernseh-Sprechstunden in der ORF-Sendung "Willkommen Österreich" sowie durch die (Co-)Autorenschaft an dem Buch "Der Mann 2000. Die Hormonrevolution", worin ein Großteil der nun ausgeführten Inhalte bereits, gutteils sogar ausführlicher, gewiss jedoch geschlechtsspezifischer, thematisiert wurden - führt auf leicht verständliche aber doch anregende Weise eine beachtliche Themenvielfalt bezüglich "Länger leben - später altern" aus, hinterfragt das Wie und Warum sowie die Menschheitsgeschichte des Alterns und leitet den Blick des Lesers in eine Zukunft steigender Lebenserwartung, die mehr sein sollte, als eine bloße Erstreckung der lebensabendlichen Siechtumsphase. Anhand zweier Checks in der Buchmitte kann jedermann ergründen, wie alt er tatsächlich ist ("biologisches Alter") und wie gesund er lebt. Eine Sammlung der "100 besten Tipps" vermittelt schließlich jenen gediegenen Wissensgrundstock, der erforderlich ist für eine die Gesundheit und Jugendlichkeit erhaltende Lebens- und Gesundheitsplanung. Allerdings muss auch zu den "100 besten Tipps" kritisch angemerkt werden, dass das Meiste davon bereits, in dem quasi Vorläuferbuch von Meryn und Coautoren, in "Der Mann 2000. Die Hormonrevolution" nachzulesen war. Und das - wie schon gesagt - teils ausführlicher dargelegt.
Ein Lebensratgeber, keine kritische Theorie.
Wie
gesagt, es handelt sich um einen Ratgeber, der primär praktisch verwertbares Anwendungswissen
vermitteln will und solcherart dann auch mit Begriffen von Gesundheit, Sexualität,
Lebenssinn, Religiosität und dergleichen operiert, ohne diese - von kurzen Schlenkern
einmal abgesehen - kritisch zu hinterfragen. Keinesfalls darf sich der Leser eine
Gesellschaftskritik á la Erich Fromm erwarten, welcher für die postkapitalistische
Phase der Menschheitsentwicklung einen krankhaften Gesellschaftscharakter diagnostizierte,
der die Definitionsmacht über gesund und krank ausübt, und welcher in willkürlicher
Manier Anpassung mit "Gesundheit" belohnt, hingegen Nonkonformismus mit "Krankheit"
bestraft. Wie auch immer betrachtet, im Sinne der kritischen Theorie eines Erich
Fromm ist in einer wesenhaft kranken Gesellschaft erfüllte Gesundheit bis ins
hohe Alter hinein einfach nicht möglich, wenn man von einer kleinen begüterten
Elite einmal absieht, die sich ihr Wohlleben auch leisten kann. Erich Fromm geht
in seinem Standardwerk "Haben oder Sein" noch von
einem kranken Gesellschaftscharakter aus, den es zu gesunden gilt. Nun, diese
Zeiten kritischer Gesellschaftstheorie dürften längst vorbei sein. Siegfried Meryn
ist bei aller Sympathie für seinen bemühten - und für das breite Volk verfassten
- Ratgeber doch ein Mangel an soziologischer Kritikwilligkeit zum Vorwurf zu machen,
wie auch sein medizinischer Blick die Welt wohl durch das Brillenglas begüterter
Schichten sieht. Gesundheit und der Erhalt von Gesundheit hat für einen Fließbandarbeiter
einfach eine andere Relevanz als für privilegierte Dienstnehmer einer öffentlich
rechtlichen Fernsehanstalt oder für die Bewohner nobler Viertel. Gewiss ist Gesundheit
eine Lebensaufgabe für jedermann, doch stellt sich die Frage, inwieweit der einzelne
Mensch für sein verfrühtes Siechtum verantwortlich zu machen ist, wenn seine Lebensumstände
immer schon ruinös waren? Der 14. Dalai Lama sprach (und Meryn zitiert den heiligen
Mann zur Bezeugung der Richtigkeit seiner eigenen Ausführungen): "Nach
der Lehre des Buddha bin ich mein eigener Meister. Alles hängt von mir selbst
ab." Was für ein tragischer Irrtum! Welch fahrlässige - wenn nicht gar herzlose
- Rede!
Richtig! Jedermann ist immerzu an seine Eigenverantwortung zu gemahnen
und hat sie, wenn möglich, nach bestem Wissen und Gewissen wahrzunehmen. Ob er
sie jedoch dann auch tatsächlich ausüben kann, muss allemal immer noch fraglich
bleiben.
Die Wahrung von Gesundheit und Lebensfreude sei des Arztes Sinn und Zweck!
Erfreulich jedenfalls ist das aus Meryns Texten durchklingende ärztliche Selbstverständnis einer grundsätzlich so aufgefassten Berufung zum Lebensbegleiter für Gesunde wie auch für Kranke. Nicht nur der erkrankte Mensch, sondern insbesondere auch der gesunde Mensch sollte Gesprächspartner des Arztes sein. Wer sich erst wegen einer Erkrankung zum Arzt bemüht, der ist eigentlich schon zu spät dran. Und da es in unserem Kulturraum immer noch unüblich - in Hinblick auf die maroden Krankenkassen gar verwerflich - ist, als Gesunder den Arzt aufzusuchen (Standardfrage: "Wo fehlt's denn?"), darf man es als eine durchaus erfreuliche Entwicklung erachten, wenn ebenso führende wie populäre Ärzte zunehmend von sich aus ihr Publikum (medial) aufsuchen und solcherart einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur allgemeinen Volksgesundheit leisten.
Univ.-Prof.
Dr. Siegfried Meryn: "Leben bis 100"
Ueberreuter,
2002. 192 Seiten.
ISBN 3-8000-3932-X.
ca. EUR 19,00.
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