Pascal Mercier: "Lea"

Novelle


Als die Geschichte, dramatisch und bewegend, zu Ende erzählt ist, hat sie das Leben von Adrian Herzog, dem pensionierten und ehemals weltberühmten Chirurgen verändert:
"Während ich zu Hause vergeblich auf den Schlaf wartete, spürte ich, dass ich mit meinem Leben nicht einfach weitermachen konnte. Es gibt Unglück von einer Größe, dass es ohne Worte nicht zu ertragen ist. Und so begann ich in der Morgendämmerung aufzuschreiben, was ich erfahren hatte seit jenem hellen, windigen Morgen in der Provence."

Dort beginnt Pascal Merciers neues Buch. Er nennt es eine Novelle, und um es vorweg zu sagen: ihm ist damit ein Nachfolger seines Erfolges "Nachtzug nach Lissabon" gelungen, der diesem ebenbürtig ist. Das ist selten in der Welt der modernen Literatur, wo meist auf ein geniales Buch ein gerade einmal durchschnittliches folgt.

In dem kleinen Dorf Saint Remy in der Provence begegnen sich zwei Männer an einem kalten, windigen Tag in einem Café. Der eine ist der schon erwähnte Ich-Erzähler Adrian Herzog, ehemaliger Chirurg aus Bern, der, wie sich im Laufe des Buches herausstellen wird, nach einer plötzlichen Krise seinen Beruf nicht mehr ausüben kann; der andere ist Martijn van Vliet, ein ehemals hochdotierter und hochdekorierter Biokybernetiker, ebenfalls aus Bern stammend.
Dieser Zufall lässt sie ins Gespräch kommen, und es ist Adrian Herzog, der hauptsächlich zuhört, gebannt und bewegt von den Erzählungen seines Zufallsbekannten, der ihm nach wenigen Stunden schon so nahe kommt wie kaum ein anderer Mensch zuvor in seinem Leben. Er wird durch ihn nicht nur immer wieder an Tom Courtenay aus dem Film "Die Einsamkeit des Langstreckenläufers" erinnert, sondern Martijn van Vliet konfrontiert ihn mit sich selbst, mit seinem Leben, seiner Geschichte sowie den Beziehungen zu seiner Frau und seiner Tochter. Folglich erfährt man in dieser Novelle nicht nur die außergewöhnliche Geschichte von Lea, der Tochter van Vliets, sondern erlebt auch tiefe, existenzielle Einblicke in das Leben und die Lebensbewältigung Adrian Herzogs.

Er ist nach Südfrankreich gefahren, um seine Tochter Leslie zu besuchen, die in einer Klinik in Avignon arbeitet und deren Verhältnis zu ihrem Vater gespannt und durch die Vergangenheit schwer belastet ist. Martin Van Vliet ist zum allerletzten Mal an den Ort zurückgefahren, wo seine Tochter Lea lange Zeit in einer Klinik verbrachte, durch ihren Therapeuten streng von ihrem Vater abgeschirmt.
"Ich kann auf den Tag, ja die Stunde genau sagen, wann alles begann. Es war an einem Dienstag vor achtzehn Jahren, dem einzigen Tag, an dem Lea auch nachmittags Schule hatte."
So beginnt Martin van Vliet seine Erzählung über diese Jahre mit seiner außergewöhnlichen Tochter. Sein Bericht zieht sich über mehrere Tage, denn nach den ersten gemeinsamen Stunden und dem beiderseitigen Erlebnis einer ihnen völlig unbekannten Nähe beschließen die beiden Männer, die Heimreise nach Bern gemeinsam anzutreten.

An jenem bewussten Nachmittag vor achtzehn Jahren, Lea ist gerade acht Jahre alt, ihre Mutter vor kurzem an Leukämie gestorben, begegnet sie mit ihrem Vater auf dem Heimweg auf einem Bahnhof der Geigenspielerin Loyola de Colon. Ab dem Moment, an dem Lea die Klänge der Geige hört, (Loyola spielt die Partida in E-Dur von J.S. Bach), ist sie verändert. Ihr Vater spürt, dass von diesem Augenblick an nichts mehr so sein wird wie vorher. Und er weiß von Anfang an, dass er gar nichts dagegen tun wird können.

Schon bei dieser ersten schicksalhaften Begegnung seiner Hauptfigur stimmt Pascal Mercier ein Thema an, das er die ganze Novelle über wie in einem Musikstück immer wieder variiert und wiederholt. Inwieweit können wir Menschen den Gang unseres Lebens bestimmen? Haben wir überhaupt irgendeinen Einfluss darauf, was geschieht, was offenbar geschehen soll, egal wie wir uns verhalten?
Martin van Vliet stellt diese ihn quälende Frage immer wieder an Abschnitten der Geschichte, wo er denkt, er hätte anders handeln, anders entscheiden können. Aber immer wieder: "Es musste so kommen."

Lea ist vom Spiel Loyola de Colons begeistert. Sie will eine Geige, ihr Vater kauft sie. Sie will Unterricht, lehnt aber selbstbewusst alle Lehrer, die sie aufsuchen, ab. Als ihr Vater auf der langen Suche nach einer geeigneten Person vom Auto aus ein Messingschild sieht, ist wieder eine Entscheidung gefallen: Marie Pasteur wird Leas Lehrerin für viele Jahre. Sie erkennt das außerordentliche Talent des Mädchens und fördert es.

Als Lea nach sehr kurzer Lehrzeit am Ende ihrer Grundschulzeit zum ersten Mal öffentlich auftritt, bemerkt der Vater etwas sehr deutlich, das er die ganze Zeit nur unbewusst wahrgenommen hat: Lea ist so von sich selbst eingenommen, ihr Anspruch ist so gigantisch, dass selbst der kleinste Fehler für sie einer lebensbedrohenden Katastrophe gleichkommt. Seit Lea bei diesem kleinen Konzert in ihrer Schule einen Ton verpatzt hat, lässt den Vater und, ohne dass sie in der Lage wäre es auszusprechen, auch die Tochter, die Angst vor dem endgültigen Versagen nicht mehr los.

Lea eilt von Erfolg zu Erfolg und begegnet bei einem europäischen Wettbewerb Daniel Levy, einem ehemaligen weltberühmten Wunderkind, der nach einer Gedächtnisblockade bei einem öffentlichen Auftritt nie mehr seine Geige in die Hand genommen hat. Er gibt Lea, deren Talent er erkennt, seine Geige, eine Amati, eine millionenschwere alte Violine, wohl um zu sehen, wie sie seine Arbeit fortsetzt.
"Levy hatte Lea die Geige geschenkt, um jenes gefährliche Dunkel für immer zu versiegeln; und auch, damit sie aus dieser versiegelten Gewissheit heraus in unantastbarer, unzerstörbarer Sicherheit seine, Levys Töne, die damals einfach abgebrochen und von der inneren Leere verschluckt worden waren, weiterspinnen und so zur Heilung der damaligen Verwundung beitragen möge."
Die Bekanntschaft mit Levy entfremdet die mittlerweile 18-jährige Lea völlig von ihrem Vater. Nur selten sieht er sie, doch als David Levy Lea seine Braut vorstellt und von seinen Heiratsplänen erzählt, bricht das schon jahrelang dünne Lebenskorsett Leas völlig zusammen, und sie droht, die alte Geige zu zerstören, was Levy gerade noch verhindern kann.

Martin van Vliet kennt von da an nur noch einen Wunsch, sein Leben hat nur noch dieses eine Ziel: er muss seiner Tochter eine alte wertvolle Geige beschaffen, so wie Levy ihr eine geschenkt hatte, dann wird sie wieder genesen und spielen. Und er setzt dabei alles aufs Spiel, was er hat. Doch auch die wertvolle Geige, die er ihr eines Tages nach einer abenteuerlichen Suche überreicht, kann die Verdunkelung ihres Geistes nicht aufhalten. Und es kommt, wie es kommen muss ...

Auch der Leser weiß durch Andeutungen des Autors von Anfang an, dass diese Geschichte nicht gut ausgehen wird. Und dennoch rast er atemlos durch die Seiten dieser Novelle, labt sich an der außergewöhnlichen Sprachkunst Merciers und partizipiert an der Nähe, die die beiden Männer zueinander aufbauen.
"Lea" ist ein großes Buch, ein Leseerlebnis eigener Art. Kein einziges Buch in diesem Frühjahr hat den Rezensenten so gefesselt, in seinen sprachlichen, poetischen Bann geschlagen, wie dieses. Pascal Mercier, der unter dem Namen Peter Bieri Philosophie lehrt und auch themenspezifische Bücher schreibt, gelingt es in einzigartiger Weise, philosophische, existenzielle Themen in eine Geschichte zu weben, dass am Ende beim Leser mehr bleibt als nur eine Geschichte: Er ist mit mehr Erkenntnis beschenkt worden, aber auch mit vielen offenen und ungelösten Fragen. Und er leistet etwas, das gute Literatur leisten soll: Leben in Frage stellen, Leben deuten, zum eigenen Denken und Nachdenken anregen.

Ein Buch, das man bis zum Ende nicht mehr aus der Hand legt.

(Winfried Stanzick; 05/2007)


Pascal Mercier: "Lea"
Hanser, 2007. 253 Seiten.
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Hörbuch:
HörbucHHamburg, 2007. 
Ungekürzte Lesung von Walter Kreye.
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Leseprobe:

"ICH KANN AUF DEN TAG, ja die Stunde genau sagen, wann alles begann. Es war an einem Dienstag vor achtzehn Jahren, dem einzigen Wochentag, an dem Lea auch nachmittags Schule hatte. Ein Tag im Mai, tiefblau, überall blühende Bäume und Sträucher. Lea kam aus der Schule, neben sich Caroline, ihre Freundin seit den ersten Schultagen. Es tat weh zu sehen, wie traurig und erstarrt Lea neben der hüpfenden Caroline die wenigen Stufen zum Schulhof hinunterging. Es war der gleiche schleppende Gang wie vor einem Jahr, als wir zusammen aus der Klinik gekommen waren, in der Cécile den Kampf gegen die Leukämie verloren hatte. An diesem Tag, beim Abschied vom stillen Gesicht der Mutter, hatte Lea nicht mehr geweint. Die Tränen waren aufgebraucht. In den letzten Wochen vorher hatte sie immer weniger gesprochen, und mit jedem Tag, so schien es mir, waren ihre Bewegungen langsamer und eckiger geworden. Nichts hatte diese Erstarrung zu lösen vermocht: nichts, was ich mit ihr zusammen unternommen hatte; keines von den vielen Geschenken, die ich gekauft hatte, wenn mir schien, ich könne ihr einen Wunsch vom Gesicht ablesen; keiner meiner verkrampften Scherze, die ich der eigenen Erstarrung abtrotzte; auch nicht der Schuleintritt mit all den neuen Eindrücken; und ebensowenig die Mühe, die sich Caroline vom ersten Tag an gegeben hatte, sie zum Lachen zu bringen.
'Adieu', sagte Caroline am Tor zu Lea und legte ihr den Arm um die Schulter. Für ein achtjähriges Mädchen war das eine ungewöhnliche Geste: als sei es die erwachsene Schwester, die der jüngeren Schutz und Trost mit auf den Weg gab. Lea hielt den Blick wie immer zu Boden gesenkt und erwiderte nichts. Wortlos legte sie ihre Hand in die meine und ging neben mir her, als wate sie durch Blei.
Wir waren eben am Hotel SCHWEIZERHOF vorbeigegangen und näherten uns der Rolltreppe, die in die Bahnhofshalle hinunterführt, als Lea mitten im Strom der Leute stehenblieb. Ich war in Gedanken bereits bei der schwierigen Sitzung, die ich bald zu leiten hatte, und zog ungeduldig an ihrer Hand. Da entwand sie sich mit einer plötzlichen Bewegung, blieb noch einige Augenblicke mit gesenktem Kopf stehen und lief dann in Richtung Rolltreppe. Noch heute sehe ich sie laufen, es war ein Slalomlauf durch die eilige Menge, der breite Schultornister auf ihrem schmalen Rücken verfing sich mehr als einmal in fremden Kleidern. Als ich sie einholte, stand sie mit vorgerecktem Hals oben an der Rolltreppe, unbekümmert um die Leute, denen sie im Weg stand. 'Écoute!' sagte sie, als ich zu ihr trat. Sie sagte es in dem gleichen Tonfall wie Cécile, die diese Aufforderung auch stets auf französisch geäußert hatte, selbst wenn wir sonst deutsch sprachen. Für jemanden wie mich, dessen Kehle nicht für die hellen französischen Laute gemacht ist, hatte das spitze Wort einen befehlshaberischen, diktatorischen Klang, der mich einschüchterte, selbst wenn es um etwas Harmloses ging. Und so zügelte ich meine Ungeduld und horchte gehorsam in die Bahnhofshalle hinunter. Nun hörte auch ich, was Lea vorhin hatte innehalten lassen: die Klänge einer Geige. Zögernd ließ ich mich von ihr auf die Rolltreppe ziehen, und nun glitten wir, eigentlich gegen meinen Willen, in die Halle des Berner Bahnhofs hinunter.
Wie oft habe ich mich gefragt, was aus meiner Tochter geworden wäre, wenn wir es nicht getan hätten! Wenn uns kein Zufall diese Klänge zugespielt hätte. Wenn ich meiner Ungeduld und Anspannung der bevorstehenden Sitzung wegen nachgegeben und Lea mit mir fortgezogen hätte. Wäre sie der Faszination durch den Geigenklang bei anderer Gelegenheit, in anderer Gestalt erlegen? Was sonst hätte sie eines Tages aus ihrer lähmenden Trauer erlöst? Wäre ihr Talent auch so ans Licht gekommen? Oder wäre sie ein ganz gewöhnliches Schulmädchen mit einem ganz gewöhnlichen Berufswunsch geworden? Und ich? Wo stünde ich heute, wenn ich mich nicht der ungeheuren Herausforderung durch Leas Begabung gegenübergesehen hätte, der ich in keiner Weise gewachsen war?
Ich war, als wir an jenem Nachmittag den Fuß auf die Rolltreppe setzten, ein vierzigjähriger Biokybernetiker, das jüngste Mitglied der Fakultät und ein aufsteigender Stern am Himmel dieser neuen Disziplin, wie die Leute sagten. Céciles Agonie und ihr früher Tod hatten mich erschüttert, mehr, als ich wahrhaben wollte. Aber ich hatte der Erschütterung äußerlich gesehen standgehalten und es durch akribische Planung geschafft, den Beruf mit meiner Rolle als Vater, der nun allein verantwortlich war, zu verbinden. Nachts, wenn ich am Rechner saß, hörte ich aus dem Nebenzimmer, wie Lea sich hin und her wälzte, und ich bin selbst kein einziges Mal schlafen gegangen, bevor sie zur Ruhe gekommen war, gleich gültig, wie spät es wurde. Die Müdigkeit, die anwuchs wie ein schleichendes Gift, bekämpfte ich mit Kaffee, und manchmal war ich kurz davor, wieder mit dem Rauchen anzufangen. Aber Lea sollte nicht mit einem süchtigen Vater in einer verrauchten Wohnung aufwachsen."
Van Vliet holte die Zigaretten aus der Jacke und steckte sich eine an. Wie heute morgen im Café schirmte er die Flamme mit seiner großen Hand gegen den Wind ab. Jetzt, aus größerer Nähe, sah ich das Nikotin an den Fingern.
"Alles in allem hatte ich die Situation unter Kontrolle, wie mir schien; nur die Ringe unter den Augen wurden größer und dunkler. Es hätte, denke ich, alles gut werden können, wenn wir beide damals nicht die Rolltreppe betreten hätten. Aber Lea war mit dem einen Fuß bereits auf dem gleitenden Metall, und sie hatte doch solche Angst vor Rolltreppen, sie hatte diese Angst von Cécile übernommen, so vieles war von der vergötterten Mutter in sie eingedrungen wie durch Osmose. Die Musik war in jenem Moment stärker als die Angst, deshalb hatte sie den ersten Schritt getan, und nun konnte ich sie unmöglich allein lassen und strich ihr beruhigend übers Haar, bis wir unten angekommen waren und in die Menge von atemlos lauschenden Menschen eintauchten, die der Geigerin verzaubert zuhörten."
Van Vliet warf die halb gerauchte Zigarette in den Sand und verbarg das Gesicht in den Händen. Er stand neben seiner kleinen Tochter im Bahnhof. Es gab mir einen Stich. Ich dachte an meinen Besuch bei Leslie in Avignon. Was Lea für Martijn van Vliet gewesen war, war Leslie für mich nie gewesen. Es war nüchterner zugegangen zwischen uns. Nicht lieblos, aber spröder. War es, weil ich in den Jahren nach ihrer Geburt fast nur gearbeitet hatte und aus der Bostoner Klinik oft tagelang nicht herausgekommen war?
So stellte es Joanne dar. As a father you’re a failure.
Wir hatten kein einziges Mal richtig Urlaub gemacht; wenn ich verreiste, dann zu Kongressen, auf denen neue Operationstechniken vorgestellt wurden. Leslie war neun, als wir in die Schweiz zurückkamen, sie sprach ein Mélange aus Joannes Amerikanisch und meinem Berndeutsch, die Spannungen zwischen den Eltern machten sie verschlossen, sie suchte sich Freunde, die wir nicht kannten, und als Joanne für immer nach Amerika zurückging, kam sie in ein Internat, ein gutes, aber ein Internat. Sie war nicht unglücklich, glaube ich, aber sie entglitt mir noch mehr, und wenn ich sie sah, war es mehr wie die Begegnung zwischen zwei guten Bekannten als zwischen Vater und Tochter.
Van Vliets Geschichte würde die Geschichte eines Unglücks sein, das war klar; aber dieses Unglück war aus einem Glück herausgewachsen, wie ich es nicht gekannt hatte, warum auch immer.

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