Zbigniew Mentzel: "Alle Sprachen dieser Welt"
Zbigniew Mentzel, am 20. April 1951
geboren, schreibt in diesem, seinem ersten, Roman über einen Tag in seinem
eigenen Leben. Denn es ist mehr als offensichtlich, dass der Held dieses Romans,
Zbigniew Hintz, das Alter Ego des Autors ist, der bis zur Einführung des
Kriegsrechts in Polen am 13. Dezember 1981 als Assistent an der Warschauer
Universität arbeitete und Artikel für die renommierte Zeitschrift "Polityka"
verfasste.
Er emigrierte nach London, arbeitete dort für einen Exilverlag und
kehrte nach der Wende in Osteuropa nach Polen zurück, wo er neben seiner
journalistischen und literarischen Tätigkeit seinen Lebensunterhalt
hauptsächlich durch Börsenspekulationen verdient.
All diese
Lebensstationen durchläuft fast identisch auch seine Romanfigur Zbigniew Hintz,
der seine Vergangenheit reflektiert, indem er den Ablauf jenes Tages beschreibt,
an dem sein Vater, schon 82-jährig, seinen letzten Arbeitstag hat und mit einer
Feier von seinem Arbeitsplatz verabschiedet werden soll. Hintz soll seinen Vater
dabei begleiten und darf sich auf keinen Fall verspäten, denn sein Vater ist nie
zu spät gekommen und hat in 46 Jahren keinen einzigen Tag an seinem Arbeitsplatz
gefehlt. Man schreibt den 17. Januar 1999, der Fall des Kommunismus ist zehn
Jahre her, und ganz Warschau begeht den Jahrestag der "Befreiung" Warschaus
durch die Rote Armee.
Seinem bisherigen Leben nachdenkend, erinnert sich
Hintz an seine Mutter, die von früh an Großes mit ihm vorhatte und die er jedes
Jahr mehr enttäuschte, bis sie frustriert aufgab und sich arrangierte mit dem in
ihren Augen (und auch denen des Vaters) gescheiterten Leben ihres Sohnes. Der
ist damit hingegen nicht unzufrieden. Er ist 46 Jahre alt und sitzt, wenn er
nicht gerade arbeitet, den ganzen Tag in seiner kleinen Warschauer Wohnung, die
er mit Büchern bis an die Decke vollgestopft hat und denkt ohne große Ergebnisse
über die "Sprache der Zukunft" nach. Sein Haupterwerb sind die Gewinne aus
seinen Börsenspekulationen, was seinen Vater, der ein ganz anderes Leben gewöhnt
ist, immer wieder zur empörten Weißglut treibt.
Doch nicht immer war das
Verhältnis zwischen Vater und Sohn so gespannt. Glücklich erinnert sich Hintz an
die Urlaube, wo er mit seinem Vater angeln geht, immer an Kilometer 566 der
Weichsel. Doch diese Zeiten sind lange vorüber.
Bis er am Abend jenes 17.
Januar 1999, ermutigt durch die Erinnerung an eine Frau, die ihm in London
begegnet war, eine lange versteckte Kassette seines Anrufbeantworters abspielt,
auf der ihm seine Mutter Stunden vor ihrem Tod eine letzte Botschaft
mitteilt.
"Ich kann nicht sprechen, jetzt bist du dran", ist das Einzige, was
sie noch sagen kann.
"Diesmal ... diesmal würde ich sprechen. Ich nahm
einen tiefen Luftzug und fing an zu sprechen. Ich erzählte davon, was mir an
diesem Tag passiert war, an diesem Tag, an dem ich um fünf Uhr nachmittags nach
einer Herzsalve eingeschlafen war und davon, was in meinem ganzen Leben passiert
war. Ich erzählte davon, wie mein Vater Rudolf Hintz mit zweiundachtzig Jahren
zum letzten Mal arbeiten ging, in die Apotheke des Städtischen Krankenhauses für
Infektionskrankheiten, und wie ich ihm geholfen hatte, die Plätzchen zu
transportieren, mit denen er seine Abschiedsgäste bewirtete. Ich erzählte, dass
mein Vater keinen einzigen Arbeitstag versäumt hatte, dass er nie zu spät
gekommen war. Er hatte immer nur gearbeitet, so gut er konnte. Und nach
fünfundzwanzig Jahren bekam er für seine Dienste das Braune Verdienstkreuz und
eine Aktentasche aus künstlichem Schweinsleder, und in der
Gewerkschaftszeitschrift wurde ein Artikel mit Foto veröffentlicht. Ich sprach
immer schneller, von einer irrationalen Angst getrieben, dass jemand mich
unterbrechen könnte, dass ich nicht alles würde sagen können. Doch niemand
machte Anstalten, mich zu unterbrechen, ich konnte weitererzählen. Ich erzählte,
dass meine Mutter Janina Hintz, geborene Czerska, mich lange Zeit für ein
wohlgeratenes Kind gehalten hatte, dass sie der festen Meinung war, dass ich,
als Einziger unserer Familie, es zu etwas bringen würde im Leben, dass ich
nationale und dann auch internationale Karriere machen würde, dass ich ins
Ausland gehen und dort eine Familie gründen würde, dass ich mir eine Wohnung
oder aber ein Haus kaufen und Pakete nach Polen schicken würde, und dass ich
sie, meine Mutter, eines Tages
nach Wien oder
nach Paris einladen würde. Doch
als ich dreißig geworden war und noch kein einziges Mal im polnischen Fernsehen
aufgetreten war, war meine Mutter zu der Überzeugung gelangt, dass meine
Karrierechancen ein für alle Mal dahin waren, dass ich es nie zu etwas bringen
würde. Das sei das Ende, sagte sie, ja, das Ende. Nie würde ich es schaffen,
jemand Bekanntes zu werden, jemand, den man bewundern konnte, ich würde enden
wie mein Vater, ich hätte meine besten Jahre vergeudet, nun gab es keine
Hoffnung mehr, ich würde nur noch hinunterfallen und stürzen.
Ich sprach
weiter.
Ich sprach und wunderte mich dabei, dass ich so viel reden konnte,
dass ich im Stande war, zu sprechen, der Fluss der Worte konnte endlich
ungestört fließen.
Ich sprach Polnisch, ich sprach in meiner Muttersprache
und dennoch ... mir war, als würde ich
in allen Sprachen der Welt sprechen."
Ein erstaunliches Buch über eine Selbstfindung im reifen
Erwachsenenalter, geboren durch die endgültige
Befreiung von den Erwartungen der
Eltern. Insofern nicht nur der polnische Roman, als der er in Polen
gefeiert wird, sondern ein Buch über das Mann- und das Erwachsenwerden.
(Winfried Stanzick; 05/2006)
Zbigniew Mentzel: "Alle Sprachen dieser
Welt"
Aus dem Polnischen von Paulina Schulz.
dtv, 2006. 180
Seiten.
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