Lauren Slater: "Von Menschen und Ratten"
Die berühmten Experimente der Psychologie
Eine
naturwissenschaftliche Tour de Force in die Tiefen der Seele
Ich habe noch keine Autorin gelesen, deren
Geruchssinn so unvermittelt, fast aufdringlich in den Text einfließt. Wenn sie
eine Situation oder einen Ort schildert, erfährt man meistens, wie es dort
riecht. Gerüche sind unmittelbarer als alle anderen Sinneseindrücke, man kann
sich von ihnen schwer distanzieren. Ähnlich geht es einem mit diesem wertvollen
und wichtigen Buch über die experimentelle, naturwissenschaftliche Psychologie:
Man kann sich als Leser schwer abgrenzen, wird von der romanhaften Handlung
mitgerissen, kann es kaum zur Seite legen. Manchmal aber geht es einem wie bei
Menschen, die im Gespräch zu nahe an einen herankommen, einen mit ihrer Sprache
und ihren Gesten direkt bedrängen, und die man gerne ein bisschen auf Distanz
halten wollte.
Ob dieser Schreibstil Methode hat oder dem Inhalt geschuldet ist? Wahrscheinlich
könnte man bei der Nacherzählung der wichtigsten Experimente und der
Darstellung der Menschen, die sie durchgeführt haben, auf einige Informationen
verzichten. Dazu gehören Mutmaßungen über das Liebesleben des einen oder
anderen Forschers, breite Auslassungen über Krankheiten, seelische Krisen, über
Alkoholismus. Sicherlich ist es interessant, zu wissen, dass die
Naturwissenschaftler, die unser Denken beeinflusst haben, selbst nur Menschen
waren.
Aber es gibt Punkte, wo Lauren Slater zumindest für den europäischen Leser die
Schmerzgrenze überschreitet. Die Schonungslosigkeit, die sie Anderen zukommen lässt,
gilt dann aber auch für sie selbst. Es reicht ihr nicht, zu erwähnen, dass sie
Psychologin ist, wir erfahren auch, dass sie in ihrer Jugend als Patientin
jahrelang in psychiatrischer Behandlung war. Wir erfahren, dass ihr Mann
illegale Drogen zur Schmerzbekämpfung nimmt, davon aber offenbar nicht süchtig
wird.
Bewundernswert ist der Einsatz, den sie aufbietet, um ein Buch zu schreiben.
Wenn es ein Experiment über das Suchtpotenzial von Opiaten gab, nimmt sie im
Selbstversuch Opiumkügelchen ein. Wenn ein Experiment zeigte, dass
psychiatrische Kliniken gesunde Menschen als Psychotiker einbuchten, nur weil
man beim Aufnahmegespräch sagt: "Ich höre da ein Geräusch, und das macht
Plopp", sucht sie selbst mehrere Kliniken auf, um das Ergebnis leibhaftig
zu überprüfen.
All diese Bemerkungen seien der Besprechung des Buches vorangestellt, um
anzudeuten, wie ungewöhnlich und zugleich ergreifend es ist. Worum geht es nun
im Einzelnen? Um eine Darstellung der psychiatrischen Forschung in Amerika im
20. Jahrhundert. Was darüber hinausgeht, wird nur am Rande erwähnt.
Da war einmal B.F. Skinner, der meinte, dass man jedes Verhalten konditionieren
kann. Wenn man einer Ratte einen Hebel anbietet, der bei Betätigung Futter
herabpurzeln lässt, lernen sich Ratten mittels Hebeldrucks zu füttern. Sie tun
das auch dann, wenn es nur selten Futter als Belohung gibt, und werden immer
mehr zu Hebeldrückern. Die Umlegung dieser und anderer Erkenntnisse auf den
Menschen: Warum bleiben Menschen in schlechten Beziehungen, die doch meist nur
aus Streit und Qual bestehen? Weil wir gelernt haben, dass es zwischendurch
wieder zu Frieden und Belohnung kommt, und wir unsere Hoffnungen auf dieses Ziel
ausrichten.
Eine weitere prägende Erkenntnis über psychologisches Verhalten lieferte
Stanley Milgram im Jahr 1961. Er redete seinen Versuchspersonen ein, dass sie
mit Elektroschock anderen Versuchspersonen Lernprozesse ermöglichen sollten.
Wenn sich der Andere irrte, musste er mit einem Stromstoß bestraft werden. Je häufiger
er sich irrte, desto intensiver sollten die Stromstöße werden. Das Resultat:
60 Prozent der Menschen trieben die Stromstöße zu weit, bis sie tödlich
waren. Erst später erfuhren sie, dass ein Schauspieler die Qualen dieser "Behandlung"
nur vorgetäuscht hatte. Dieses Studienergebnis zeigte, dass die Mehrzahl der
Menschen zu Mördern werden können - vorausgesetzt, eine Autoritätsperson (in
diesem Fall der Arzt) versichert ihnen zwischendurch, es sei in Ordnung, was sie
da tun.
Das Buch schildert das Experiment von David Rosenhan, der Anfang der 1970er
Jahre acht Freiwillige in Kliniken schickte, wo sie sich die Aufnahme
erschwindelten, danach aber völlig normal verhielten. Die behandelnden Ärzte
waren unfähig, das zu erkennen, stuften sie entgegen der Vorgaben ihrer Zunft
als Schizophrene ein und entließen sie erst nach Wochen mit starken
Medikamenten. Die Studie hatte letztendlich zur Folge, dass die
Diagnosekriterien verschärft wurden. Aber auch heute, wie die Autorin nachprüft,
wird in vergleichbaren Fällen sofort zu Psychopharmaka gegriffen, selbst wenn
diese akustische Halluzination angeblich nur einmal kurz aufgetreten war und
keine Beschwerden gemacht hatte.
In New York fand im Jahre 1964 ein Gewaltverbrechen statt, bei dem eine Frau
nachts vergewaltigt und dann in einem mehrere Minuten dauernden Prozess
erstochen wurde. Zwischendurch waren in den umliegenden Gebäuden Lichter
angegangen, aber niemand hatte geholfen, was große Empörung in der Öffentlichkeit
auslöste. Die Psychologen John Darley und Bibb Latané wiesen daraufhin in
einem Experiment nach, dass es sich dabei um Gruppenverhalten handelt. Der
Einzelmensch ergreift Initiative, je mehr Menschen aber eine Untat wahrnehmen,
desto stärker denkt der Einzelne, jemand werde sich schon um eine Lösung kümmern.
Dass Gruppenverhalten auch dafür verantwortlich ist, dass wir an Fiktionen
festhalten, selbst wenn sie widerlegt wurden, wies Leon Festinger 1957 nach und
nannte es Kognitive Dissonanz. Wenn ein Sektenführer den Weltuntergang für ein
bestimmtes Datum festlegt und eine Gruppe von Anhängern um sich schart, führt
die Tatsache, dass die Welt danach trotzdem noch besteht, keineswegs zur Auflösung
der Gruppe, sondern zu einem intensiven Ausschwärmen der Getreuen, die eine
immer größere Anzahl von Menschen von den widerlegten Thesen überzeugen möchten.
Im sechsten Kapitel erzählt die Autorin Harry Harlows Experimente mit Affen
nach. Er entdeckte, dass
Affen, die von einer
Drahtmaschine gefüttert werden, trotzdem flauschige Puppen als Ersatzmutter
anerkennen. Dieses Experiment war damals in einem Land, in dem man glaubte,
Babys entwickelten ihre Mutterverbindung über die Muttermilch, revolutionär.
Das Kuscheln wurde populär. Allerdings fand Harlow später heraus, dass Affenbabys,
die mit Drahtmaschine und Kuschelpuppe, aber ohne ihre Mütter aufgewachsen waren,
psychotisch wurden, sofern sie nicht lebendige Altersgenossen hatten, die den
Verlust der Mutter emotional abfederten.
Eines der spannendsten und zugleich unbekanntesten Experimente der Psychiatrie
führte Bruce Alexander 1981 durch. Die meisten Menschen glauben, dass Opiate
zwangsläufig süchtig machen, und eine Entziehung nur durch Radikalkuren möglich
ist. Zumindest bei Ratten stimmt das keineswegs. Zwar war es so, dass fast alle in Käfigen
gehaltenen Ratten rasch opiatsüchtig wurden. Brachte man sie aber in einer zwar
künstlichen, aber sehr angenehmen Welt unter, in der sie sich "entfalten" konnten
- also ausreichend essen, spielen, vermehren - naschten sie nur vorübergehend
am Opium,
süchtig aber wurden nie mehr als 1 Prozent. Offenbar ist es auch beim Menschen
so, dass nur jene, denen das Leben unwirtlich erscheint, dem Suchtgift verfallen.
Reizvoll war auch die Arbeit der Psychologin Elizabeth Loftus in den 1980er
Jahren über Erinnerung. Wenn man Menschen lange genug einredet, dass sie etwas
erlebt haben, glauben sie das auch, entwickeln "authentische"
innerliche Bilder der Geschehnisse, die sie dann im Laufe der Zeit immer mehr
ausschmücken können. Es gelang ihr, nachzuweisen, dass Suggestivfragen bei
Polizeiverhören Menschen zu falschen Geständnissen bringen. Loftus ist auch
heute noch als Gerichtsgutachterin aktiv und wird von vielen gepriesen, weil sie
durch ihre Erkenntnisse Fehlurteile abwenden konnte - wenn es auch kontrovers
bleiben wird, dem Opfer eines Verbrechens einreden zu wollen, es rede sich
manche Details oder die ganze Geschichte nur ein.
Wie Erinnerung funktioniert, konnte
Eric Kandel im Labor an Meeresschnecken
beweisen. Er wies die zunehmende Verschaltung von Nervenzellen bei Wiederholung
von Reizen nach. Lernprozesse müssen wiederholt werden, denn im Sinne des
Spruchs "Was du nicht nützt, geht verloren" nimmt die Intensität
dieser Kontakte im Laufe der Zeit wieder ab.
Dieses Kapitel leitet zum gruseligsten Abschnitt des Buches über die Lobotomie
über, einen nervenchirurgischen Eingriff, bei dem im
Gehirn
bewusst bestimmte Areale durchtrennt oder verschmort werden. Wie schon in den
anderen Essays zeigt Lauren Slater nicht nur Studienergebnisse, sondern auch die
Rezeption auf, die sie erfahren haben, und welche Versuche es gab, die Schlüsse,
die man aus ihnen zog, zu wiederlegen. Dass ihr letzter Essay zu einem Plädoyer
für diese radikale, persönlichkeitsverändernde Heilmethode wird, ist nichts für
schwache Gemüter.
Obwohl
während des Buches immer wieder die Frage gestellt wird, wie sinnvoll oder
hilfreich manche Methoden denn für die Praxis sein können, vertritt die
Autorin letztlich durchaus die Ansicht, dass wir unseren Geist und unsere Seele
frei gestalten und deshalb auch chemisch oder mechanisch manipulieren dürfen
und sollen. Wir sind die Herren unseres Schicksals. Ob wir dabei die Gleichen
bleiben oder nur mehr Hüllen unseres früheren Selbst sind, ist dabei nicht
ausschlaggebend - Hauptsache, es geht uns danach etwas besser. Kann man von
psychiatrischer Forschung mehr erwarten? Dazu äußert sich Slater nicht, sie
kann nur berichten, was es gibt, und nicht, was wünschenswert wäre.
(Berndt Rieger; 12/2005)
Lauren Slater: "Von Menschen und Ratten"
Aus dem Amerikanischen von Andreas Nohl.
Beltz, 2005. 344 Seiten.
ISBN 3-407-85782-9.
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Lauren Slater ist promovierte Psychologin und studierte in Harvard und Boston in den USA. Ihre Arbeit wurde in die Bände der besten amerikanischen Essays von 1994 bis 1997 aufgenommen und sie gewann 1993 den "New Letters Literary Award". Neben zahlreichen Büchern schreibt sie für die "New York Times", "Harper's" und "Elle".