Andrew Delbanco: "Melville"


Exzellente Melville-Biografie

Eine konventionelle Biografie ist dies nicht. Aber gerade das macht sie in meinen Augen so interessant, so lesenswert. Und dieses wohltuend Unkonventionelle ist zunächst einmal ein Verdienst des Autors Andrew Delbanco. Zum Zweiten ist es darauf zurückzuführen, dass Melville die Schlüssellöcher der Türen, die in die Privatgemächer seiner Persönlichkeit führten, konsequent verhängt hatte. Niemand konnte Einblick nehmen in sein Inneres. Spärlich gesät sind sowohl die schriftlich als auch mündlich überlieferten Aussagen und Ansichten Melvilles, so spärlich, dass man mit Infrarotkameras den Büchern zu Leibe rückte, in denen Melville eventuell einmal geschmökert hat, um Grafitspuren seiner mit Bleistift angebrachten Randnotizen dort ausfindig zu machen, denn selbst diese Spuren hat Melville oft versucht, wieder zu tilgen. Und im Umgang mit anderen Menschen trug Herman Melville meistens die Maske einer aufgesetzten Theatralik, wie uns sein Biograf Delbanco wissen lässt. Selbst von seinen wenigen Freunden hatte anscheinend keiner das Gefühl, ihn wirklich zu kennen. So bleibt dem Biografen also nichts weiter übrig, als den Schlüssel zur Persönlichkeit dieses in seine Privatsphäre eingekapselten Autors in dessen Werken zu suchen. Und genau das hat Andrew Delbanco getan. Großzügig verzichtet er auf die den Leser ermüdenden genealogischen Darlegungen von Familienverhältnissen, mit denen die meisten Biografien überfrachtet sind. Dafür taucht er tief ein in die politischen und gesellschaftlichen Strömungen, die das Leben zu Melvilles Zeiten in den USA bestimmt haben und zeigt deren Zusammenhang mit Melvilles Werken auf. Auch dies und nicht zuletzt der Verzicht, den Früchten eines Stammbaumes bis in alle Verästelungen nachzuspüren, gehört zu den unbestreitbaren Vorzügen dieser Biografie.

Melville betrachtete seine us-amerikanische Heimat und die Zeitgenossen, die dort lebten, mit kritischer Distanz. Große Teile aus Melvilles Werk sind daher nicht zuletzt auch als unverhohlene Kritik am us-amerikanischen Demokratieverständnis zu sehen, auch übte er Kritik an der Kluft, die schon damals Reich und Arm voneinander trennte. Melville selbst wurde Zeit seines Lebens von finanziellen Sorgen geplagt, der große Erfolg sollte sich erst nach seinem Tod einstellen. Und der Biograf Andrew Delbanco avanciert in seiner Melville-Biografie ebenfalls zum Kritiker us-amerikanischer Verhältnisse. Als "einen der genauesten und scharfsinnigsten Kulturkritiker Amerikas" bezeichnete ihn die "New York Times Book Review". So nimmt es kein Wunder, dass Themen wie die Sklaverei, das Rassenverständnis der damaligen Zeit und ethnologische Geschichtsforschung allgemein eine ausführliche Behandlung erfahren, da diese Themen auch in Melvilles Romanen eine gewichtige Rolle innehatten.

Doch nahezu jeder Leser, der noch nicht tiefer in das Werk Melvilles eingedrungen ist, wird diesen Autor mit "Moby Dick", dem weißen Wal, assoziieren. Melville selbst hat eine Zeit lang auf einem Walfangschiff gearbeitet. Und so erfährt der Leser dieser hervorragenden Biografie auch einiges über die Geschichte und die Methoden des Walfangs, denn Melvilles bekanntestes Buch "Moby Dick" dreht sich ja genau um dieses Thema.
Andrew Delbanco sieht in "Moby Dick" aber nicht nur einen Abenteuerroman, er sieht diesen Roman mehr noch als ein politisches und als ein prophetisches, zukunftsweisendes Buch an. "Die Pequod", schreibt er, "wird zu einer Nachbildung des amerikanischen Staatsschiffes. Ein Narrenschiff der Politik." Und schon lange vor Delbanco haben Kritiker in der Besatzung von Captain Ahabs Schiff ganz bestimmte us-amerikanische Politiker ausmachen wollen. Ahab selbst wurde in seinem krankhaften Fanatismus immer wieder mit Adolf Hitler verglichen und neuerdings sogar mit US-Präsident Bush und seiner besessenen Hetzjagd nach Osama bin Laden. Delbanco: "Ein Schriftsteller, der mit schrecklicher Hellsicht darauf gewartet hatte, dass die Welt ihn einholt." Auch in Melvilles großer Gedichtsammlung "Battle Pieces", die er im Angesicht des us-amerikanischen Bürgerkrieges geschrieben hat, klingen schon in prophetischer Weise die Tötungs- und Vernichtungsmaschinen zukünftiger Kriege an.

Pate gestanden für Melvilles Kapitän Ahab haben vermutlich andere literarische Figuren, unter anderen Mary Shelleys "Frankenstein", der das von ihm selbst erschaffene Monster bis in das Polareis verfolgt, um es wieder zu vernichten. Nach dem Kapitän Ahab betrachtet Andrew Delbanco "Pierre" als diejenige Figur Melvilles, die ihn am stärksten als Propheten des Totalitarismus ausweist. Und das literarische Verarbeiten unbewusster Vorgänge, das er bereits in "Moby Dick" praktiziert hat, erfährt laut Delbanco in "Pierre" noch einmal eine Steigerung. In "Billy Budd" schließlich, Melvilles letztem Werk, erkennt sein Biograf den Ausdruck der Resignation Melvilles, Recht und Gerechtigkeit jemals miteinander vereinbaren zu können.

Eine Biografie wäre keine Biografie, fänden nicht wenigstens die wichtigsten Daten und Fakten aus dem Leben desjenigen, der porträtiert werden soll, in diesem Falle Herman Melville, Erwähnung. Und selbstverständlich bekommt der Leser diese Fakten zu Melvilles Leben und Persönlichkeit auch geliefert, sofern diese halt bekannt geworden sind; aber im Mittelpunkt dieser neuen Melville-Biografie stehen sein literarisches Vermächtnis sowie das Milieu und die Umstände, die zu dessen Entstehung beigetragen haben. Vielleicht die interessanteste Biografie, die ich bisher gelesen habe.

(Werner Fletcher; 10/2007)


Andrew Delbanco: "Melville. Biografie"
Übersetzt von Werner Schmitz.
Gebundene Ausgabe:
Carl Hanser Verlag, 2007. 470 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
btb, 2009.
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