Kurt Flasch: "Meister Eckhart"
Die Geburt der "Deutschen Mystik" aus dem Geist der arabischen Philosophie
Von abendländischen Mystikern, die gar keine sind
Der Autor
Kurt Flasch ist emeritierter Professor für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum.
Das Buch
Im Vorwort stellt der Autor dar, dass der 1328 etwa 70-jährig
verstorbene Eckhart von Hochheim "für immer der Zeit um 1300 [angehöre]", trotz
aller Versuche, "Eckhart und Fichte, Eckhart und Nietzsche" zu
assoziieren.
In der Einleitung erklärt der Autor die
rezeptionshistorischen Gründe für das Attribut Mystiker, das aus der Zeit der
deutschen Romantik stammt. Mystik war das Komplement zur Scholastik, die bei den
protestantischen Germanisten des frühen 19. Jahrhunderts einen denkbar
schlechten Ruf hatte. Und so wurde der Begriff Mystiker zu einer Art
romantischem Gütesiegel. Doch selbst das Auffinden der lateinischen Schriften
Eckharts gegen Ende des 19. Jahrhunderts konnte gegen das Brandzeichen Mystiker
nichts mehr ausrichten. Und allein schon der Titel Mystiker veranlasst spätere
Autoren, Eckharts Wurzeln bei anderen Mystikern zu suchen und auch zu
finden! Der Autor schlägt hingegen vor, den Eckhart in
seinen Schriften zu suchen: "Eckhart ist ein individueller, ein eigenwilliger
Denker. Wir haben ihn als solchen zu lesen und zu interpretieren."
Als im
13. Jahrhundert eine Zeit wirtschaftlicher Expansion einsetzte, wurde das ein
oder andere Prinzip fadenscheinig, demnach beispielsweise Armut eine Konsequenz
der Erbsünde sei. In dieser Zeit waren Albertus Magnus, Dietrich von Freiberg
und Eckhart von Hochheim bedeutende Universitätslehrer, Magister, wovon sich das
deutsche Wort Meister ableitete. Sie suchten nach einer Verbindung zwischen
Philosophie und Theologie, um die Welt nicht mehr nur theologisch zu
erklären.
Die philosophischen Theorien der damaligen Zeit ließen sich auf
Aristoteles zurückführen, auf den persischen Avicenna, auf den maghrebinischen
Averroës. Es entstand das Paradoxon, dass die Scholastiker den Aristoteles
verehrten, aber die daraus abgeleiteten Thesen des Averroës verdammten,
andererseits aber dessen Aristoteles-Kommentare wiederum lehrten. Abhilfe bot
die Methodentrennung, die es der Physik erlaubte, die Welt ohne Anfang und Ende
und ohne Wunder zu betrachten, und der Theologie, ihre Thesen
aufrechtzuerhalten.
Die auf Aristoteles zurückgehende These, dass der
Erkennende identisch sei mit dem Erkannten kann bereits als deutliche Vorstufe
eines Pantheismus gesehen werden. Und der ebenfalls aristotelische Satz "Das
Auge muss frei sein von Farbe, um sehen zu können." hätte bei Thomas von Aquin
etwa so gelautet: "Das Auge muss von der Gnade Gottes erfüllt sein, um sehen zu
können.".
Ibn Rushd, oder latinisiert Averroës, 1126 in Córdoba geboren
und 1198 in Marrakesch gestorben, war ein islamischer Arzt und vor allem
Philosoph. Seine Aristoteles-Kommentare prägten ganze Generation von
christlichen Theologen. Indem er die Vernunft jedoch über die Religion stellte,
schuf er sich in Christentum und Islam viele Feinde. Und während die
scholastische Welt nach Thomas von Aquin sich im Besitz allen Wissens wähnte und
so recht einfach alle Irrtümer identifizierte - auch quer durch das Opus
Aristoteles' -, versuchte Averroës den Peripatetiker als Ganzes zu begreifen und
zu interpretieren, zu ergänzen oder auch zu korrigieren, wo nötig.
Nach dem Averroës stellt der Autor den Kölner Albertus Magnus (1200 bis 1280) vor,
der in seinen Schriften oft die Nähe zu Averroës suchte. Er vertrat etwa die
Ansicht, der Mensch könne mentale Glückseligkeit und Gottähnlichkeit über
Erkenntnis erwerben: der Intellekt wird gar zu dem, was er erkennt! Diese
mentale Glückseligkeit war in Alberts Augen auch nicht nur den Christen
vorbehalten, sondern alleine dem Intellekt zugänglich. Doch schon zu Alberts
Zeiten wurde die Luft bei den Dominikanern für solche Thesen dünn, denn seinem
Schüler Aquin zufolge war Glückseligkeit allein ein Akt der Auserwählung und der
Gnade.
Friedrich von Freiberg befindet sich in der Tradition des Averroës
und des Albert und nimmt sich die späten Schriften des Thomas vor. Der frühe
Thomas baute seine Theologie noch wesentlich auf Averroës auf und erkannte den
freien Intellekt an, der Gott erkennen kann. Doch in späteren Jahren ergänzte er
den Intellekt durch ein göttliches Akzidens, das die Erkenntnis erst
ermöglichte. "Nicht mehr der Intellekt alleine kann Gott erfassen, Gott muss es
auch wollen!", lautete der neue Lehrsatz. Nach dem Tod Thomas' von Aquin im
Jahre 1274 begann ein Prozess theologischer Verdichtung seiner Person und seiner
Schriften, der in seiner Heiligsprechung 1323 einen vorläufigen Höhepunkt fand.
Dem großen persischen Gelehrten Avicenna hat übrigens Noah Gordon
in seinem Roman "Der Medicus" ein würdiges Denkmal gesetzt. Doch dieser Avicenna
beeinflusste Eckhart auch, denn sie teilten sich einige gemeinsame Ansätze, wie
etwa den folgenden: Alles Wesen drängt zum Sein, womit nicht nur die schiere
Exstenz gemeint ist, sondern die Verwirklichung des Seins, heute würde man
vielleicht sagen die Selbstverwirklichung. Und das Gegenteil des Seins wird
gefürchtet: das Nicht-Sein. Nahezu häretisch dürfte die Ergänzung sein, dass
jedes Wesen um seiner selbst willen existiere. Doch Avicenna wurde zumindest von
Eckhart auch seines ungeheuren medizinischen Wissens wegen geschätzt.
Das letzte Kapitel beleuchtet das Verhältnis von Eckhart zu Moses Maimonides, dem Lessing in
Person des Nathan zu literarischer Unsterblichkeit verhalf. Eckhart nutzt den
Moses als Quelle hebräischer also alttestamentarischer
Bibelauslegung.
Fazit
Allen erwähnten Autoren ging es um die Aussöhnung von Philosophie und Theologie. Eckharts Absicht war es auch, das Alte
Testament philosophisch zu beweisen als der Physik und der Metaphysik konform:
"Die Schrift des Alten Testaments ist entweder Naturphilosophie oder Weisheit,
die das Leben leitet." Er deutete die Schriften allegorisch, während Thomas von
Aquin den Buchstaben mehr glaubte und die Poesie des Moses und des
Eckhart ablehnte.
Die vorliegende Untersuchung zeigt aber auch, dass
aufbauend auf Aristoteles Anhänger dreier verschiedener Religionen zu
vergleichbaren Interpretationen gelangten, während intrakonfessionell weniger
begabte Geister die bis in die heutige Zeit reichenden Mauern errichteten und
somit eine klassische religio duplex schufen. So erinnert das Ganze an die
Politik, wo auch in abstractum durchaus vergleichbare Konzepte anzutreffen sind,
während den Wählern eine Polarisierung aufgezwungen wird. Es geht also um
Theorien auf der einen Seite und Macht auf der anderen Seite.
Der Mensch liest ja Bücher um etwas zu lernen, und so bildet sich bei dem Rezensenten ein
leicht geändertes Bild der europäischen Geistesgeschichte. Vielleicht ist der
Begriff der Renaissance falsch, denn verschwunden war die intellektuelle Antike
wohl zu keiner Zeit. Über viele einzelne Wege dürfte sie sich erhalten haben,
auch über einen Umweg über orientalische (ex oriente lux?) Intellektuelle, die
ihrerseits wieder mittelalterlich-abendländische Gelehrte befruchteten. Ende des
13. Jahrhunderts lebte Aristoteles noch in Deutschland, und spätestens Anfang
des 15. Jahrhunderts eroberte er von Italien ausgehend wieder die europäische
Geisteswelt. In den hundert Jahren dazwischen hat er in den Giftschränken der
Klöster überlebt. So beschränkt sich das eigentliche Mittelalter in seiner
Finsternis vielleicht auf das post-thomistische Jahrhundert. Und vielleicht
lässt sich das Mittelalter sogar auf einen Namen reduzieren: Thomas von
Aquin?
Obwohl Albertus Magnus, Dietrich von Freiberg und Eckhart von
Hochheim die großen deutschen Geister eines ganzen Jahrhunderts gewesen zu sein
scheinen, gibt es zu diesem Thema kaum Literatur. So sei dem Autor ein Dank
ausgesprochen für einen überaus interessanten Einblick in das deutsche
Geistesleben des späten 13. Jahrhunderts. Vom selben Autor stammt auch das Buch
"Das Licht der Vernunft. Die Anfänge der Aufklärung im Mittelalter", das sich
wohl als Vertiefung zu diesem Thema anbietet.
Über weite Teile des Buches ist die C.H. Beck'sche Perfektion anzutreffen, doch dann stolpert man
unversehens über einen "'morgendländischen' Ursprung" auf Seite 154 und ein
fehlendes Komma. Schade, keine 100 Punkte.
(Klaus Prinz; 04/2006)
Kurt Flasch: "Meister Eckhart"
C.H. Beck, 2006. 192 Seiten.
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Im Jahr 2000 erhielt Kurt Flasch den
Sigmund Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für
Sprache und Dichtung. Bei C.H.Beck sind zuletzt von ihm
erschienen:
"Eva und Adam. Wandlungen eines Mythos"
Der Mythos von Eva und Adam ist eines der mächtigsten Bild- und Denkmotive der westlichen
Kultur. In den entscheidenden Wandlungen unserer Geschichte wurde er
umgestaltet, die großen sozialen, intellektuellen und künstlerischen Schübe
spiegeln sich in seinem Bild. In einem faszinierenden Essay, der den
kulturhistorischen, theologischen und kunstgeschichtlichen Aspekten nachgeht,
erzählt Kurt Flasch von den Wandlungen dieses Mythos.
Dieses Buch handelt vom
Ursprung der Menschheit, von Gott und der Erschaffung Evas; es erzählt vom
Paradies und der Erbsünde. Es rückt Eva ein wenig in den Vordergrund und zeigt
erneut die Macht des männlichen Blicks auf die Frau. Das Buch betrachtet Eva und
Adam als Themen der westlichen Kunst, des westlichen Glaubens und Wissens. Es
teilt - so heiter und so kurz wie möglich - ein paar wenig bekannte Einzelheiten
mit aus dem Grenzgelände zwischen Kunst- und Ideengeschichte. Kurt Flasch redet
als Historiker von Bildern und Ideen. Er erzählt als Reisender, der Eva und Adam
oft begegnet ist, an der Bernwardstür in Hildesheim, an der Fassade von Notre
Dame und am Adamportal in Bamberg, in der Brancacci-Kapelle in Florenz und in
der Sistina im Vatikan. Noch öfter hat er sie angetroffen in alten Texten. Sein
Buch hat zwei Teile. Im ersten Teil präsentiert Flasch die Bilder und
Erzählungen, ihre Umformungen und Auslegungen. Im zweiten Teil gibt er einen
Eindruck von der europäischen Denkarbeit an dem ursprünglich orientalischen
Stoff und stellt die Doktrinen und Denkgebäude vor, die von der
Paradieserzählung motiviert wurden - das große christliche Dauerthema von
Erbsünde und Rettung.
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"Vernunft und Vergnügen.
Liebesgeschichten aus dem Decameron"
Vergnügen bereitet das Decameron mit
seinen vielen heitererotischen Novellen nun schon seit über 600 Jahren. Elf
dieser Liebesgeschichten sind hier neu in heutiges Deutsch übersetzt, zur
unterhaltsamen Lektüre. Im zweiten Teil des Buches deutet Kurt Flasch, ausgehend
von der Schlussnovelle, das gesamte Decameron neu. Aus dieser Perspektive - der
Geschichte über die so sonderbar willfährige Griselda - zeigt sich der für
Boccaccio in Sachen Liebe so entscheidende Zusammenhang zwischen Vergnügen und
Vernunft. Das Decameron des Giovanni Boccaccio ist eines der berühmtesten Bücher
der europäischen Literatur. Dennoch wird es vielfach unterschätzt. Es zählt bei
vielen als "erotische" Literatur, als "Herrenlektüre". Das Decameron handelt von
Liebe, aber Boccaccio hatte seinen eigenen Begriff davon. Diesen stellt das Buch
vor, so vergnüglich wie möglich, so gelehrt wie nötig. Mancher Leser wird dabei
auf Fragen stoßen: Wie hat Boccaccio über Liebe, über Frauen und Männer gedacht?
Wie konnte er bei so viel Unglück so heiter sein? Welchen Zweck verfolgte
Boccaccio mit seinen Erzählungen? Was bedeutet insbesondere die Schlussnovelle?
Sie handelt von Griselda, die sich von ihrem Mann auf die merkwürdigste Weise
alles gefallen lässt. Wie lässt sich das vereinbaren mit den stolzen und
widerspenstigen Frauen, von denen das Decameron doch auch erzählt? Die
Auslegungen sind vielfältig und umstritten. Kurt Flasch versucht in seinem Buch
eine neue Deutung. Damit erscheint, vom Ende her gelesen, das Decameron in einem
neuen Licht. Es zeigt sich der Zusammenhang von Vernunft und Vergnügen, der für
Boccaccio charakteristisch ist.
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"Nicolaus Cusanus"
Kurt Flasch führt in diesem Buch in knapper Form in das Leben und Werk des vielleicht
bedeutendsten Philosophen des 15. Jahrhunderts ein. Er folgt seinen
Denk-Experimenten und arbeitet die Theorien und ihren argumentativen Ort heraus,
die Cusanus (1401-1464) selbst wichtig waren. Der Leser wird zum Mitdenken
angeregt und lernt Cusanus
aus seinen Werken kennen.
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Kurt Flasch, Udo Reinhold Jeck
(Hrsg.): "Das Licht der Vernunft. Die Anfänge der Aufklärung im
Mittelalter"
Man verkennt das Mittelalter, wenn man es als Gegensatz zur
Aufklärung stilisiert. Die Aufklärung hatte Wurzeln im Mittelalter. Die Beiträge
dieses Bandes sind von international bekannten Fachleuten verfasst und behandeln
allgemeinverständlich die Ansätze zu einer rationalen Erforschung der Welt im
Mittelalter. Der Band ist eine gut lesbare Einführung in die mittelalterliche
Philosophie und Wissenschaft.
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Noch ein Buchtipp:
Dietmar Mieth: "Meister Eckhart"
Meister Eckharts Faszination ist nicht nur für
diejenigen spürbar, die sich mit neuen religiösen oder interreligiösen Impulsen
beschäftigen. Er stößt auch darüber hinaus auf geistiges, literarisches und
religionskritisches Interesse. Der Dominikaner Meister Eckhart (ca. 1260-1328)
lehrte wie Albertus Magnus am Studium Generale der Dominikaner in Köln, aber
auch zweimal, wie Thomas von Aquin, auf dem theologischen Lehrstuhl in Paris
(1303/04 und 1311-1313). Man zählt ihn als Philosophen zu der Deutschen
Albert-Schule, die eine Reihe von vorzüglichen Denkern hervorgebracht hat.
Eckhart, der "magister sacrae scripturae" (Professor der Heiligen Schrift), hat
eine eigenständige Philosophie und Theologie entwickelt, die schon damals viele
faszinierte und immer wieder neu entdeckt wurde. Seine letzten Jahre in Köln
waren von einem Inquisitionsprozess überschattet, der gegenüber einem derart
renommierten Lehrer der Theologie einzigartig war. Denn es ging dabei nicht
primär um akademische Streitigkeiten, sondern um die pastorale Wirkung seiner
deutschen Predigten und Schriften im Zusammenhang mit der Verfolgung von
sogenannten "Freigeistern", aber auch der "Beginen", also religiös lebender
Frauengemeinschaften. (C.H. Beck)
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