Max A. Höfer: "Meinungsführer, Denker, Visionäre"
Wer sie sind, was sie denken, wie sie wirken
Demokratisches
Ranglistendenken
Am Anfang steht das Internet als Ort und
Spiegelung einer tendenziell demokratisierten Medienkultur. Hier
offenbaren sich
Popularität und Missachtung und wer dies messen will, kann dies via
Suchmaschinen - Google und Munzinger - tun. Internetrecherche nennt sich
dieses
Unterfangen und ist für den Journalisten Max A. Höfer ein durchaus
adäquates
Instrument zur Dokumentierung einer intellektuellen Landkarte
Deutschlands. Dem
Ergebnis haftet freilich die Flüchtigkeit eines Momentbefundes an (die
Reihung
des zwischenzeitlich zum Pontifex Maximus gekürten Kardinals Joseph
Ratzinger auf Platz 185 ist wohl überholt), das gewiss, aber nimmt
man das Internet als Seismografen intellektueller Befindlichkeiten
ernst, darf
es durchaus als demokratisches Auswahlkriterium und somit taugliche
Grundlage zu
weiterführenden Sondierungen herangezogen werden. Archive der
Tageszeitungen
runden schließlich die Recherche ab. Solcherart ermittelt der Autor aus
einer
Gesamtmenge von mehr als 2000 ausgewiesenen Denkern, Meinungsführern und
Visionären
eine Rangliste der populärsten 200, von denen, ob ihrer medialen Präsenz
wegen, eine prägende Kraft auf den Geist unserer Zeit ausgeht. Der
Klasse geht
die Masse voran. Wer würde dies bezweifeln wollen? Und die aus dem
virtuellen
Raum zusammengetragene Sachgesamtheit ordnet sich in der Betrachtung
hierarchisch, als Rangliste.
"Meisterdenker" oder auch "Großintellektuelle" nennt Höfer
wiederholt die versammelte Schar illustrer Kopfmenschen, was zwar gleich
die
Fantasie zu ebenso einschlägigen wie polemischen Assoziationen anreget,
womit
aber noch keine Werkskritik eingeleitet ist. Zunächst wird erhoben -
hernach
geht es ans Eingemachte. Doch dazu später. Vorerst muss Höfer seine
Methode
erklären und gegen aufkeimende Kritik verteidigen, zumal nicht eine jede
Person
mit hoher Internetpräsenz deswegen gleich das Attribut eines Denkers
verdient.
Es wurde folglich auch nur in die Rangliste des Denkens aufgenommen, wer
zumindest über ein eigenständiges intellektuelles Profil von gehobenem
Format
verfügt. Ein Udo Jürgens bleibt demnach ausgeschlossen, obgleich der
Barde
erst kürzlich mit seiner Autobiografie "Der
Mann
mit dem Fagott" unter das schriftstellendere Volk gegangen
ist. Und natürlich - Höfer beklagt dies ausdrücklich - so mancher,
dessen
Denken einer eingehenderen Beachtung würdig wäre, liegt in der Rangfolge
unter
ferner liefen. Ein Los, das vor allem Naturwissenschafter trifft. -
Stephen
Hawking (120)!
Eine intellektuelle Landkarte Deutschlands
Wenig Überraschendes bringt nun das sogenannte "Top-200-Denker-Ranking"
zutage, denn präsent ist, wer populär ist. Altvertraute Namen
beherrschen die
Rangliste:
Günter
Grass (1),
Harald
Schmidt (2),
Martin
Walser (3),
Marcel
Reich-Ranicki (4), Wim Wenders (5),
Hans
Magnus
Enzensberger (6), Roland Berger (7), Jürgen Habermas (8),
Peter
Handke (9) und
Christa
Wolf (10) nehmen die ersten zehn Plätze ein. Mit diesen
Herrschaften
musste gerechnet werden. Überraschend ist jedoch die massive Dominanz
der
Literaten (5 Platzierungen unter den Top 10!), Publizisten und
Philosophen.
Abgeschlagen hingegen - wie zuvor schon bemerkt - sind die
Naturwissenschafter,
deren seriöse Befunde zum Zeitgeschehen offenbar weniger interessieren,
als die
Theaterskandale eines Claus Peymann (12) - der Großmeister des "Radical
Chic" - oder der erbarmungslose Moralismus einer
Elfriede
Jelinek (15). Also von wegen Ohnmacht der schreibenden Zunft?
Literaten von überragender Bedeutung für das deutsche Geistesleben
glänzen übrigens
durch ihre Abwesenheit, insofern sie nicht mehr unter den Lebenden
weilen. Der
gerade besonders populäre, weil diesjährig zum 200. Todestag
jubilierende Friedrich
Schiller, oder ein ungebrochen beliebter - zumal anrüchig und
umstritten -
Friedrich
Nietzsche fehlen deswegen auf Höfers intellektueller Landkarte
Deutschlands.
Erst mit Abschluss der einleitenden Ausführungen zur Reihenfolge (auf
Seite 16
des dem Rezensenten vorliegenden Auflageexemplars) nimmt die eigentliche
Lektüre
ihren Lauf. Und wahrlich, bis jetzt war das Buch interessant. Nun wird
es
aufregend und spannend. In sechzig Einzelporträts skizziert Höfer das
biografische
Sein, Denken und Wirken der Alphatiere im intellektuellen Diskurs
Deutschlands.
Frauen - Alice Schwarzer (19) -, Ausländer -
Salman
Rushdie (16) - und jüngere Intellektuelle -
Elke
Heidenreich (29), immerhin auch schon 1943 geboren; oder der
Komponist Wolfgang Rihm, geb. 1952, also geradezu jugendlich -, sie alle
spielen
dabei eine allerdings nur marginale Rolle. Silberhaarige Männer
deutschsprachiger Herkunft dominieren die deutsche Diskursszene. Weder
Frauen
noch Jünglinge bedrohen das Patriarchat im deutschen Kulturbetrieb. Das
Durchschnittsalter der Top 200 liegt bei stattlichen 67 Jahren. Wozu
Höfer
schlussendlich resigniert anmerkt: "Dieses Ranking zeigt die traurige
Wirklichkeit." Geistige Erstarrung droht, zumal nicht nur greise,
sondern
eine Vielzahl von längst verstorbenen Denkern (sie fanden wie gesagt
keinen
Eingang in die Reihung) für das deutsche Geistesleben tonangebend sind.
Für
den Großintellektuellen Günter Grass scheint die altväterliche
Vorherrschaft
hingegen sehr wohl berechtigt: "Ich sehe bei der jungen Generation im
Bereich der Literatur wenig Bereitschaft und wenig Interesse, diese
Tradition,
die zur Aufklärung gehört, nämlich des Mundaufmachens, des
Sicheinmischens,
fortzusetzen."
Eine Einschätzung, über die es sich nun gewiss trefflich streiten lässt,
doch
muss dazu auch die Frage gestattet sein, inwieweit sich
Franzobel
& Konsorten, oder wie immer sich der hoffnungsfrohe Nachwuchs nennt,
zuletzt
hilfreich verhielt, wann immer es darum zu tun war Altvater Grass in
seiner
pessimistischen Einschätzung der jungen Generation vermittels
literarischer
Taten zu widerlegen?
Max Höfer zeigt sich nun mittels der von ihm verfassten sechzig
Einzelporträts
nicht nur als Mann von erstaunlicher Gelehrsamkeit, sein Wissensfundus
scheint
unerschöpflich und von gediegener Qualität, sondern versteht darüber
hinaus
mit bissiger Polemik den Leser zu erheitern. Eloquent und nicht bar
jeder
Streitlust wirft er sich unvermittelt ins Gefecht, eben nicht um zu
dozieren,
sondern um intellektuell aufzureizen. Und obgleich die
Wissensvermittlung
vorherrscht, so langweilt der Autor keinesfalls mit einem Abklatsch
professoraler Sachkunde. Ein Porträt nach dem anderen serviert sich als
intellektueller Leckerbissen, weder mit Lob noch mit Kritik wird gespart
-
zuweilen schärft Pfeffer die Kost und brennt in der Kehle nach. Auf
Empfindlichkeiten wird keine Rücksicht genommen - Tabuisierungen im
Denken, die
gibt es für Höfer nicht. In und zwischen den Zeilen macht sich ein
intellektueller Freiheitsbegriff breit, der sich mit Querdenkern und
Ketzern
solidarisiert und den Wächtern tugendhaften Denkens höhnt. Die
Herangehensweise ist allemal subjektiv und verrät zwischen den Zeilen
eine -
allfällig provozierende - weltanschauliche Positionierung, die aus der
persönlichen
Gesinnung keine Mördergrube macht, ohne deswegen den Leser mit
aufdringlichen
Belehrungen zu belästigen. Höfer hält sich als Person zwar im
Hintergrund,
jedoch verleugnet er deswegen nicht seine Autorschaft als politischer
Kopf. Dazu
sei vorerst nicht mehr verraten als dieses: Ein eifernder Zelot ist
Höfer
bestimmt nicht.
Linke Hegemonie
Betrachtet man die Ausführungen zu den Porträts im Überblick - als
intellektuelle Landkarte Deutschlands - drängt sich der sicherlich nicht
überraschende
Schluss einer weltanschaulich linken Hegemonie auf. Die
Großintellektuellen
stehen überwiegend im linken Lager. Freilich wimmelt es darin von
Dissidenten,
deren, von selbsternannten Gesinnungswächtern gerne vorschnell als
revisionistisch und faschistoid denunzierte, Abweichungen von der
Orthodoxie
linker Sprachregelung sind oftmals nicht viel mehr als die Folge einer
(tatsächlichen
oder auch nur eingebildeten) intellektuellen Redlichkeit, die sich
keinem
politischen Korrektheitsdiktat beugen möchte. So könnte es, nach der
Darstellung Höfers, zum Beispiel bei den Historikern Ernst Nolte (76),
dem zählebigen
Paria, und Hans Mommsen (84), dem streitsüchtigen
Vergangenheitsbewältiger,
der Fall sein. Beide Forscher sind linker Provenienz und werden ob ihrer
wissenschaftlichen Erkenntnisse als Revisionisten angefeindet. Nolte,
der eine,
weil er den Nationalsozialismus als primäre Reaktion auf die
Vernichtungswut
des Sowjetkommunismus deutet (der Gulag ist das Original; Auschwitz nur
die
Kopie) und weil er zuletzt (im Jahre 1994) das verbindlich geltende
Geschichtsbild zum Holocaust als unwissenschaftlich anzweifelte und
trotz
beruflicher Strafmaßnahmen gegen seiner Person - die Frankfurter
Allgemeine kündigte ihm die Zusammenarbeit - bei dieser
ungehörigen
Meinung blieb. Der andere, Hans Mommsen, Abkömmling der berühmten
Mommsen-Dynastie, geriet wegen seiner These unter Beschuss, das
NS-Regime sei
planlos und nicht aus krimineller Zielstrebigkeit in die Diktatur
hineingestolpert, wie denn auch die Genozid-Politik gegen das
europäische
Judentum einzig als Selbstlauf einer "kumulativen Radikalisierung"
richtig zu verstehen sei. Einen Führerbefehl zur Vernichtung der Juden
hätte
es tatsächlich nicht gegeben. An die Stelle der üblichen
Verbrechenstheorie
tritt bei Mommsen eine
Chaostheorie,
die dann freilich das sogenannte größte Verbrechen aller Zeiten in einem
anderen Licht erscheinen lässt. An die Stelle eines kriminellen
Vorsatzes zum
Rassen-Genozid, treten Unvermögen und schweres moralisches Versagen der
bürgerlichen
nationalkonservativen Eliten.
Für den Historikerkollegen Eberhard Jäckel macht sich nun der
"Auschwitz-Lüge"
bereits schuldig, wer den Judenmord als Ergebnis gezielter Politik
bestreite,
sowie die tendenziöse und trivialisierende Behauptung aufstelle, dass
dieser
Vorgang nicht einmalig gewesen sei, sondern Vorläufer gehabt habe, die
sogar
als Vorbild gedient hätten. Demnach - Höfer beruft sich auf einen
Kommentar in
der Berliner Zeitung - würden Nolte und Mommsen ihre Thesen zur
deutschen NS-Geschichte künftig
aus der Gefängniszelle heraus debattieren müssen.
Kein Zweifel, der Geist weht links, aber nicht, wo er will. Was
zusehends
Konflikte mit sich bringt, denn die Tugenden der Freigeisterei sind noch
lange
nicht aus der Welt verbracht und nehmen dabei - siehe Nolte, siehe
Mommsen -
zuweilen eine Gestalt an, die manch Anderen betroffen macht. Die
deutsche
Verfassung rechten Bewusstseins scheint immer wieder auf ein Neuerliches
gefährdet
zu sein. Der letzte Großintellektuelle, wie Höfer ihn respektvoll
tituliert, Günter
Grass (1), und insbesondere der bundesrepublikanische Staatsphilosoph
Jürgen
Habermas (8), der "Papst der Linken" (Die Zeit), fungieren
als hypermoralische Wächter "demokratischer
Grundwerte" zur Sicherung dieser akzentuiert antifaschistischen
Nachkriegsverfassung. Nolte, Mommsen und dergleichen
"Geschichtsrevisionisten",
als wie auch Martin Walser (3) und Botho Strauß (13) rechtfertigen ob
ihrer
intellektuellen Ketzereien diesen Wächterstand zur sozialen Kontrolle
korrekter
Gesinnung vor sich selbst.
Großintellektuelle und Großinquisitoren
Ob seines häufigen Aufscheinens ist Habermas die wohl dominanteste Figur
im
Buch. Als Wächter über politische Korrektheit und Leitwolf rechten
Denkens ist
der deutsche Kultphilosoph zum literarischen Reibebaum prädestiniert.
Höfer
wirft dem Philosophen der kritischen Theorie das Gehabe eines
"Großinquisitors"
vor, der immer wieder zu Ketzerprozessen aufrühre. 1980 exkommunizierte
er in
seiner berühmten Rede zur Verleihung des Adorno-Preises die
französischen
Philosophen Jacques Derrida (20) und Michel Foucault aus der Gemeinde
rechtgläubiger
Aufklärer. Er nennt sie "Jungkonservative" und beschuldigt sie,
"einen unversöhnlichen Antimodernismus zu begründen". 1986 entfacht
Habermas aus Sorge um das antifaschistische Selbstverständnis der
Bundesrepublik mit einem Zeit-Artikel
den berühmt berüchtigten "Historikerstreit". Sein Gegenüber ist der
Faschismusexperte Ernst Nolte (76), der für eine Normalisierung des
deutschen
Geschichtsbewusstseins plädiert. Martin Walser (3), der Prediger der
Normalität,
und Botho
Strauß (13), ein "anarchistischer Rechtsintellektueller",
als den ihn Daniel Cohn-Bendit bezeichnet (Nr. 10, des gesonderten
Politiker-Rankings), gehören zu den Lieblingsgegnern des Frankfurter
Großdenkers.
Wiederholt überführt er sie des "gefährlichen Denkens". Als er
jedoch den Philosophen
Peter
Sloterdijk (39) wegen eines 1999 gehaltenen Vortrags über
Gentechnik
als "nietzscheanischen Menschenzüchter" zu denunzieren versucht,
trifft er in diesem auf einen gleichwertigen Gegner, der ihn in einem
über die
Medien geführten Machtkampf schmerzliche Blessuren zufügt. Nicht ohne
Genugtuung und Häme merkt Höfer dazu an, dass Sloterdijk die Kontroverse
ob
seines angeblichen
Nietzscheanismus
nicht nur überlebt hat, sondern seither des furchtbaren Habermas Ruhm
im
Schwinden sei. Freilich wusste der Autor zu dem Zeitpunkt, als er dies
schrieb,
noch nicht um die sich neuerlich anbahnende Geistesgenossenschaft
zwischen Ratzinger
und Habermas. Der deutsche Papst der Linken im Bündnis mit dem deutschen
Papst
der Katholiken. Wer hätte das erahnt?
Nicht zuletzt die akzentuierte Vorführung von Habermas macht deutlich,
dass Höfers
Buch mehr ist, als es zu sein scheint. Es ist ein Plädoyer für mehr
Liberalität
im Geiste und in diesem Sinne ein Versuch gegen eine angenommene
linksintellektuelle Repressionspraxis anzuschreiben. Freigeister nach
Belieben
als "rechts" zu etikettieren und bei jeder Gelegenheit mit der allemal
bereitliegenden Moralkeule zu verdreschen, ist eine nicht weiter
widerspruchslos
hinzunehmende Unerträglichkeit. Nicht der Wunsch die linke Hegemonie
gegen eine
rechte auszutauschen bewegt Höfer zu seinem Engagement, sondern der Zorn
über
jene säuerliche Unduldsamkeit, die sich mitunter in der Person des
linksintellektuellen "Großinquisitors" Jürgen Habermas
personifiziert. Skepsis gegenüber vorgekauten Wahrheiten sollte nicht
gleich
wie im Reflex als "gefährliches Denken" geahndet werden. Gut möglich,
dass Höfer mit Martin Walser fühlt, der über sich (Höfer bringt das
Zitat)
sagte: "Ich habe keine Chance mehr, links zu sein oder zu gelten. Und
rechts zu sein oder zu gelten, daran ist mir nicht gelegen. Ich habe mit
diesen
Adjektiven Schluss gemacht. Das sind Verblendungen, Attrappen,
Verlogenheiten,
moralische Anmaßungen."
Das Politikerranking - linker Hedonismus
Als exklusiver Stand werden in Höfers Buch die Politiker geführt. Ihrer
dominanten Sonderstellung in der öffentlichen Wahrnehmung wegen, kann
der Autor
nicht umhin, sie dem allgemeinen Ranking zu entheben; sie bekommen eine
eigene
Liste, welche, entsprechend der linken Kulturhegemonie, ebenso - so
scheint es
doch - von Politikern der Linken dominiert ist. Eine Vorherrschaft, die
sich,
laut Höfer, seit Jahrzehnten über die Auflösung von
bürgerlichkonservativen
Sekundärtugenden wie Fleiß und Gewissenhaftigkeit beobachten lässt. Der
heutige Kapitalismus fuße nicht mehr allein auf dem Boden der
protestantischen
Arbeitsethik, konstatierte der amerikanische Soziologe Daniel Bell schon
in den
1960erjahren.
Max
Webers
Kapitalismustheorie ist für Zwecke einer Gegenwartserklärung
passee. Damit ist die Epoche einer neuen ökosozialen und postmateriellen
Linken
angebrochen, deren hedonistisches Lebensmotto "ficken, fressen, saufen"
(Lafontaine) in der Spaßgesellschaft mehrheitsfähig ist. Der Linksruck
in den
vergangenen 40 Jahren sei massiv gewesen. Wahrnehmungsweisen und
Lebensstile
konstruieren sich über linke Begrifflichkeiten. Der schwelgerische und
keineswegs mehr proletarische Genussstil der Salonmarxisten, in
Frankreich
"gauche caviar" genannt, weil sie zu
Champagner und Kaviarbrötchen über
das Elend in der Dritten Welt debattieren, ist nicht erst neuerdings
aller
Lebensethik letzter Schluss.
Die "Toskana-Fraktion"
Höfer unterstellt der Linken pharisäerhaftes Gehaben, wenn nicht gar
eine
sittliche Zerrüttung, die sich im Gestus als gutmenschlich und
moralinsäuerlich
inszeniert, aber gleichzeitig einem großbürgerlichen Lebensstil frönt,
der es
sich an nichts mehr fehlen lässt. Die sogenannte "Toskana-Fraktion",
so Höfer, sieht sich im Besitz der richtigen Moral, steht stets auf der
Seite
der Armen und Geknechteten. Das hindert sie aber nicht daran, auch die
schönen
Seiten des Lebens zu genießen. Vorliebend in der norditalienischen
Toskana,
wo in den Achtzigerjahren die nun etablierten 68er Ferienhäuser
erwarben. Die
"Toskana-Fraktion" ahmt, nach Meinung Höfers,
die
klassische
Boheme nach: Von den Tugenden der Konservativen ist sie
gleich weit entfernt wie von der preußisch-protestantisch geprägten
deutschen
Sozialdemokratie und der piefigen Kleinbürgerlichkeit der SED. Zur
echten
Boheme, lästert Höfer, fehlt ihr allerdings alles: Exzesse,
Tabubrüche,
kulturelle Impulse.
Wer der rotgrünen "Toskana-Fraktion" in ihrem postmateriellen Streben
nach vermeintlich klassischer, doch tatsächlich biederer Boheme die
Gefolgschaft verwehre und sich stattdessen an des (nun wirklich)
klassischen
Sozialdemokraten Helmut Schmidt "Sekundärtugenden" - Pflichtgefühl,
Berechenbarkeit, Machbarkeit und Standhaftigkeit - orientiere, muss mit
dem
Vorwurf rechnen, mit reaktionären Tugenden dieser Art "könne man auch
ein
KZ betreiben". Genau diese Ungeheuerlichkeit hat einst der jugendlich
freche, doch zwischenzeitlich kaum geläuterte Oskar Lafontaine (Nr. 2,
Politikerranking) dem früheren deutschen Kanzler Helmut Schmidt, ob
dessen
Tugendlehre, zum Vorwurf gemacht. In weiterer Folge reichte Lafontaine
einen
kontrastierenden Katalog antibürgerlicher Tugenden nach. Zentraler
Bestandteil
dieser antibürgerlichen Tugendlehre ist das "Recht auf
Faulheit
für alle, die heute Arbeit haben". Die Befreiung von Erwerbsarbeit müsse
das Ziel sein. Und die Einführung einer Grundsicherung
ist die logische Konsequenz aus dieser Zielsetzung. Höfer -
offensichtlich kein
Anhänger der lafontainschen Tugend- und Soziallehre - spricht in diesem
Zusammenhang etwas abschätzig vom "Toskana-Prinzip", das jede
Leistungsethik zwar von sich weise, aber doch der Konsummentalität nicht
entsagen wolle. Und zum krönenden Abschluss auch noch eine
antikapitalistische
Sozialethik davon ableite, denn wer weniger arbeitet und faul ist,
handelt nach
Auffassung von Lafontaine solcherart bewusst sozial und verweigere sich
löblichst
der kapitalistischen Ausbeutung, ohne deswegen einer pfäffischen Askese
anheim
zufallen.
Leistungsverweigerung und
wohllebender
Müßiggang als adäquate Antwort auf vermeintlich (oder tatsächlich)
inhumane Lebensverhältnisse? Ein Nonkonformismus wie die Made im Speck,
da die
Made alles Recht dieser Erde hat, während ihres kurzen Lebens den Speck
zu
genießen und nicht an dessen unermüdlichen Aufbereitung vor der Zeit vom
Leben
zu ermüden. Dass Höfer diese Spielart eines hedonistischen
Antikapitalismus
nicht wirklich goutiert, ist aus der stillen Empörung, die aus den
Textzeilen
grollt, und aus mancher unterschwellig rüberkommenden sarkastischen
Anmerkung
zu vernehmen. Einer offenen und allzu offensiven Kritik enthält sich der
Autor
allerdings. Diese wäre auch nicht Gegenstand seines Buches.
Joschka Fischer - Symbolfigur der 68er
Wie Höfer es aber auch immer insgeheim aufnehmen mag, die politische
Linke
dominiert das Politikerranking, denn als Nummer 1 thront niemand
Geringerer als
Joschka Fischer, die Symbolfigur der
68er,
welcher die Grünen erfolgreich
entideologisierte und Gedanken propagierte, die ihn nicht zu Unrecht zum
populärsten
deutschen Politiker machten. In seinem Buch zur Wahl 1998, "Der
neue Gesellschaftsvertrag",
lehnte Fischer alle Veränderungen in Richtung amerikanischen
Marktliberalismus
ab: "In Europa dominiert der Staat, in Amerika die Gesellschaft. Europas
Grundprinzip ist die Ordnung, Amerikas die Freiheit." So soll es
bleiben.
Die neoliberalen Amerikafreunde aus der Wirtschaft seien, erkennt
Fischer, die
wahren Systemveränderer und "Revolutionäre". Rot-Grün sei demgegenüber
der konservative Hort des "rheinischen Kapitalismus". - Ein
Gedankengang, wie er der mitteleuropäischen Mentalität entspricht. Höfer
widerspricht dem nicht und scheint angesichts Fischers erstaunlicher
Lern- und
Entwicklungsfähigkeit gegenüber dem früheren Anführer eines wilden
Haufens
gewaltversessener Politrocker (Frankfurter "Putzgruppe") versöhnlich
gestimmt. Zu Fischers persönlichem Lebensstil kann sich der Autor jedoch
die
eine oder andere Spitze nicht verkneifen. Immerhin tauscht dieser
Fischer so
alle paar Jahre die zwischenzeitlich gealterte jeweilige Lebenspartnerin
gegen
eine jüngere aus. So viel zur linken Kritik am kapitalistisch
vermittelten
Warencharakter weiblicher Leiblichkeit.
Samuel P. Huntington - The Clash of Civilizations
Nicht zuletzt an der distanzierten und teils hämischen Betrachtung der
dominierenden deutschen Linken erkennt man die Positionierung des Autors
gegenüber
dem Objekt seiner Betrachtung. Sein Bezug scheint alles Andere als von
ungeteilter Sympathie getragen. Das Gegenteil scheint viel mehr der Fall
zu
sein. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird gezielt auf Schwächen und
Lächerlichkeiten
gelenkt. Hingegen die Würdigung eines Samuel P. Huntington (60), des
Propheten
des Kulturkampfes, bei Höfer mehr oder weniger als widerspruchslose
Würdigung
eines großen Denkers über die Bühne geht. Multikulturalismus
sei gleichbedeutend mit einer Selbstaufgabe des Westens und wohl
generell (Höfer
schreibt das nicht so wortwörtlich, wie es hier steht) ein Symptom der
Gegenaufklärung. Der Islam sei die größte Bedrohung, weil demografhisch
von
einem hohen Anteil der Altersgruppe der 15- bis 30-jährigen Männer
getragen,
die zu Hause keine Jobs finden, nach Europa ausweichen oder sich für den
Kampf
gegen Nichtmuslime rekrutieren lassen. Die Kulturen wachsen nicht
friedlich
zusammen, der Westen solle seine Prinzipien verteidigen, denn nach
Huntington
sei das Grundgesetz besser als die Scharia, der Minirock besser als die
Burka,
die Trennung von Staat und Kirche besser als das islamische Kalifat. Das
21.
Jahrhundert werde das Zeitalter der Muslim-Kriege, was, so beklagt es
Huntington, die amerikanischen Eliten, besonders in den Medien und in
der
Politik, noch nicht begriffen hätten. Vielleicht etwas simple Thesen zu
einem
hausgemachten Elend und den Folgen daraus, welche es verdienten auf
ihren
Plausibilitätsgehalt hinterfragt zu werden. Höfer leistet die Arbeit
einer
kritischen Hinterfragung jedoch nur sehr partiell bis gar nicht.
Vielmehr sei
der gegen die New Yorker Twin Towers geführte
Anschlag
vom
11. September 2001 eine grausame Bestätigung von Huntingtons
Vorhersage vom kommenden "Zusammenprall der Kulturen". Sich in
kritischer Distanz zu üben, bleibt somit dem mündigen Leser überlassen.
Milton Friedman - grenzenloses Vertrauen in die Marktkräfte
Auch die Besprechung von Milton Friedmans (59) Leben und Werk, der
Abkömmling
bessarabischer Einwanderer wird von Höfer als "der Fackelträger der
Freiheit" geehrt, fällt gar sympathisch aus. Ohne viel Federlesen
übernimmt
Höfer die massive Staatskritik des neoliberalen Ökonomen jüdischer
Herkunft,
der aus Staatsfeindlichkeit die Abschaffung des Führerscheins, der
staatlichen
Schulpflicht und Regelung des Gesundheitswesens, aber auch die Freigabe
von
Drogen und der Abtreibung sowie (um staatliche Sozialbürokratie
einzusparen)
die Einführung einer Grundsicherung fordert und am Höhepunkt seiner
ideologischen Staatsverneinung selbst am Anarchismus per se nichts
Schlechtes
erkennen kann. Das Porträt zu Milton Friedman endet mit einem - von
Höfer
unkommentiert belassenen - kräftigen Seitenhieb auf die
Globalisierungsgegner
von der Gruppe Attac: "Wer da demonstriert, sind nicht die Betroffenen,
sondern hauptsächlich gut situierte Mittelklasse-Zöglinge, die sich
amüsieren
wollen und sich das leisten können. Das ist eine reine Spaßbewegung."
Ein gelehriges Buch für mündige Köpfe
Am Politischen scheiden sich die Geister. Habermas ist für Höfer der
Quell
linken Gesinnungsterrors, Oskar Lafontaine ist ein griesgrämiger
Propagandist
egoistischer Genusssucht, und das Politidol Joschka Fischer war lange
Zeit Kopf
einer Bande revolutionärer Gewalttäter, der sich nicht genierte in
Westdeutschland einen verkappten Nazistaat zu sehen, gegen den mit
Herbert
Marcuse "die Gewalt der Befreiung" geboten war. Den Vorkämpfer
wirtschaftsliberaler Staatsverachtung, Milton Friedman, charakterisiert
Höfer
hingegen als "Fackelträger der Freiheit", Huntington steht ihm für
eine realistische Weltsicht, die sich nicht in multikulturelle
Illusionen flüchtet,
Guido Westerwelle (Nr. 7, Politikerranking) erkennt er als "smarten
Liberalen", und den Ex-CDU-Generalsekretär Heiner Geißler (Nr. 9,
Politikerranking) als streitbaren Linkskatholiken, der über die Frage "Was
würde Jesus heute sagen?"
zu dem Schluss kommt, der Gottessohn wäre heute für freien Haschkonsum,
würde
Prostitution erlauben und hätte auch nichts gegen Homosexualität
einzuwenden.
Wiederholt charakterisiert Höfer bürgerliche Denker als generös und
besonnen,
Linke und Avantgardisten hingegen als zweifelhafte Glücksritter und
Spinner.
Wofür sich einzelne - in der Tat doch nichts als launische - Zitate
trefflich
eignen, etwa die kühnen Assoziationen des Komponisten Karlheinz
Stockhausen
(27) nach dem Anschlag vom 11. September 2001 in New York: "Was da
geschehen ist, ist - jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen - das
größte
Kunstwerk, das es je gegeben hat. Dass Geister in einem Akt etwas
vollbringen,
was wir in der Musik nicht träumen könnten, dass Leute zehn Jahre üben
wie
verrückt, total fanatisch, für ein Konzert und dann sterben: Das ist das
größte
Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos. Das könnte ich
nicht.
Dagegen sind wir gar nichts, als Komponisten."
Textstellen wie diese rücken den sowieso längst schon anrüchig
gewordenen und
nie so recht beim Publikum akzeptierten Kunstbegriff der Avantgarde in
die Nähe
radikaler Gewaltfantasien und rechtfertigen jede Rückbesinnung auf die
harmonische Dur-Moll-Tonalität der bürgerlichen Musikkultur. In der
Konsequenz
muss es dann lauten: Man verabschiede sich von der postmodernen
Lässigkeit und
bemühe sich wieder um die Herausbildung der gefälligen Form klassischen
Zuschnitts.
Trotz des nicht zu verschweigenden Kritikpunktes von wegen einer
wahrlich nicht
immer zutreffenden Ausgewogenheit bei der Skizierung der Porträtierten -
wie
gesagt, der Autor verleugnet seine liberalbürgerliche Gesinnung nicht -
darf
das besprochene Buch doch, allein schon in Hinblick auf die mit Gespür
für das
Interessante und Wesentliche ausgewählte Informationsfülle,
uneingeschränkt
zur Lektüre empfohlen werden. Es vermittelt einen fundierten,
kritischen, überhaupt
nicht devoten und deswegen überaus vergnüglichen Überblick und Einblick
in
das Denken und Leben der Eliten aus Literatur, Wirtschaft,
Kunstschaffen,
Theologie, Wissenschaft und Politik und zeigt folglich aus welchen
Quellen sich
jener öffentliche Diskurs speist, der letztlich über mediale Vermittlung
die
Weltsicht des mündigen Bürgers mitprägt. Und nach welchen
Gesetzmäßigkeiten
öffentliches Denken funktioniert. Zwar scheinen - wie schon eingewendet
- Höfers
Wertungen nicht immer gerecht, sondern im Einzelfall tendenziös, hantig,
weil
zornig gegenüber jeglichem widerfreiheitlichen Korrektheitsdiktat, aber
liegt
denn nicht auch in dieser selbstbewussten Manifestation persönlicher
Haltung
ein nicht nur unterhaltsamer, sondern zum eigenständigen Weiterdenken
aufreizender Impuls? Nichts wäre jedenfalls der Sache abträglicher als
ein
knochentrockenes Paradieren bloß lexikalisch dargelegten Faktenwissens.
Seriöse
Zurückhaltung kann mehr verschleiern als ihr lieb sein sollte und ist
oft nicht
viel mehr als der Beweis einer knechtischen Mentalität im Verhältnis zu
den
Autoritäten einer hierarchisch geschichteten Ordnung öffentlichen
Denkens. Und
der mittlerweile zum Citoyen gereifte Leser wird wohl für den Umgang mit
subjektiven Standpunkten schon mündig genug sein. Immerhin schreiben wir
heute
das 21. Jahrhundert! Das eigene Kritikvermögen nach bestem Wissen und
Gewissen
zu nutzen, das darf in längst aufgeklärten und bald schon abgeklärten
Zeiten
wohl jedem Mann und jeder Frau zugemutet sein.
(Harald Schulz; 05/2005)
Max A. Höfer: "Meinungsführer,
Denker, Visionäre"
Eichborn, 2005. 367 Seiten.
ISBN 3-8218-3982-1.
Buch
bei amazon.de bestellen
Der Wirtschaftswissenschaftler und Politologe Max A. Höfer wurde 1959 in Stuttgart geboren.