James Meek: "Die einsamen Schrecken der Liebe"

(Hörbuchrezension)


Der junge und unpolitische Student Kyrill Iwanowich Samarin verliebt sich unsterblich in die schöne Ekaterina, die perfekte Inkarnation dessen, was man zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der russischen Bourgeoisie als "weiblich" empfand: oberflächlich, mehr an der neuesten französischen Mode denn an Politik interessiert, abends die Herren musizierend unterhaltend und ansonsten allenfalls als stummes und ihrem Mann hingebungsvoll ergebenes Beiwerk zu gebrauchen.

Ekatharinas Vater verbietet seiner Tochter den Umgang mit Samarin, weil er gesellschaftlich weit unter ihrem Stand steht und für eine Vermählung nicht in Frage kommt. Stattdessen arrangiert der Patriarch ein Treffen seiner Tochter mit einem ihm geneigten Studenten. Dieser schreibt eifrig Gedichte, die er der Angebeteten bei diesem Treffen vortragen will. Samarin, gutmütiger Verlierer, bietet sich an, seinen Nebenbuhler zum Treffen zu geleiten. Doch auf dem Weg passiert ein Unglück, und der Poet beschmutzt sich derart mit Schlamm, dass an ein Treffen nicht mehr zu denken ist. Uneigennützig schlägt Samarin vor, an seiner Statt die Gedichte zu überbringen.
Was der Nebenbuhler nicht weiß, ist, dass der "Unfall" von Samarin sorgfältig vorbereitet wurde ...

Diese Begebenheit steht am Anfang von James Meeks mittlerweile drittem Roman "Die einsamen Schrecken der Liebe" und wird von Jörg Schüttauf im Spannungsfeld zwischen verständnisvollem Mitgefühl, ironischem Seitenblick und bedrohlichem Unterton vorgetragen. Der Ausklang der Einführung hält den Hörer schwerelos, doch von Schüttaufs Stimme getragen, fest im Griff. Bevor man sich überlegen kann, wieso man diese Passage als bedrohlich empfindet, springt der Autor nach Sibirien ins Jahr 1919, irgendwo an einer Bahnstrecke ins Nirgendwo.

Wiederum geschieht ein Unglück, dessen Zeuge ein verwahrloster, verhungerter und verschlagen blickender Mensch wird, der wenige Minuten vorher aus dem Wald taumelte und sich mit gierigem Gesicht ins Wasser stürzte, um sich satt zu trinken. Es ist Samarin, vor Monaten aus dem sibirischen Straflager "Der weiße Garten" an der Polargrenze geflohen, in das er als "Politischer" verbannt wurde. Endlich hat er es geschafft, in zivilisierte Gegenden zurückzukehren. Doch noch ist er nicht außer Lebensgefahr, denn ein Mitgefangener namens "Der Mohikaner" ist ihm auf den Fersen, um ihn umzubringen.

Meeks Schilderung dieses Unfalls ist eine der stärksten, plastischsten und detailfreudigsten Szenen des gesamten Romans und gehört, trotz der ihr innewohnenden Grausamkeit, des spürbaren Terrors und der letalen Endgültigkeit, zu den schönsten. Gleiches gilt für die Interpretation des Sprechers, der hier nicht Dramatik heischend poltert, sondern durch seine zurückhaltende, aber unglaublich vielschichtige Vortragsweise gekonnt einen scharfen Kontrapunkt zum erzählten Text setzt und den Hörraum dadurch merklich erweitert.

Die Extreme von Recht und Liebe
Meeks Geschichte spielt vor dem Hintergrund des bisher von "westlichen" Autoren weitestgehend vernachlässigten Zeitraums kurz nach dem Ersten Weltkrieg in Russland. Der Zar wurde ermordet, die Armee der Kommunisten kämpft unter Trotzki gegen die Reste der Anhänger der alten Ordnung und ihrer Verbündeten. Zu diesen zählt auch die Tschechoslowakische Legion mit einer Stärke von 92.000 Mann, von denen einige hundert unter der Führung des despotischen und gewalttätigen Hauptmanns Matula in Jasyk Stellung bezogen haben. Jörg Schüttauf individualisiert jeden einzelnen Protagonisten durch prägnante, akzentuierte aber zurückhaltende Merkmale, die völlig die Ambivalenz der Charaktere wiedergibt, denn keinen kann man eindeutig "Gut oder Böse" zuordnen. Einzig Matula verleiht er eine prägnant schnarrende, relativ hohe und von Zynismus sprühende Stimme, die von Beginn an keinen Zweifel über seinen Charakter und seine Rolle im Hörbuch lässt.

Doch nicht nur mit der kräftigen und glaubhaften Zeichnung seiner Charaktere beweist James Meek seine außerordentlichen literarischen Qualitäten. Gleichzeitig liefert er uns ein stimmiges Bild der gesellschaftlichen Entwicklungen und Stimmungen im Nachkriegsrussland. Dieses ist geprägt von religiösem Fanatismus, Flucht in alte heidnische Riten und Schamanismus, Hoffnung auf den Aufbruch in bessere Zeiten unter dem Kommunismus, berechtigten Zukunftsängsten der Bourgeoisie, die ihrer Privilegien beraubt und deren Eigentum beschlagnahmt wird, Konterrevolutionären, Anarchisten und Bombenlegern. Gelegentlich lehnt er seinen Erzählstil an berühmte russische Dichter an. So könnte Samarins Schilderung der unmenschlichen Verhältnisse im Straflager in ihrer Dringlichkeit ohne Weiteres aus Dostojewskis anklagendem Buch "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus" stammen.

Meek ist auch ein Meister der Mehrdeutigkeit und der Verknüpfung intertextueller Bezüge zu einem homogenen Ganzen. Als Beispiel für seine Brillanz mag hier der Originaltitel des Buches herangezogen werden: "The People's Act of Love". Diesen kann man sinngemäß mit "Was Menschen aus Liebe tun" übersetzen. Nimmt man nur eine kleine Änderung am Text unter fast völliger Beibehaltung des Klanges vor, ergibt sich: "The People's Act of Law"; also "Das (gesetzlich verbürgte) Recht des Volkes."

Diese einander auf den ersten Blick fast diametral gegenüberstehenden und scheinbar ausschließenden Motivationen werden fast deckungsgleich, führt man sie zu ihren jeweiligen Extremen. So rechtfertigen die Tschechen ihre Gräueltaten damit, dass man sich im Krieg befindet und das Kriegsrecht gilt. Die Bewohner von Jasyk rechtfertigen ihre Selbstverstümmelungen mit ihrer außerordentlichen Liebe zu Gott und legen dabei die Bibel wörtlich aus. Leutnant Mutz' Motivation ist die Vaterlandsliebe, für die er bereit ist, zu töten. Die Bibel der "Roten" ist das kommunistische Manifest, welches diese wörtlich nehmen, und die Anhänger des ermordeten Zaren beanspruchen für sich das alte Standesrecht.

Wird eine Geschichte aus einer Vielzahl solcher roter Fäden gestrickt, besteht die Gefahr, dass aus dem vom Autor geplanten Handschuh eine schnöde Socke wird. James Meek hingegen gelingt es, dank seines literarischen Könnens und exzellenter Recherche, das Knäuel zu entwirren und das Goldene Vlies neu zu erschaffen.

(Wolfgang Haan; 06/2006)


James Meek: "Die einsamen Schrecken der Liebe"
Argon, 2005. 7 CDs, Laufzeit ca. 517 Minuten.
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Buchausgabe:
Droemer, 2005. 432 Seiten.
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James Meek wurde 1962 in London geboren und wuchs in Dundee auf. Seit 1985 arbeitet er als Journalist, die Jahre 1991 bis 1999 verbrachte er als Auslandskorrespondent in der ehemaligen Sowjetunion. James Meek lebt heute in London, wo er für den "Guardian", "The London Review of Books" und das Magazin "Granta" schreibt. "Die einsamen Schrecken der Liebe" ist sein erstes Buch in deutscher Sprache.