Jacques Lajarrige (Hrsg.): "Milo Dor - Budapest - Belgrad - Wien"
Wege eines österreichischen Schriftstellers
Der Schriftsteller vom Rand, mittendrin
Im Jahre 1998 beklagte der österreichische Schriftsteller Milo Dor anlässlich
seines 75. Geburtstags in einem Interview die späte und unvollständige Rezeption
der Werke heimischer Nachkriegsschriftsteller. Sie alle hatten schonungslos
und offen in späten Vierziger Jahren und frühen Fünfziger Jahren Leben und Leid
im Dritten Reich reflektiert. In die Schulbücher hatten ihre Texte, aus denen
Geschichte hautnah erfahren werden konnte, aber kaum Eingang gefunden: "...
das dauert alles so lang hier. Ich weiß nicht, wie lange man tot sein muss,
um in Österreich wiederentdeckt zu werden." Diesen sarkastischen Tonfall kennen
wir aus Dors Mladen-Raikow-Trilogie, die sich eng an der Biografie des Autors
entlang hantelt und gerade wegen ihrer Sachlichkeit, gesprenkelt mit hintergründigem
Humor, auch heute noch lesenswert bleibt. Und wieder einmal hat der Dichter
vom "Rand" der Donaumonarchie Recht.
Milo Dor wurde als Milutin Doroslovac am 7.3.1923 in Budapest geboren als Kind
serbischer Eltern. Die Donaumonarchie war gerade erst vergangen, und obwohl
Dor seine ersten Jahre in einem kleinen Städtchen im Banat und später in Belgrad
verbrachte, wo er 1941 maturierte, war für ihn Wien ein natürliches Kraftzentrum
und die deutsche Sprache zweite Heimat. Viele Menschen lebten damals in der
Provinz in großer Isolation. So geht es auch Milo Dors Doppelgänger, dem Knaben
Mladen: "Wenn er einen Brief in den Postkasten warf, befiel ihn immer die Angst,
dass er nie ankommen würde - der Postkasten war für ihn ein Grab, das alle Briefe
auf Nimmerwiedersehen verschluckte, und immer wieder wunderte er sich, wenn
er nach einiger Zeit Antwort auf den verschwundenen Brief bekam." Diese Menschen
am Rand richten sich auf Wien aus. Nachdem Dor 1943 in Belgrad von der Gestapo
als Widerständler verhaftet und gefoltert wurde, bedeutet es für ihn einen großen
Zugewinn, in die österreichische Bundeshauptstadt verfrachtet zu werden, selbst
wenn er dort wieder in ein Arbeitslager gesteckt und nur durch den Einmarsch
der Russen vor dem Tod bewahrt wird.
Die Erfahrung eines Einzelnen, der nirgendwo hin gehört und trotzdem standfest
bleibt, prägt auch den ersten Roman "Tote auf Urlaub", zu großen Teilen ein
nicht fiktionaler Bericht über den Widerstand und die Folter im Österreich der
Nazizeit. Das Buch ist in einem Land, das sich gerade mit der Geschichte der
Familie Trapp in Hollywoodfilmen als erstes Opfer der Nazis exkulpiert, unwillkommen,
wird 1952 in Deutschland gedruckt, und erregt dort Aufsehen.
Heinrich Böll ist
einer der ersten Leser und macht das Buch in der Gruppe 47 bekannt. In Dors
neuer Wahlheimat Wien aber wird "Tote auf Urlaub" weitgehend ignoriert oder
in seltenen Fällen der Rezeption als Hirngespinst abgetan. In Österreich reüssieren
stattdessen die "Wiener Gruppe" um Gerhard Rühm, Konrad Bayer und Friedrich
Achleitner mit experimentellen Texten,
H. C. Artmann mit gruseligen
Mundartgedichten und Helmut Qualtinger mit seinem "Herrn Karl". Sie alle packen
ihre politische Kritik in deftigen Humor, und nehmen dabei in Kauf, dass man
die transportierten unangenehmen Wahrheiten ignoriert. Humor kommt bei einem
Publikum, das noch hungert und friert und selbst vielfach durch die Hölle gegangen
ist, einfach besser an als Dors distanzierte Präzision:
"Man hat mir vorgeworfen, dass Tote auf Urlaub zu kühl ist. Aber es war
die einzige Möglichkeit, das Buch zu schreiben - mit großer Distanz diese Grausamkeiten
zu schildern."
1962 verfasst Dor den Aufsatz "Eine Kriegserklärung", eine wortgewaltige Abrechnung
mit der ausgebliebenen Leserschaft: "So manches andere Volk wäre stolz darauf,
wenn es eine solche Fülle an verschiedenartigen Begabungen aufzuweisen hätte,
das österreichische Volk nimmt sie nicht einmal zur Kenntnis. Die heute vierzigjährigen
Autoren haben ihre Vergangenheit 'bewältigt', ihre potentiellen Leser aber laufen
mit der Brust voller unterentwickelter Platten herum und achten sehr darauf,
dass ja kein Fixiertropfen auf sie fällt und plötzlich Bilder zum Vorschein
bringt, die sie erschrecken und ihre eingebildete Rechtschaffenheit mit Schuld
und Angst beladen könnte."
Obwohl er in Wien lebt, empfindet er sich "am Rand". Sehr passend dazu auch
seine Wohnstätte im 2. Bezirk, einem Sammelsurium verschiedener Völker, die
sich wie "Strandgut" der nahen Donau in der Weltstadt orientieren. Er emigriert
nebst anderen Gesinnungsgenossen literarisch nach Deutschland, wo bei der Gruppe
47 Achtung und Aufmerksamkeit für die südlichen Nachbarn herrscht. Tonfall und
Diktion werden dort besser verstanden als die "Wiener Gruppe". Insgesamt setzt
sich aber auch in Deutschland neben Böll bald eine "Nachkriegsgeneration" durch,
die mit Günter Grass,
Ingeborg Bachmann
oder Uwe Johnson zwar Frontalopposition gegen den Nazismus fährt, das aber zunehmend
aus der Perspektive von "Nachgeborenen".
Milo Dor gehört in den Sechziger Jahren, in denen die Gruppe 47 zur bestimmenden
Literaturrichtung wird, schon zu einer älteren Generation. Er macht sich als
Übersetzer serbischer Literatur einen Namen und gewinnt in den Siebziger Jahren
als Autorenvertreter Profil. Er vervollkommnet seine literarische Mischtechnik
zwischen Dichtung und Wahrheit im "Roman" der Ermordung des österreichischen
Thronfolgers in Sarajewo "Der letzte Sonntag", der zugleich eine der besten
Dokumentationen zu dem Thema ist. Im öffentlichen Diskurs vertraut man zunehmend
Milo Dors Analyse. Wenn es um den Balkan oder um Mitteleuropa geht, ist dem
Feuilleton oder Fernsehredakteuren sein Beitrag willkommen. Erst in den Achtziger
und Neunziger Jahren werden auch Germanisten auf den Unbeirrbaren aufmerksam,
und erkennen den Rang seines Werks sowohl in literarischer als auch kulturhistorischer
Sicht. Dor wird staatspreiswürdig und nimmt die Rolle eines Nestors der österreichischen
Literatur und "Kulturbotschafters Serbiens" in Österreich, Letzteres auch mit
Würde und Humanität während des Serbienkonflikts der Neunziger Jahre, wahr.
Die "Rezeptionslücke" der Germanisten, die er noch 1998 beklagte, wurde nun
2003 anlässlich eines internationalen Symposions in Paris endgültig geschlossen.
Das Thema: Milo Dor als Mitteleuropäer zwischen Budapest, Belgrad und Wien.
Der Jubilar nahm daran selbst teil und würzte die Beiträge mit Kommentaren.
Nach einem einleitenden Essay der gebürtigen Grazerin Marion Hussong, die in
New Jersey lehrt, bot der Klagenfurter Germanist Klaus Amann einen Überblick
über die so lange vergessene Nachkriegsliteratur mit Namen wie
Michael
Guttenbrunner, Herbert Zand oder Franz Theodor Csokor, der auch bekannter
gewordene Autoren wie Paul Celan und Ilse Aichinger angehören. Milo Dors "Tote
auf Urlaub" nimmt in diesem Reigen eine zentrale Rolle ein als erstes Buch zu
dem Thema.
Das im Otto Müller Verlag erschienene Sammelbändchen birgt einige überaus reizvolle
Aufsätze. Ein Juwel ist der kurze Beitrag des Salzburger Schriftstellers
Karl-Markus
Gauß "Milo Dor: Am Rand, Mittendrin", ein Essay über das Thema Provinz-Weltstadt,
und inwieweit die Person Milo Dors diese Gegensätze in sich versöhnt. Sehr interessiert
hat mich Andrea Lauterweins Nacherzählung der Freundschaft zwischen Milo Dor
und Paul Celan, dem Autor der "Todesfuge",
den er als Verwandten empfand. Dem Schriftsteller Ivan
Ivanji, der gleich Dor in Wien lebt und serbische Wurzeln hat, gelingt ein
bezauberndes Porträt seines Freundes, indem er Dichtung und Wahrheit im seinem
Werk trennt und zum Schluss kommt, dass
Goethe zwar weitaus bedeutender als
Dor war, dafür aber ein ziemlich unsympathischer Zeitgenosse gewesen sein muss
- der langjährige Freund aber "im wahren Sinn des Wortes der liebenswürdigste
Autor und Mensch" sei.
Diese Aussage geht weit über das literarische Werk hinaus und bezieht sich natürlich
auch auf das sozialpolitische und kulturelle Engagement Milo Dors. Obwohl schon
von Seiten der Herkunft und der Prägung als Widerständler immer ein Außenseiter,
wurde Dor immer stärker zum Zentrum eines gesellschaftlichen Randbereichs: Den
literarisch Schaffenden. Der langjährige Einsatz für Schriftstellerkollegen
und ihre Rechte, die zähe Aufgabe, Literatur vom Balkan in Österreich zu verbreiten,
all das wurde in Paris dokumentiert und ausgeführt, wodurch die Bedeutung Dors
als Förderer der Literatur in Österreich erst offenbar wird. Dieser Einsatz
erklärt auch die Solidarität und Wärme, die dem Jubilar heute gerade in literarischen
Zirkeln entgegengebracht wird. Es ist nach schweren Anfängen aufgrund der ihm
eigenen Unbeirrtheit, Humanität und Konsequenz ein geglücktes Leben geworden,
und das Symposion dokumentiert die Einzelteile, die für so ein Gelingen notwendig
sind.
(Berndt Rieger; 10/2004)
Jacques Lajarrige (Hrsg.): "Milo Dor - Budapest -
Belgrad - Wien"
Otto Müller, 2004. 218 Seiten.
ISBN
3-7013-1091-2.
ca. EUR 18,-.
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Dr. Jacques Lajarrige wurde 1960 in Angers,
Frankreich, geboren. Er ist als Universitätsprofessor am Germanistischen Institut
der Universität Paris III - Sorbonne Nouvelle (Frankreich) und Übersetzer tätig.
Zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschsprachigen Lyrik und zur österreichischen
Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts.
Werke von Milo Dor (Auswahl):
"Der Mann, der fliegen konnte"
Eine bibliophil ausgestattete, märchenhafte Geschichte für Erwachsene und Kinder,
die sich in poetischer Weise mit der Zerstörungswut des Menschen und dem mutigen
Dagegenhalten einiger weniger auseinandersetzt, anspruchsvoll illustriert von
Rita Berger.
Robert, ein arbeitsloser Jungarzt, rettet einen im Innenhof seines Wohnhauses
liegenden, am Flügel angeschossenen kleinen Spatzen. Er entwickelt eine Freundschaft
zu dem Vogel und schon bald teilen die beiden ein Geheimnis: Der Spatz bringt
Robert das Fliegen bei. Gemeinsam mit dem nur teilweise genesenen, fluguntauglichen
Vogel macht er sich auf, die Welt zu erkunden. Robert fliegt nur nachts, um
seine Fähigkeit nicht zu verraten. Doch mit dem Perspektivenwechsel, dem neuen
Blickwinkel auf die Welt, sieht er sich immer eindrücklicher und unmittelbarer
mit der Zerstörung der Städte durch den Verkehr, der Verseuchung der Meere und
Gewässer konfrontiert, bis er am Ende seines Ausflugs im Angesicht von
Bürgerkrieg
und Zerstörung auf die Geheimhaltung seiner Flugkunst verzichtet, um ein Leben
zu retten.
Auch wenn Robert schließlich, selbst von einer Kugel in die Schulter getroffen,
seine Fähigkeit zu fliegen wieder verliert, endet die Erzählung doch mit dem
hoffnungsvollen Appell, bei der Veränderung des einzelnen Menschen anzusetzen
und so für die Rettung der Welt aktiv zu werden. (Picus)
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"Grenzüberschreitungen. Positionen
eines kämpferischen Humanisten"
Dreizehn Aufsätze Milo Dors - Reflexionen zur jüngsten Geschichte unseres Kontinents
und zur Rolle der Schriftsteller, Begegnungen mit Zeitgenossen und Anekdoten
- zeigen den Autor in dem für ihn typischen temperamentvollen Engagement und
als großen Humanisten und Europäer. Milo Dors in diesem Band versammelte Schriften
fügen sich zu einer repräsentativen Auswahl, die seine wichtigsten Haltungen
und Reflexionen zur europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts wie zur gegenwärtigen
politischen Lage dokumentiert.
Dors zutiefst humanistische Intention, den Zustand der Welt nicht so hinzunehmen,
wie er ist, sondern ihm schreibend kämpferisch zu begegnen und so seine kritische
Stimme gegen Missstände zu erheben, wird in jedem dieser Texte deutlich. Aber
er lässt auch viel Persönliches und Anekdotisches einfließen: Erinnerungen an
Weggefährten und Freunde, Nachdenkliches über das eigene Schreiben sowie über
die Position des Schriftstellers gegenüber der Gesellschaft im Allgemeinen.
Seine Lebensgeschichte macht ihn zu einem aufgeklärten Europäer, der durch seine
Erfahrungen und seine offene Haltung prädestiniert dafür ist, eine Brücke zwischen
West- und Osteuropa zu schaffen. Und so finden sich auch mehrere Texte in diesem
Band, die zu einer zukunftsweisenden Annäherung an unsere südosteuropäischen
Nachbarn beitragen, indem sie die Perspektive auf die gemeinsame Geschichte
in einem gesamteuropäischen Kontext rücken. (Picus)
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