Frank McCourt: "Die Asche meiner Mutter"

Irische Erinnerungen
(Hörbuchrezension)


In den Gassen von Limerick

In den Gassen spielen verwahrloste, zerlumpte, abgemagerte Kinder zwischen Pfützen, Abfall und Kloake. In den Hauseingängen stehen die Mütter und unterhalten sich darüber, welche karikative oder kirchliche Einrichtung heute wohl am besten aufgesucht werden soll. Die meisten Frauen sind das, was man heute als "Alleinerziehende" bezeichnet. Die Männer sind abgehauen oder kommen nur nach Hause, um ihren Rausch auszuschlafen oder Mutter und Kinder zu prügeln und um die letzten Ersparnisse zu betrügen.

Arbeit gibt es kaum und wenn, ist sie hart und unterbezahlt. Die Kinder, vor allen Dingen die Jungen, müssen schon früh mit anpacken und für ein paar Pence Tagelöhnerdienste leisten. Die Kirche übt großen Einfluss auf die ungebildeten Armen aus, und wer sich ihrem Willen widersetzt, bekommt ihre ganze Macht und Grausamkeit zu spüren.

Dies ist keine Beschreibung des Londons von Charles Dickens aus dem Jahre 1850, sondern traurige Realität einer Kindheit in den Armenvierteln in Irland nach dem Ersten Weltkrieg. Lesen und Schreiben gehört nicht zu den Dingen, die ein Junge können muss. Schulbesuche sind allenfalls geduldet und werden unterbunden, sobald der Nachwuchs kräftig genug ist, mitzuarbeiten und ein Glas Bier zu halten.

Frank McCourt erzählt in seinem preisgekrönten Roman "Die Asche meiner Mutter" über seine Kindheit in den irischen Slums in der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Dabei geht er keineswegs schonungsvoll mit den auftretenden Personen um und verschweigt auch keine seiner eigenen kleineren und größeren Sünden. Besonderes Augenmerk legt er jedoch in seinem Roman auf die Schilderung der Schwierigkeiten, die seiner Mutter das Leben vergällen. Trotz aller Widrigkeiten schafft sie es immer wieder irgendwie, die Familie zusammen zu halten und durchzubringen. Seine Kraft, gegen das Schicksal anzukämpfen, bezieht er aus seinem christlichen Glauben und seinem fast übermenschlichen Überlebenswillen. Nicht ohne Ironie erzählt er von den Versuchungen, denen er fast erlegen wäre und nur durch die Kraft des Glaubens schadlos überstanden hat. Der Erzählstil ist naturgemäß schlicht, da das Buch aus der Sicht eines Jungen, später Jugendlichen, erzählt wird. Dabei bleibt der Roman jedoch packend auf Grund der Detail- und Erzählfreude des Autors. Die Ambivalenz, mit der er Menschen gegenübertritt, vermittelt er auch den Hörern. Aber da der Autor selbst eine Entwicklung vom Kind zum Jugendlichen durchmacht, sieht er später manche Personen und Ereignisse anders, als bisher geschildert. Dann scheut er sich nicht, dies auch dem Hörer mitzuteilen. Durch diese sich ständig ändernden Blickwinkel zieht er den Hörer tief in das Geschehen mit ein und überlässt letztendlich dem Hörer die Entscheidung, mit welchen Personen und Handlungsweisen er sympathisiert oder welche er ablehnt.

Die perfekte Wahl für ein preisgekröntes Werk
Im Verlag Steinbach Sprechende Bücher ist die ungekürzte Lesung dieses Romans einer irischen Kindheit erschienen. Wäre allein dies schon Grund genug für jeden Hörer anspruchsvollerer Literatur, in Jubel auszubrechen, übertrifft Christian Brückner als Sprecher alle Erwartungen, die man im Vorfeld an die beste aller möglichen Interpretationen stellen konnte. Egal ob Beobachter, Ich-Erzähler, zeternde Kinder, besoffene Väter, bigotte Kleriker oder neidische Nachbarinnen, stets trifft er den perfekten Ton. Nicht umsonst zählt er seit Langem zur absoluten Spitze der Sprecherriege in Deutschland, und es gibt wenige Kollegen, die eine solche Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung haben wie Christian Brückner. Auch diesmal schafft er es auf bewunderungswürdige Weise, die Atmosphäre des Romans einzufangen ohne die Ironie zu überzeichnen oder das Elend und die Verzweiflung zu verharmlosen. Den Charakteren verleiht er die notwendige Lebendigkeit und bleibt trotz des ernsten Hintergrundes dem optimistischen und lebensbejahenden Stil des Buches verbunden.

Fazit:
Ein Meisterwerk meisterlich vorgetragen von Christian Brückner. Die vollständige Lesung gehört in jede Sammlung des Liebhabers anspruchsvoller Literatur.

(Wolfgang Haan; 01/2006)


Frank McCourt: "Die Asche meiner Mutter. Irische Erinnerungen"
Übersetzt von Harry Rowohlt. 
Ungekürzte Lesung. Sprecher: Christian Brückner.
steinbach sprechende bücher, 2005. 14 CDs, Spieldauer ca. 1050 Minuten.
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Frank McCourt starb am 19. Juli 2009 im Alter von 78 Jahren.

Ein weiteres Buch des Autors:

"Ein rundherum tolles Land. Erinnerungen"

Die Fortsetzung von Frank McCourts Lebenserinnerungen. Sie beginnt dort, wo der erste Teil endet, auf einem irischen Schiff vor der Silhouette New York, und der Funkoffizier fragt den neunzehnjährigen Frank: Ist das hier nicht ein rundherum tolles Land?
Frank McCourts Freunde kennen das Geheimnis seines Erfolgs, hören sie ihm doch ganze Nächte lang zu und können nicht genug kriegen. Er ist ein wahrer irischer Geschichtenerzähler, ein "seanachie", für den eine Geschichte erst dann gut erzählt ist, wenn die Leute nicht wissen, ob sie lachen oder weinen sollen.
Als er mit neunzehn Jahren von Irland nach Amerika geht, hat er nichts außer der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Arm, mit schlechten Zähnen und entzündeten Augen, ohne jede nennenswerte Ausbildung, erreicht er das Land
seiner Träume - und muss feststellen, dass er mit seinem Aussehen und seinem Akzent ein Nichts ist. Mit Hilfe eines gar nicht frommen katholischen Priesters, der demokratischen Partei und der US Army gelingt es ihm jedoch, sich im Land der Schönen und Reichen zu behaupten, auch wenn die Stationen seines Werdegangs recht ungewöhnlich sind: Hoteldiener, Hafenarbeiter, Soldat, nicht im Korea-Krieg, sondern in Bad Tölz, einer Kleinstadt in Bayern, wo er vom Hundeabrichter zum Materialverwalter (Zuteilung von Decken, Kissen, Kondomen) aufsteigt ... Trotz aller Widrigkeiten wird er High-School-Lehrer - dank der GI-Bill, seiner Liebe zur Literatur und seines unverwüstlichen Humors -, gründet eine Familie und holt seine Mutter und seine Brüder aus Limerick nach. Ende gut, alles gut? Seine Frau ist eine Protestantin, abends zieht er durch die irischen Kneipen der Stadt und erzählt Anekdoten aus seinem Leben, und auch nach Limerick kommt er noch einmal: um dort die Asche seiner Mutter auf die Gräber der Familie zu streuen ...
Frank McCourts zweiter Erinnerungsband über die Jahre in Amerika steckt voll der unglaublichsten Geschichten über Priester und Jungfrauen, über irische Kneipen, bayerische Bierkeller und die merkwürdigen Sitten der Amerikaner im allgemeinen, geschildert mit Frank McCourts unnachahmlicher Mischung aus Traurigkeit und Witz.
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