Colum McCann: "Hungerstreik"
Gelesen
von Ulrich Matthes
(Hörbuchrezension)
Der pubertierende Junge und das Meer
Aus den Augen aus dem Sinn?
Sobald Konflikte jedweder Art keine Schlagzeilen mehr machen,
verschwinden sie aus dem öffentlichen Bewusstsein wie im
Privaten die Erinnerungen an abwesende Freunde. Der in den USA lebende
irische Schriftsteller Colum McCann erinnert mit seiner
Erzählung "Hungerstreik" an den in Nordirland tobenden
Bürgerkrieg zu einer seiner unrühmlichen
"Blütezeiten" in den 1980er Jahren. Hierbei geht es ihm nicht
darum, Stellung zu beziehen, die politische Lage zu analysieren oder
Schuldzuweisungen auszusprechen. Vielmehr liefert er ein psychologisch
stimmiges, atmosphärisch dichtes und literarisch exaltiertes
Stimmungsbild der irischen Gesellschaft.
Den realen Hintergrund der fiktiven Kurzgeschichte bildet eine bis
dahin beispiellose gewaltlose Protestaktion mutmaßlicher
inhaftierter IRA-Mitglieder, welche zwischen März und Oktober
1981 in einen Hungerstreik traten, in dessen Verlauf elf Menschen an
Auszehrung und Entkräftung starben, ohne dass eine der
gestellten Forderungen erfüllt wurde.
Im Mittelpunkt steht der zwölfjährige Halbwaise
Kevin, der seit kurzem mit seiner Mutter in einem abgelegen postierten
Wohnwagen an der irischen Küste lebt. Kevin gefällt
der neue Wohnort überhaupt nicht. Viel lieber wäre er
in Londonderry geblieben. Doch nachdem sich dort immer mehr Kinder und
Jugendliche Straßenschlachten mit englischen Soldaten
lieferten, floh seine Mutter in die vermeintlich ungefährliche
ländliche Gegend. Dort erreicht sie die Nachricht, dass auch
Kevins Onkel an dem Hungerstreik teilnimmt. In kurzen, knappen Worten
skizziert der Autor die Welle der Gefühle, die Kevin zu
übermannen droht. Dabei schwingt neben dem
allgegenwärtigen Gefühl der Ohnmacht und Verzweiflung
auch eine gehörige Portion Kampfgeist und Trotz mit. Sofort
von der eigenen Stärke begeistert, stürzt sich auch
Kevin in einen Hungerstreik. Doch schon am zweiten Tag wird er weich,
schleicht sich in einen Imbiss und verlässt diesen weinend und
"mit nach Essig stinkenden Fingern". Dies ist im Hörbuch eine
der ersten Stellen, an welcher Ulrich Matthes sein ganzes
Können unter Beweis stellt, denn sein Vortrag vermittelt die
Vielzahl der hinter dem Gefühl der Scham des Versagens
versteckten Emotionen und gibt einen großartigen Blick auf
den Sinneswandel eines mitten in der Pubertät steckenden
Jugendlichen frei.
Der junge Bursche und das Meer
Der Zeitraum von etwas mehr als sechzig Tagen, innerhalb dessen die
Kurzgeschichte handelt, spielt sich auf verschiedenen Ebenen ab, die
kunstvoll und fließend miteinander verbunden sind. Zum Einen
ist da die Außenwelt, in der über die Arbeit der
Mutter oder Nachrichten aus Presse und Rundfunk berichtet wird und die
relativ wenig Platz einnimmt. Größere Aufmerksamkeit
widmet der Autor dem Meer, dem Schachspiel und der
aufwühlenden und aufgewühlten Gedankenwelt Kevins.
Neben pubertären erotischen Fantasien eines Jungen spielen Rachegedanken
und die Identitätssuche eine große Rolle. Er will
(noch) nicht der Mann der Familie sein und sucht bei Gedankenspielen
Zuflucht, versucht, Erinnerungen an seinen verunglückten Vater
heraufzubeschwören und, als dies nicht gelingt, seinen ihm
fremden Onkel an seine Stelle zu setzen. Doch ist der Versuch von
vornherein zum Scheitern verurteilt, und Kevin findet erst etwas Halt
beim einem alten Litauer, der ihn in seinem Kajak mit hinaus aufs Meer
nimmt. Dort verbringen sie gemeinsam Stunden beim Rudern, ohne
unnötige Dialoge. Gerade aus diesen Momenten zieht Kevin
sowohl körperliche als auch psychische Kraft. Durch den
überwiegend wortlosen Dialog zwischen Mann, Kind und Meer
entwickelt Kevin eine Möglichkeit, durch Beobachtung und teils
kontemplatives Nachdenken Selbstbewusstsein und Erkenntnisse zu
erlangen .
Beim Schachspiel, das ihm seine Mutter beibringt, identifiziert er sich
mit dem Springer, ja fühlt sich diesem verbunden und zieht
Parallelen zu seiner und der Situation seines Onkels.
Scheiß
auf die Queen
Ulrich Matthes spuckt einem förmlich Kevins Fluch um die
Ohren: "Scheiß auf die Queen!" brüllt er gemeinsam
mit ihm voller Verzweiflung, Hass und mit dem Wissen, dass nichts, auch
nicht der gröbste Fluch, seinen Onkel retten kann. In manchen
Situationen brennen dem Hörer die Ohren von den verbalen
Tränen, welche die Aussichtslosigkeit der Lage
überdeutlich werden lassen, die Ulrich Matthes
vergießt.
Besonders erschütternd sind jene Momente, in denen Kevin
versucht, seinem Onkel nachzueifern und an den eigenen
Bedürfnissen scheitert, und die Ulrich Matthes genauso perfekt
vermittelt wie die erwachenden körperlichen
Bedürfnisse des Pubertierenden oder die Eifersucht, die er
beim Anblick seiner kess angezogenen Mutter auf dem Weg zur
nächtlichen Arbeit im örtlichen Pub empfindet .
Punktgenau trifft er die Stimmung, welche den einzelnen Handlungsebenen
innewohnt, und so frotzelt er genüsslich, wenn Kevins Mutter
diesen wegen Übertretungen der "Hausordnung"
maßregelt, rollt gemütlich das R beim gutturalen
Akzent des Litauers und bricht in ein kehliges Lachen aus, wenn dieser
Kevin wieder einmal freundschaftlich auf den Arm nimmt oder flucht wie
ein pubertierender Kesselflicker, wenn Kevin seiner Verzweiflung und
Wut Luft machen muss. Sachlich die Passagen, in denen Kevin Schach
spielt, nachdenklich beim Rudern, selbstverliebt und seine Ausstrahlung
und körperlichen Kräfte völlig
überschätzend bei der Eigenwahrnehmung Kevins,
wandelt sich die Stimmlage des Sprechers virtuos. und wieder einmal ist
es Ulrich Matthes zu verdanken, der es mit seinen
außergewöhnlichen stimmlichen Fähigkeiten
scheinbar mühelos versteht, dem Hörer die der
exzellenten literarischen Vorlage innewohnende Vielschichtigkeit nahe
zu bringen und den Hörer tief in die Welt von Colum
McCanns Irland eintauchen lässt.
(Wolfgang Haan; 04/2006)
Colum
McCann: "Hungerstreik"
Übersetzt von Dirk van Gunsteren.
marebuchverlag, 2006. 3 CDs, Laufzeit ca. 175 Minuten.
Hörbuch
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Buchausgabe:
marebuchverlag, 2004. 120 Seiten.
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Colum
McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist,
Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa
und Amerika. Für seine Bücher wurde er mit
zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Der
Tänzer"
Dieses Buch nähert sich einem berühmten Mann: dem
Tänzer Rudolph Nurejew, Lichtgestalt des modernen Balletts,
kaum sichtbar in all seinem Glanz. Die Lebensdaten sind bekannt, doch
McCann interessieren sie nur am Rande. Er lässt den Menschen
vor dem Hintergrund seiner Zeit erstehen: diesseits und jenseits des
Eisernen Vorhangs.
Kalter Krieg und Erstarrung auf der einen,
rauschendes Kultur- und Partyleben auf der anderen Seite. Wie in einem
lyrisch choreografierten Tanz nähert McCann sich Nurejew,
entfernt sich wieder, um ihn erneut zu finden, zu berühren:
bei heimlichen Momenten der Vertrautheit; bei der Rückkehr zu
seinen Eltern nach jahrelangem Exil, im Größenwahn,
in der Einsamkeit. McCann verweilt bei den privaten, den sprechenden
Szenen und spart das Gleißen des Ruhms nicht aus. Es ist die
Verwandlung einer Legende in eine greifbare Person durch die Mittel des
Romans: poetisch, kraftvoll in Ausdruck und Bewegung, glanzvoll
schillernd. Ein literarisches Meisterwerk. (Rowohlt)
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"Der Himmel unter
der Stadt"
New York 1916: Beim Bau eines U-Bahntunnels entweicht eine Luftblase
und reißt in ihrem Sog vier Arbeiter mit. Con O'Leary bleibt
tot auf dem Grund zurück. Achtzig Jahre später: Das
U-Bahnsystem unter New York ist zu einem gigantischen Tunnellabyrinth
angewachsen, voll verlassener Gewölbe, stillgelegter Gleise
und vergessener Waggons letzte Zuflucht für Tausende
von Obdachlosen. Einer von ihnen, Treefrog, kann sich noch gut an die
Welt dort oben über der Finsternis erinnern, an die Zeit, da
er als Stahlbauer die Hochhäuser Manhattans in den Himmel zog.
Seine Geschichte reicht bis zu dem toten Con O'Leary zurück.
Colum McCann führt den Leser in eine unbekannte Welt voll
brutaler Magie, eine Stadt unter der Stadt, in der jene Menschen
hausen, die das Schicksal in den Bauch des Molochs gespült
hat. Und er erzählt vom Leben jener Arbeiter, den Iren,
Italienern, Farbigen und Indianern, die zu Beginn des Jahrhunderts den
Bau Manhattans vorantrieben und doch nie von seinem Wachstum
profitierten. (Rowohlt)
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"Transatlantik"
Dublin, 1845: Der us-amerikanische Abolitionist Frederick Douglass reist durch das von Hungersnot gepeinigte Irland, wo die Leute schlimmer leiden als unter der Sklaverei.
Neufundland, 1919: Die beiden Flieger Jack Alcock und Arthur Brown unternehmen
den ersten Nonstopflug über den Atlantik mit Kurs Irland.
New York, 1998: US-Senator George Mitchell verlässt seine junge Frau und sein erst wenige Tage altes Kind, um in Belfast die nordirischen Friedensgespräche zu einem unsicheren Abschluss zu führen.
"Transatlantik" verwebt drei ikonische historische Momente mit dem Schicksal dreier Frauen: Angefangen bei der irischen Hausmagd Lily Duggan, in der Frederick Douglass die Liebe zur Freiheit weckt, folgt der Roman ihrer Tochter Emily und ihrer Enkelin Lottie in die USA und, später, zurück auf die Insel. Ihr Leben spiegelt den Verlauf der bewegten Nationalgeschichte Irlands und Amerikas.
D
abei spielt ein vergessener, über drei Generationen nicht geöffneter Brief eine entscheidende Rolle.
"Transatlantik" ist ein kraftvolles Epos über die Kollision von Geschichte und persönlichem Schicksal - geschrieben mit unvergleichlicher dichterischer Intensität, mit leuchtenden Szenen und klingender Sprache. (Rowohlt)
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"Gesang der
Kojoten"
Nach einer fünfjährigen
Weltreise,
auf der Suche nach seiner verschwundenen Mutter, kehrt Conor Lyons nach
Irland zu seinem alten Vater zurück, der in einem
trüben Fluss nach den letzten Fischen angelt. Mithilfe
vergilbter Fotos und rätselhafter Erinnerungen will Conor die
Wahrheit über seine Eltern und sich erfahren. Ein
melancholisches Epos über Vergänglichkeit, Liebe und
Verlust. (Rowohlt)
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