Claudia Mayer-Iswandy: "Günter Grass"


Günter Grass
geb. 16. Oktober *** in der Städtischen Frauenklinik zu Danzig.
Schreiber von Gedichten, Theaterstücken und einem Roman.
Verheiratet, Vater von Zwillingen, kocht gerne und lebt noch.
*** 1927
(Günter Grass seinerzeit über Günter Grass)

Von einem wachsamen Spurensucher, sensiblen Sprachbildhauer und professionellen Erinnerer

Günter Grass wurde am 16.10.1927 in Danzig (Gdansk; Polen) geboren. Nach Entlassung aus us-amerikanischer Kriegsgefangenschaft ließ er sich zum Steinmetz ausbilden und studierte in Düsseldorf und Berlin Grafik und Bildhauerei. Im Jahre 1956 publizierte er seinen ersten Gedichtband mit Zeichnungen. 1959 erschien sein erster Roman "Die Blechtrommel". 1999 wurde Grass mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.
Günter Grass gehört als Schriftsteller und Künstler, als engagierter Bürger und Zeitgenosse zu den großen Persönlichkeiten in der Geschichte der Bundesrepublik. Mit seinem Werk hat er die deutsche Literatur wesentlich geprägt und wie nur wenige deutsche Schriftsteller der Gegenwart internationalen Rang gewonnen.

So weit - so gut. So wenig?
Wer mehr über Günter Grass erfahren möchte, ist mit diesem Band aus der Reihe "dtv portrait", der optisch ein wenig an ein Schulbuch erinnert, bestens bedient.

Wer ist Günter Grass? Aus welchem familiären und gesellschaftlichen Umfeld stammt er? Wie arbeitet er? Wie erklärt sich sein gesellschaftspolitisches Engagement? Weit mehr als die Antworten auf diese Fragen findet sich in "Günter Grass".

Günter Grass kam im Freistaat Danzig zu Welt. Seine Mutter Helene war eine kunstsinnige Frau und erkannte früh das Talent ihres Sohnes, das sie gerne förderte. Ab 1933 besuchte Günter Grass die Volksschule, danach ein Gymnasium, wobei Lernerfolge in den Fächern Deutsch, Kunst und Geschichte aus heutiger Sicht einen Mantel des Schweigens über die Defizite in anderen Fächern breiten, und erlebte, wie alle seine Altersgenossen, die nationalsozialistische Indoktrination. Bereits der kleine Günter Grass war ein begeisterter Leser, der sich gerne in beinahe jede Art von Lektüre versenkte.

Ab 1943 musste er Reichsarbeitsdienst leisten. Anfang 1944, nach der Entlassung aus dem Arbeitsdienst, wurde er zur Wehrmacht  einberufen. Grass war noch keine siebzehn Jahre alt. Am 20.4.1945, an der Ostfront, wurde er verwundet und geriet direkt vom Lazarett in us-amerikanische Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung aus derselben musste er sich neu definieren und orientieren. Doch im Unterschied zu vielen Anderen seiner Generation legte Grass jedes Bedürfnis ab, Zuflucht zu einer Ideologie zu nehmen und machte sich eine grundlegend skeptische Haltung gegenüber ideologischen Beeinflussungen zu eigen; wählte den Weg der Bescheidenheit und ein gesundes Selbstbewusstsein. Er erteilte von nun an jeglicher Ideologie eine Absage und erkor den Zweifel zum Prinzip. Früh erkannte der Betroffene sowohl Wegsehen als Grundübel der Nachkriegsgesellschaft als auch die Anfälligkeit der Intellektuellen gegenüber geschlossenen Ideologien.
Bemerkenswert war damals bereits die charakteristische Zielstrebigkeit, mit der er an seiner Künstlerkarriere arbeitete. So modellierte er, zeichnete, schrieb Gedichte, Theaterstücke und Ballettlibretti.

1954 heiratete er Anna Schwarz. Sie und Grass' Schwester schickten eine Auswahl seiner Gedichte zu einem Wettbewerb des "Süddeutschen Rundfunks", was Grass den dritten Preis einbrachte. Vom Preisgeld - (350 DM; das sind rund 175 Euro) - kaufte sich Grass einen Wintermantel. Ein Jurymitglied gehörte der "Gruppe 47" an - der erste Kontakt zu jener damals bedeutenden Schriftstellervereinigung war also hergestellt!
Ende 1955 fand die erste Ausstellung von Zeichnungen und Plastiken Grass' statt; 1956 war die erste Buchveröffentlichung,  "Die Vorzüge der Windhühner" mit Gedichten und Zeichnungen, zu verzeichnen. Im selben Jahr übersiedelte das Ehepaar Grass nach Paris, wo der Künstler in einem feuchten Heizungsraum kreativ werkte und eine "schwierige Freundschaft" mit Paul Celan begründete.
Im Herbst 1959 erschien der fast 700 Seiten starke Roman "Die Blechtrommel" - ein moderner Schelmenroman, das weltweit bekannteste deutschsprachige Buch der Nachkriegszeit. Die Reaktionen reichten von Begeisterung bis Empörung. ("Junge dreijährig, stellt Wachstum ein" - die kurze und bündige Inhaltsangabe des Autors ...)
Als Grass im Jahr 1978 der erste Drehbuchentwurf vorgelegt wurde, befand er diesen "protestantisch und kartesianisch" und verlangte mehr "harten Realismus einerseits, mehr Mut zum Irrealen andererseits ..." Das Drehbuch wurde folglich umgeschrieben und "Die Blechtrommel" 1979 von Volker Schlöndorff verfilmt. 1980 wurde der Film mit einem "Oscar" ausgezeichnet.

Ab 1960 engagierte sich Grass politisch, beispielsweise demonstrierte er gegen die Atombombe. Als er Willy Brandt kennen lernte, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft und intensive Zusammenarbeit verband, erfuhr dieses Engagement eine Erhöhung. Seine politische Verantwortung leitet Grass in erster Linie aus den Erfahrungen seiner Generation unter dem Nationalsozialismus ab, was später oftmals unter "Betroffenheitskultur" eingeordnet wurde. 
Als 1961 die Berliner Mauer errichtet wurde, sparte er nicht mit Kritik und Protestaktionen. 1965 betätigte er sich als aktiver Wahlkämpfer für die SPD und politischer Autor. 1982 trat Grass in die SPD ein und änderte die Form seines politischen Engagements. Er wurde in der Friedensbewegung aktiv, trat für soziale Anliegen und gegen Aufrüstung ein.

Sobald es ihm seine finanzielle Situation ermöglichte, baute er ein Netz von Preisen und Stiftungen zur Nachwuchsförderung auf.

Das Jahr 1972 brachte für Grass schwerwiegende Veränderungen seiner privaten Umgebung: Nachdem ein neuer Anlauf in der Beziehung gescheitert war, trennten sich Günter und Anna Grass endgültig. Geschieden wurden sie erst 1978. Grass' neue Lebensgefährtin (bis 1976) war Veronika Schröter. Er begann, am "Butt" zu arbeiten. Dieser Roman, (nach vierjähriger Schreibzeit 1977 erschienen), wurde das Dokument einer gescheiterten Beziehung, das u.a. die historische und zeitgenössische Beziehung der Geschlechter beleuchtet und sein Konzept der "Vergegenkunft" entwickelt, wobei es ihm zunächst um die Entdeckung ging, wie sehr "wir im Korsett der Chronologie gefangen sind, wie gut es ist, sie notfalls aufzuheben und dabei nicht bloß mit der Rückblende zu operieren, sondern die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart und das Vorlappen der Zukunft in die Gegenwart hinein deutlich zu machen."

Innerhalb weniger Monate wurden fast 300.000 Exemplare von "Der Butt" verkauft. Nach dem Erfolg des "Butt" stiftete Grass 1978, im Jahr des 100. Geburtstages von Alfred Döblin, den gleichnamigen Preis, für den er einen Teil des Erlöses zur Verfügung stellte.
1975 reiste Grass erstmals nach Indien; die spezifischen Probleme der "Dritte-Welt-Länder" prägten sein weiteres Schaffen, (Stichworte: In-Frage-Stellen der Unabänderlichkeit des Elends, Klassen- und Kastenherrschaft, Misswirtschaft und Korruption). Er schloss Freundschaften mit indischen Intellektuellen und Literaten. Als unerwünschte Nebenwirkung seiner zahlreichen (Lese-)Reisen in politisch instabile Regionen (u.a. Hongkong, Nicaragua, Indonesien, Nairobi) und gesellschaftspolitischen Aktivitäten wurde dem "Revolutionstouristen" und "Missvergnügungsreisenden" zuviel "Goodwill" vorgehalten.
1976 lernte Grass Ute Grunert kennen, 1979 heirateten die beiden.

1986 erschien der Roman "Die Rättin", an dem Grass, zu dessen Arbeitsweise überaus penibles Recherchieren gehört, seit 1983 gearbeitet hatte. Das Werk, nicht nur von indischen Kritikern verrissen ("einseitige und besserwisserische Einmischung in indische Belange"), wurde neuerlich ein Verkaufserfolg. Das Aufsehen war von Grass bereits während des Schreibens mit einkalkuliert worden. Er hatte absichtlich die "Hölle Calcutta" überzeichnet und den spirituellen Reichtum wie auch die kulturelle Vielfalt bewusst ausgeklammert. Wie auch immer, Ute und Günter Grass lebten ab August 1986 ein halbes Jahr in Calcutta. Nicht zu vergessen Grass' Engagement gegen den Hunger in der Welt, die "Geißel der Menschheit" - eingedenk der Aussage von Willy Brandt aus dem Jahr 1973: "Auch Hunger ist Krieg"!

Als im November 1989 die Berliner Mauer fiel und die Wiedervereinigung Deutschlands in greifbare Nähe rückte, durchpulste neue Energie den mittlerweile ein wenig schreibmüde gewordenen Günter Grass, und abermals trat er als Mahner, (diesmal vor einem zu raschen Tempo, vor dem drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR und einem erstarkenden Nationalismus), in Aktion. Er erläuterte, dass die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland vom Einheitsstaat gekommen sind - und eben den wollte er verhindern. Er trat 1990 als Fürsprecher Christa Wolfs auf, als diese sich medialen Vorwürfen und Anfeindungen ("Staatsdichterin") ausgesetzt sah.

In der Erzählung "Unkenrufe", (1992 erschienen), formulierte Grass erstmals einen utopischen Zukunftsentwurf, und neben den altbewährten Erfolgszutaten wie dem Abbilden von Missständen wartet er mit einem heiter-ironischen, versöhnlichen Tonfall auf. Grass wendete sich verstärkt gegen Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit.
1995 erschien "Ein weites Feld" - abermals schieden sich die Geister. Während Marcel Reich-Ranicki handgreiflich wurde, das Buch tatsächlich "SPIEGEL"-titelblatttauglich zerriss, stellte sich "Ein weites Feld" als echter Erfolgstitel heraus: Innerhalb von zwei Monaten gingen fast 200.000 Exemplare über die Ladentische. Und wieder einmal tauchte der wenig unterhaltsame Vorwurf auf, Grass' Werke seien mehr Medienereignisse als literarische Ereignisse.
1997 gründete Grass die "Stiftung zugunsten des Romavolkes", deren Zweck es ist, "das Verständnis für die Eigenarten des Romavolkes zu fördern und über seine kulturelle und soziale Lage in Geschichte und Gegenwart aufzuklären."

Ab 1997 arbeitete Grass an "Mein Jahrhundert" (erschienen im Jahr 2000), worin jedem Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts aus wechselnden Perspektiven eine Episode, ein Monolog oder ein Gespräch sowie ein Aquarell gewidmet ist.
1999 erhielt Günter Grass den Literatur-Nobelpreis.
Zu den Anschlägen auf das "World Trade Center" am 11.9.2001 nahm Grass in einer Rede Stellung und setzte die Ereignisse in Bezug zu einer verfehlten Weltwirtschaftspolitik, die immer noch nicht den notwendigen Nord-Süd-Ausgleich herbeigeführt habe. Weiters kritisierte er, dass die Opfer von Anschlägen und Kriegen unterschiedlich gewertet würden und Tote in der Dritten Welt nicht den gleichen Stellenwert hätten wie Opfer von Anschlägen in der westlichen Welt.

Claudia Mayer-Iswandy ist Literaturwissenschaftlerin und Mitherausgeberin der Werkausgabe von Günter Grass. Sie hat ein kompaktes, übersichtliches Buch zusammengestellt, das es uns ermöglicht, Günter Grass' Dasein, Werken und Wirken anhand von neun chronologisch geordneten Kapiteln ("Die Kaschuben trefft es immer am Kopp" 1927-1945, Das Ende des Spuks 1945-1953, Berlin und Paris 1953-1958, Die "Danziger Trilogie" 1959-1963, Das politische Engagement 1963-1972, Rückkehr an den Schreibtisch 1973-1980, "Bin ich nun Zeichner oder Schreiber" 1980-1990, Die Frage der Verantwortung 1990-1997, Entdeckung der Farbe 1997-2002) zu verfolgen.
Die Entstehung vieler seiner Romanfiguren wird aus seinem zeichnerischen und bildhauerischen Schaffen erklärt, zahlreiche Textauszüge, Abbildungen, Anmerkungen zu Grass' Arbeitsweise und Kurzrezensionen seiner Bücher sowie eine Zeittafel, eine Auflistung der Preise und Auszeichnungen, die Grass für sein Werk erhielt, eine Bibliografie und ein Personenregister vervollständigen den Band.

(S. Gabriel; 09/2002)


Claudia Mayer-Iswandy: "Günter Grass"
dtv, 2002. 248 Seiten.
Durchgehend vierfarbig, mit zahlreichen Abbildungen,
Zeittafel, Auswahlbibliografie und Register.
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Günter Grass starb am 13. April 2015 in Lübeck.

Weitere Buchtipps:

Michael Jürgs: "Bürger Grass. Biografie eines deutschen Dichters"

"Ich gebe kein Bild ab. Sinnlos, mich auf einen Nenner bringen zu wollen."
So hat Günter Grass einst über sich geschrieben. Und in der Tat sind Werk und Leben des Sprachbildhauers Grass provozierend vielfältig und facettenreich. Er kann schreiben - Romane, Novellen, Gedichte, Theaterstücke, Reden -, er kann zeichnen, malen, formen. Seine Werke, vom legendären Erstling "Die Blechtrommel" über "Katz und Maus" und dem "Butt" bis zur "Rättin" und dem "Weiten Feld" sind weltweit bekannt, millionenfach verkauft. Neunzig Prozent aller Deutschen kennen den Namen Günter Grass. Die Einen schelten ihn den Oberlehrer, die Anderen halten ihn für das Gewissen der Nation. Denn Grass hat immer wieder den Elfenbeinturm verlassen und sich eingemischt: getrommelt für Brandt, geredet gegen das Vergessen, besungen die Demokratie. Seine Feinde sind genauso hochkarätig wie seine Freunde.
Michael Jürgs Biografie basiert auf vielen intensiven Gesprächen mit Grass, auf genauer Spurensuche und auf mehr als fünfzig Interviews mit Menschen, die in seinem Leben eine Rolle spielten, ihn auf seinem Weg begleiteten. Entstanden ist keine akademische Interpretation des Grass'schen Werkes; Jürgs verbindet viele Geschichten zur Geschichte des wortmächtigen Dichters, des sechsfachen Vaters und fünfzehnfachen Großvaters, des sinnenfrohen Mannes, der viele Frauen liebte, des bekennenden Kleinbürgers, des Patriarchen aus Kaschubien. (C. Bertelsmann)
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